Eine Weihnachtslesung
Der hoffnungsvolle Autor bekam die Mitteilung per Email von der Initiatorin des Literaturkreises: Das Restaurant Seeblick in sucht jemanden, der eine Lesung zur Vorweihnachtszeit abhält.
Ob die Bücher eines Schriftstellers verlegt werden, hängt nicht nur von der Qualität seiner Werke ab, sondern auch von seinem Bekanntheitsgrad. Wenn man also nicht gerade Dieter Bohlen heißt, bieten Lesungen eine gute Möglichkeit, seine eigene Popularität zu vergrößern. Der Schriftsteller nimmt deshalb auch diese Herausforderung an.
Aber zuerst muss der passende Text gefunden werden. Es ist Vorweihnachtszeit. An jeder Ecke steht ein Weihnachtsmann, Kinderaugen leuchten und Erwachsene werden sentimental und erwarten, auf das Fest der Liebe eingestimmt zu werden. Der Schriftsteller verfasst also eine Weihnachtsgeschichte. Er hat da auch schon eine brillante Idee, bringt sie zu Papier und zeigt sie zuerst seinen Freunden. Sprachlich müsse die noch ausgefeilt werden, der Schluss sei noch unbefriedigend, sagen die. Also wird gefeilt und formuliert und redigiert und am Nachmittag vor der Lesung fällt dem Autor im Auto auch noch der überraschende Schluss ein, der die Story rund macht. Wieder zu Hause wird noch einmal hastig ergänzt und umgeschrieben und dann muss der freudig erregte und mit sich selbst zufriedene Mann auch schon zur Lesung hetzen.
Ach, warum müssen denn gerade abends so viele Menschen mit dem Auto unterwegs sein. Oh weh, hätte er sich doch zuerst auf einer Karte angeschaut, wo sich das Restaurant befindet. Oh Gott, wo sind denn hier die Menschen, die er nach dem Weg fragen könnte? Und jetzt gibt es auch noch zwei Restaurants, deren Namen sich so ähnlich sind.
Natürlich landet der nun doch nervös gewordene Mann zuerst im Restaurant Seehaus. „Sie wollen was vorlesen? Hier ist die Speisekarte!“
Aber nur fünfhundert Meter weiter ist das Restaurant Seeblick.
Der gerade noch pünktliche Vorleser hastet an parkenden Autos und einem kleinen Weihnachtsmarkt vorbei in die Gaststätte. „Guten Abend, ich soll hier vorlesen.“
Die Frau an der Theke schaut zuerst verständnislos. „Sie wollen – was?“ erinnert sich dann aber und sagt „Ach ja, das macht der Juniorchef. Der steht da draußen, bei den Buden am Weihnachtsmarkt. Ist so ein großer Mann.“
„So einer mit einem roten Mantel, roter Mütze und Rute in der Hand?“
„Nein. Der nicht. So ein großer dunkler.“
Der Schriftsteller stolpert hinaus, irrt über den Weihnachtsmarkt und hält nach einem Krampus (Knecht Ruprecht) Ausschau. Vor dem einzigen beheizten Zelt fragt er nach. Vor ihm steht ein Hüne, Typ jovialer Bodyguard, der ihn freundlich musternd begrüßt. „Oh, Sie sind der mit der Vorlesung.“ Ja, denkt der Schreiberling, hätte ich doch nur was Vernünftiges gelernt und wäre Professor geworden.
Der „Junior“ weist mit der Hand auf einige bunt kostümierte Gestalten. „Die da hinten kommen nach Ihnen. Die machen italienische Tänze.“
Italien!: die Sonne, die Wärme, die Lebensfreude. Entsprechend leicht sind die Tänzer bekleidet, aber es ist kalt und es fängt an zu nieseln. Der hoffnungsvolle Nachwuchsautor denkt: Ich würde frieren.
„Wie lange brauchen Sie?“ „Zwanzig Minuten.“ „Das geht okay.“
Der Vorleser wird zum Eingang des Zeltes geleitet. Da stehen acht Biertische, an denen sich ein ca. 20-köpfiger Querschnitt der Bevölkerung niedergelassen hat, Menschen, die wohl in den umliegenden Hochhäusern wohnen: Rentner, Hausfrauen, Jugendliche und eine junge Familie, die miteinander reden oder schweigen, ein Weißbierglas oder eine Glühweintasse vor sich stehen haben und ergeben den Weihnachtsmelodien lauschen, die ein entfernter Neffe Hans Mosers (so sieht er zumindest aus) auf seiner Hammondorgel gerade zum Besten gibt.
Der Junior gibt dem Musiker mit viel Körpersprache zu verstehen, dass der jetzt eine Pause machen darf. Der Vorleser geht ans Mikrofon. „Guten Abend. Ich muss Sie warnen: Ich werde jetzt eine Weihnachtsgeschichte vorlesen.“
Einige stehen auf und gehen. Andere fühlen sich nicht gestört und reden weiter.
„Außerdem muss ich noch eine Durchsage machen: Der Fahrer des VW-Passat mit dem Kennzeichen Dachau, DD, 668 hat sein Licht brennen lassen.“
Wieder verschwindet jemand aus dem Zelt, nicht ganz so gelassen, wie seine Vorgänger.
Dann fängt der Autor an vorzulesen. Er liest ausdrucksstark. Er spricht betont und deutlich. Er trägt mit Begeisterung vor. Und siehe: Da wenden sich ihm Gesichter zu. Da werden Köpfe schräg gelegt. Da hören welche zu.
Die Geschichte handelt von einem betrunkenen Weihnachtsmann. Es passt doch zum Ambiente, denkt der Autor und freut sich heimlich, weil er sieht, wie er die Menschen, bis auf die blöden Schwätzer an Tisch Nummer vier, in seinen Bann zieht. Es wird immer spannender. Die Geschichte nähert sich ihrem Höhepunkt und der Auflösung.
Da setzt laut dudelnd italienische Volksmusik ein.
Tapfer erhebt der Vorleser seine Stimme. Er wird laut. Man soll ihn verstehen. Und so kommt er zum Schluss.
Einige klatschen verhalten Beifall. „Und,“ fragt er „hat Ihnen meine Geschichte gefallen?“ „Am Schluss war die Musik so laut“, antwortet jemand aus dem Publikum.
Der Verfasser der Weihnachtsgeschichte bedankt sich, verbeugt sich und geht.
Am Zelteingang wird er von dem Juniorchef empfangen. Er schätzt, dass dessen Kampfgewicht das Seinige um 30 Kilogramm übersteigt. Schade. „Wenn Sie mich schon zum Vorlesen bitten,“ sagt der Autor, „dann könnten Sie doch wenigstens die Musik leiser machen.“
Der Juniorchef hebt bedauernd die Schultern. „Die italienischen Tänzer haben so gefroren. Die haben es nicht mehr länger ausgehalten in ihren kurzärmeligen Hemden.“
„Na, dann.“ Der Schriftsteller fügt sich, und der Hüne klopft ihm tröstend auf die Schulter. „Aber wenn Sie am Donnerstag wiederkommen,“ sagt er. „Dann soll es schneien und nicht mehr regnen. Dann ist hier was los. Dann wird das Zelt proppevoll sein.“ Er überreicht dem Vorleser drei Papiermarken. „Und hierfür bekommen Sie zwei Getränke und was zu essen an unserem Stand.“
Das Honorar, hatte die Chefin des Restaurants am Telefon gesagt, das sie den Künstlern sonst gegeben hätten, kommt der Aktion Kinder helfen Kindern zu Gute. Und, wie heißt es so schön bei den öffentlichen Spendenaufrufen: Es zählt doch jeder Cent.
Ja. Und am Donnerstag war kein Schwein da.
Der hoffnungsvolle Autor bekam die Mitteilung per Email von der Initiatorin des Literaturkreises: Das Restaurant Seeblick in sucht jemanden, der eine Lesung zur Vorweihnachtszeit abhält.
Ob die Bücher eines Schriftstellers verlegt werden, hängt nicht nur von der Qualität seiner Werke ab, sondern auch von seinem Bekanntheitsgrad. Wenn man also nicht gerade Dieter Bohlen heißt, bieten Lesungen eine gute Möglichkeit, seine eigene Popularität zu vergrößern. Der Schriftsteller nimmt deshalb auch diese Herausforderung an.
Aber zuerst muss der passende Text gefunden werden. Es ist Vorweihnachtszeit. An jeder Ecke steht ein Weihnachtsmann, Kinderaugen leuchten und Erwachsene werden sentimental und erwarten, auf das Fest der Liebe eingestimmt zu werden. Der Schriftsteller verfasst also eine Weihnachtsgeschichte. Er hat da auch schon eine brillante Idee, bringt sie zu Papier und zeigt sie zuerst seinen Freunden. Sprachlich müsse die noch ausgefeilt werden, der Schluss sei noch unbefriedigend, sagen die. Also wird gefeilt und formuliert und redigiert und am Nachmittag vor der Lesung fällt dem Autor im Auto auch noch der überraschende Schluss ein, der die Story rund macht. Wieder zu Hause wird noch einmal hastig ergänzt und umgeschrieben und dann muss der freudig erregte und mit sich selbst zufriedene Mann auch schon zur Lesung hetzen.
Ach, warum müssen denn gerade abends so viele Menschen mit dem Auto unterwegs sein. Oh weh, hätte er sich doch zuerst auf einer Karte angeschaut, wo sich das Restaurant befindet. Oh Gott, wo sind denn hier die Menschen, die er nach dem Weg fragen könnte? Und jetzt gibt es auch noch zwei Restaurants, deren Namen sich so ähnlich sind.
Natürlich landet der nun doch nervös gewordene Mann zuerst im Restaurant Seehaus. „Sie wollen was vorlesen? Hier ist die Speisekarte!“
Aber nur fünfhundert Meter weiter ist das Restaurant Seeblick.
Der gerade noch pünktliche Vorleser hastet an parkenden Autos und einem kleinen Weihnachtsmarkt vorbei in die Gaststätte. „Guten Abend, ich soll hier vorlesen.“
Die Frau an der Theke schaut zuerst verständnislos. „Sie wollen – was?“ erinnert sich dann aber und sagt „Ach ja, das macht der Juniorchef. Der steht da draußen, bei den Buden am Weihnachtsmarkt. Ist so ein großer Mann.“
„So einer mit einem roten Mantel, roter Mütze und Rute in der Hand?“
„Nein. Der nicht. So ein großer dunkler.“
Der Schriftsteller stolpert hinaus, irrt über den Weihnachtsmarkt und hält nach einem Krampus (Knecht Ruprecht) Ausschau. Vor dem einzigen beheizten Zelt fragt er nach. Vor ihm steht ein Hüne, Typ jovialer Bodyguard, der ihn freundlich musternd begrüßt. „Oh, Sie sind der mit der Vorlesung.“ Ja, denkt der Schreiberling, hätte ich doch nur was Vernünftiges gelernt und wäre Professor geworden.
Der „Junior“ weist mit der Hand auf einige bunt kostümierte Gestalten. „Die da hinten kommen nach Ihnen. Die machen italienische Tänze.“
Italien!: die Sonne, die Wärme, die Lebensfreude. Entsprechend leicht sind die Tänzer bekleidet, aber es ist kalt und es fängt an zu nieseln. Der hoffnungsvolle Nachwuchsautor denkt: Ich würde frieren.
„Wie lange brauchen Sie?“ „Zwanzig Minuten.“ „Das geht okay.“
Der Vorleser wird zum Eingang des Zeltes geleitet. Da stehen acht Biertische, an denen sich ein ca. 20-köpfiger Querschnitt der Bevölkerung niedergelassen hat, Menschen, die wohl in den umliegenden Hochhäusern wohnen: Rentner, Hausfrauen, Jugendliche und eine junge Familie, die miteinander reden oder schweigen, ein Weißbierglas oder eine Glühweintasse vor sich stehen haben und ergeben den Weihnachtsmelodien lauschen, die ein entfernter Neffe Hans Mosers (so sieht er zumindest aus) auf seiner Hammondorgel gerade zum Besten gibt.
Der Junior gibt dem Musiker mit viel Körpersprache zu verstehen, dass der jetzt eine Pause machen darf. Der Vorleser geht ans Mikrofon. „Guten Abend. Ich muss Sie warnen: Ich werde jetzt eine Weihnachtsgeschichte vorlesen.“
Einige stehen auf und gehen. Andere fühlen sich nicht gestört und reden weiter.
„Außerdem muss ich noch eine Durchsage machen: Der Fahrer des VW-Passat mit dem Kennzeichen Dachau, DD, 668 hat sein Licht brennen lassen.“
Wieder verschwindet jemand aus dem Zelt, nicht ganz so gelassen, wie seine Vorgänger.
Dann fängt der Autor an vorzulesen. Er liest ausdrucksstark. Er spricht betont und deutlich. Er trägt mit Begeisterung vor. Und siehe: Da wenden sich ihm Gesichter zu. Da werden Köpfe schräg gelegt. Da hören welche zu.
Die Geschichte handelt von einem betrunkenen Weihnachtsmann. Es passt doch zum Ambiente, denkt der Autor und freut sich heimlich, weil er sieht, wie er die Menschen, bis auf die blöden Schwätzer an Tisch Nummer vier, in seinen Bann zieht. Es wird immer spannender. Die Geschichte nähert sich ihrem Höhepunkt und der Auflösung.
Da setzt laut dudelnd italienische Volksmusik ein.
Tapfer erhebt der Vorleser seine Stimme. Er wird laut. Man soll ihn verstehen. Und so kommt er zum Schluss.
Einige klatschen verhalten Beifall. „Und,“ fragt er „hat Ihnen meine Geschichte gefallen?“ „Am Schluss war die Musik so laut“, antwortet jemand aus dem Publikum.
Der Verfasser der Weihnachtsgeschichte bedankt sich, verbeugt sich und geht.
Am Zelteingang wird er von dem Juniorchef empfangen. Er schätzt, dass dessen Kampfgewicht das Seinige um 30 Kilogramm übersteigt. Schade. „Wenn Sie mich schon zum Vorlesen bitten,“ sagt der Autor, „dann könnten Sie doch wenigstens die Musik leiser machen.“
Der Juniorchef hebt bedauernd die Schultern. „Die italienischen Tänzer haben so gefroren. Die haben es nicht mehr länger ausgehalten in ihren kurzärmeligen Hemden.“
„Na, dann.“ Der Schriftsteller fügt sich, und der Hüne klopft ihm tröstend auf die Schulter. „Aber wenn Sie am Donnerstag wiederkommen,“ sagt er. „Dann soll es schneien und nicht mehr regnen. Dann ist hier was los. Dann wird das Zelt proppevoll sein.“ Er überreicht dem Vorleser drei Papiermarken. „Und hierfür bekommen Sie zwei Getränke und was zu essen an unserem Stand.“
Das Honorar, hatte die Chefin des Restaurants am Telefon gesagt, das sie den Künstlern sonst gegeben hätten, kommt der Aktion Kinder helfen Kindern zu Gute. Und, wie heißt es so schön bei den öffentlichen Spendenaufrufen: Es zählt doch jeder Cent.
Ja. Und am Donnerstag war kein Schwein da.