Papiertiger
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Einen Tag leben
Mir wird dieser Comic von Charles Schulz immer mal wieder auf Social Media angezeigt. Ein Strip aus den „Peanuts“. Charlie Brown sitzt betrübt mit seinem sprechenden Hund Snoopy auf dem Boden und sagt: „Wir müssen alle sterben.“
Antwort von Snoopy: „Sterben müssen wir nur einmal, aber leben dürfen wir jeden Tag.“
Je nach Gemütslage finde ich diesen Comic schön, anrührend und tröstlich, aber in tiefen (Sinn-)Krisen ist mir das eindeutig zu wenig. Dann suche ich Antworten bei seriösen Wissenschaftlern. Da sind immer gute Informationen dabei. Ein Mensch kann bis zu 120 Jahre alt werden. Mit diesen fünf Tipps reduzieren sie 80 Prozent der häufigsten fatalen Krankheiten und so leben sie 20 Jahre länger und bleiben geistig und körperlich fit bis ins hohe Alter.
Aber was ist, wenn man gerne denen helfen will, die bereits gegangen sind? Religion kann Trost spenden und Halt geben. Trauerbegleiter und Therapeuten können helfen. Ablenkung und eine erfüllende Aufgabe kann Sinn stiften. Ein Schriftsteller hat, soweit ich informiert bin, aus Angst seinen Sohn zu verlieren, den Bestseller „Friedhof der Kuscheltiere“ verfasst. Es gibt Menschen, die in so einer fragilen Situation anfällig für Betrüger sind, Sekten oder „Wunderheilern“ auf den Leim gehen.
Jeder Mensch ist einzigartig. Jeder Mensch ist sozusagen eine limitierte Auflage, ein Unikat, ein Original. Warum also nicht etwas eigenes ausprobieren mit der Lebenszeit, die noch übrig ist.
Ich fand kürzlich Trost in kumpeligen Podcasts und ich tauchte ein in einen Teil der „Per Anhalter durch die Galaxis“-Reihe von Douglas Adams. Schön ist das. Ich bin sofort in einer anderen Welt. Die Kontrolle ist wieder da. Der Trost ist sicher, denn ich kenne die Bücher bereits, habe sie vor Urzeiten gelesen. Nun höre ich die Hörbücher. Besonders schön gelesen von Andreas Fröhlich, der deutschen Synchronstimme von Edward Norton und von „Die drei Fragezeichen“, ich glaube er spricht Bob Andrews. Vertrautes gibt Sicherheit und Halt.
Auch wenn man selbst sehr gerne über sein Privatleben berichtet, so gehört zur Wahrheit und zur Weisheit des Erwachsenen auch die, vielleicht schmerzhafte, Erkenntnis: Im Grunde interessiert das andere Menschen gar nicht. Einfach drauflos plappern – wer will da länger zuhören? Wenn überhaupt, dann bei Prominenten oder wenn universelle Themen angesprochen werden mit einem Mehrwert für die Leserschaft. Sind Benjamin von Stuckrad-Barres Bücher wie „Panikherz“ Literatur und wahr, also komplett so passiert? Ich habe keine Ahnung! Wenn Du eine Geschichte über Deine Familie, etwa den Umgang mit Deiner Mutter als Story erzählen will, dann mach es wie David Chase und erschaffe die brillante TV-Serie „The Sopranos“.
Es ist November, der Trauermonat. Sehr passend besungen mit dem Song „November Rain“ von Guns `n Roses. Kann ich aus den Themen Endlichkeit, Sterblichkeit und Verlust eine Geschichte schreiben, die andere Menschen berührt, unterhält, informiert und sogar weiterhilft in der Lebensbewältigung? Warum nicht mal ganz offensiv sein wie dieser Film „Knowing“ mit Nicolas Cage. Darin geht es zwar um Außerirdische und Zeichen, ich habe den Film vor Jahren ein einziges Mal gesehen und erinnere mich an einzelne Szenen, aber vor allem an das Ende. Es macht genau das, was man nicht machen sollte, wenn man Spannung erhalten und nicht riskieren will ein Kunst- oder gar Meisterwerk in Richtung Trash abrutschen zu lassen. In Steven Spielbergs „Der weiße Hai“ wird der Hai kaum gezeigt. Die Fantasie des Publikums füllt die Lücken mit ihren eigenen Bildern, was sehr viel wirkungsvoller ist. Es gab vor vielen Jahren Kritik an dem Film „In meinem Himmel“, wohl deshalb weil der Film fragwürdige Botschaften enthielt, aber auch weil er ein Kind zeigte, dass in einem Jenseits gezeigt wurde, so ein rosarotes, idealisiertes Bild, meine ich. Ich habe den Film bisher nicht gesehen. Da würde ich mir lieber zuerst „Trancendence“ mit Johnny Depp ansehen. Darin überträgt ein sterbender Wissenschaftler sein Bewusstsein in einen Computer.
Ich mag Komödien. Lachen ist gesund und so heilsam wie Sport, insofern ist es auch mein liebster Sport. Ein Drehbuch über eine Person, die mit dem Tod konfrontiert wird, könnte schnell in üblen, flachen Klamauk abrutschen. Midlife-Crisis mit Porsche, gefärbten Haaren und vermeintlich jugendlichem Verhalten. Im dritten Akt kommt dann die Erkenntnis: schließe die fünf Phasen der Trauer ab, komm von der Depression und dem Verhandeln bei der Akzeptanz an und um noch ein erhebendes Happy-End zu bieten, wird der Held verändert und zu einem würdevoll alternden, immer noch für neues aufgeschlossenen Menschen, kein altersstarrsinniger Thomas Gottschalk, sondern ein Keith Richards, Ringo Starr oder Paul McCartney. Und ja, wird so ein Film gut gemacht, ich würde ihn mir sehr gerne ansehen.
Wie würde ich diese Geschichte erzählen? Probiere ich doch einfach mal eine Szene.
Einige Tage danach
Der November war schon immer grässlich. Aber er war natürlich die ideale Vorgruppe für den überbordenden, barocken Dezember, der es mit der teils übertriebenen Lichterpracht so gemütlich macht. „Kling Glöckler, Klingeling“ würden, mäßig begabte Komiker dichten, um sich über Kitsch und Quatsch lustig zu machen. Langweilig. Nils mochte es in einem Land mit vier Jahreszeiten zu leben. Den Herbst wusste er erst seit er die 30 überschritten hatte richtig zu würdigen. Am liebsten hatte er den Frühling, wenn noch alles möglich war, die Saison, die so übervoller Hoffnung war. Er dachte an seinen letzten Sommer mit Jutta zurück. Es war dieser Sommer. Sie waren so unendlich glücklich und es sollte, bitte, bitte ewig so weitergehen. Die Sonne wärmte die Haut. Der blaue Himmel. Juttas Lachen, auch über seine nicht besonders originellen Bonmots. Er liebte sie über alle Maßen. Dann, Ende September der Anruf. Er wollte gerade schlafen gehen. Das Krankenhaus war dran. Verkehrsunfall. Kommen Sie bitte schnell, wenn sie sich verabschieden wollen.
Drei Tage danach
YouTube-Suchbergriff „Tod“. Einige hilfreiche Videos, gerne solche von ARD und ZDF, vom Schweizer Fernsehen oder von YouTube-Coaches, deren Videos er seit Jahre verfolgte. Aber auch viel, was ihm zu esoterisch und spinnert war. Und dann eine nicht enden wollende Batterie an „Tod! Schockiernde Nachricht für…“ und dann folgten Videos über Helene Fischer, irgendwelche Fußballspieler und mehr oder weniger Prominte, die angeblich gerade verstorben seien. Es sah aus wie das Zeitschriftenregal in seinem Supermarkt mit all den Käseblättern, die ausgedachte Interview mit Michael Schumacher und angebliche Neuigkeiten von den britischen Adligen oder deutschen Fernsehprominenten auf den Titelseiten anbiederten und offensichtlich Käufer für diese Stuss fanden. Am Kiosk nennt sich das „Regenbogenpresse“, im Internet sagt man „Clickbait“- Geld verdienen die Macher bestimmt mit beidem. Sogar Menschen, die im Internet Zuspruch in Trauerfällen suchen, versucht man abzuzocken, dachte Nils und fühlte sich noch etwas frösteliger und einsamer als zuvor.
Ein Jahr danach
Er hatte noch nicht mal einen Monat ohne Jutta geschafft. Dennoch überlegte sich Nils wie sein Leben weitergehen würde. Wie würde es ihm in einem Jahr nach der neuen Zeitrechnung gehen? Im Jahre 1 n. J. Jutta war da. Und sie würde es für immer bleiben, das hatte er sich in der Nacht ihres Todes gesagt, vielleicht sogar geschworen. Er hatte sofort begonnen ein Trauertagebuch zu führen. Erst war es eine extrem detaillierte Berichterstattung über Jutta. Eine Geschichte darüber was für ein perfekter Mensch sie ist. Das Buch veränderte sich, es kamen kurze Stichworte, alles sammeln und dann später weiter ausführen. Es wurde dann immer mehr wie ein normales Tagebuch, nur eben mit klarem Fokus auf den anderen Menschen und nicht so sehr auf ihm selbst.
War das jetzt auch eine Chance? Eine Gelegenheit, zu lernen. Gesünder zu leben. Freundlicher zu sein. Keinen Moment mehr zu vergeuden. In die Kirche zu gehen? Und nun endlich ganze Bücher zu Ende zu schreiben und zu veröffentlichen statt alles immer nur zu verschieben und auf den perfekten Moment zu warten, auf den Tag, der niemals kommt. Hey, das wäre ein noch freier Titel für einen James-Bond-Film, indem er noch mehr seine empfindliche Seite beleuchten kann mehr noch als in „Skyfall“ und „Keine Zeit zu sterben“.
Ein Tag.
Das Leben ist kurz. Fühlt sich oft aber so lang an, wenn man Schulkind ist oder etwas tun muss, das einem nicht gefällt. Ein Jahr hat 365 Tage. Jeder Tag ist ein ganzes Leben? Funktioniert es so an die Sache heranzugehen? Probier es aus, dachte sich Nils. Was habe ich zu verlieren? Mein Leben, antwortete seine Angst. Schalte den Computer jetzt aus, hörte er Jutta sagen. Geh an die frische Luft und unternimm einen Spaziergang. Tanke Vitamin D. Du hast heute. Das ist doch viel.