Einfachheiten

Val Sidal

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Der Druckauftrag wurde nicht fertig – „brauche noch eine halbe Stunde“, sagte der junge Türke im CopyShop. Ich schließe die Augen und begebe mich zum Hauptplatz unserer kleinen Stadt.
Das Rathaus und die Kirche regieren nur durch das Café Kultus getrennt, nebeneinander, betonsäkularisiert.
Bei Toto (auf dessen Firmenschild das zweite „o“ beängstigend verschwunden war und nicht mehr hinzu gefügt wurde) „Am Markt“ einen Cappuccino trinken.

Samstags verdient der Platz seinen Namen – Markttag.
Heute auch Forum. Überall stehen bunte Stände der politischen Parteien und Wählergruppen mit ihren Marktschreiern.
Morgen werden die Bosse der kommunalen Verwaltungen gewählt, Bürgermeister und Landräte.
Es ist mir ein Rätsel, wieso es Menschen gibt, die gewählt werden wollen, jetzt, wo die Flüchtlinge kommen, die Viren schon da sind und die Nazis bleiben ewig gestern.
Andererseits -- für manchen von den hohen Beamten (wegen der einen Ex-Bürgermeisterin in der Geschichte der Stadt verzichte ich jetzt auf Gendern) gibt es ein gutes Auskommen und Macht – die fürstliche Altersversorgung nicht zu vergessen. Es sei denn, irgendwelche Heuschrecken plündern die Pensionskassen.

Die Alleinunterhalter der CDU und SPD bekriegen sich gnadenlos und fahren schwerste Geschütze auf: Schlagermusik aus dem letzten Jahrhundert – eine erzkonservative Stadt halt, unsere. Ich suche einen Platz unter der Markise (es könnte regnen) und bestelle beim Kellner. Ich kenne ihn seit Jahren: er wird die Positionen meiner Rechnung immer noch auf Italienisch zusammenzählen.
„Rata, Rata, Ratatarara ...“ – singt der Alleinunterhalter der SPD das Lied vernichtend vom Mädchen im Wagen nebenan.
Ein Obdachloser lässt sich auf Die Linke-Plauderei nicht ein: Zwanzig Meter weiter lockt die CDU mit Bratwurst mit Brötchen und Senf und Bier vom Fass dazu. In seiner Tasche hat er rote Kugelschreiber gesammelt, die Die Linke überall verteilt hat. Auf meinem Tisch liegen auch zwei. Wie wäre es moralisch zu werten, wenn ich nachher beide mitnehmen würde? „Mach dir nicht so'n Kopf!“, würde meine Großmutter dazu sagen.

Seit dem letzten Mal hat sich hier einiges geändert. Mir gegenüber, hinter den politischen Ständen, ein neuer Laden: „Schuh OKAY“ – aha, ein Franchiser. Ich versuche mir wenigstens einige in Erinnerung zu rufen, die in den letzten Jahren dort dicht gemacht haben. Die Konstanten des Marktes: First Reisebüro und Juwelier Poser. Auf einem roten Hinweisschild: Zweirad Schmitz, um die Ecke.

Zwei aufgetakelte türkische Schönheiten ziehen vorbei.
Zwei Rollator-Fahrer, politisch abgelenkt, stoßen fast zusammen und – keine Polizei zu sehen.
Wenn ich manchmal hier so sitze, gucke ich ganz unpolitisch und un-sexistisch schönen Frauen hinterher.

Ein eiliger Schlaksiger blickt nach vorne, lässt den Song an sich abprallen – „... mit 66 Jahren, da fängt das Leben an ...“ – er trägt über seinem schneeweißen Pferdeschwanz einen Lederstrumpf-Hut.

Türkische Familie: Der Kinderwagen und das Mädchen, das ihn schiebt, mit Große-Koalitions-Luftballons.

Es beginnt zu regnen und ein SPD-Mann eilt mit nigelnagelneuen, roten Regenschirmen herbei.

Die Frauen Union erklärt, dass die Politik Frauen braucht. Und die Senioren Union ist „hellwach!“ – lese ich.

Ich finde die Stände der NPD und AfD nicht. Von den paar Hundert im Forum konstant Beobachtbaren trägt sie mindestens zehn Prozent im Kopf, und weitere zehn, wutgeballt, im Bauch. Ich kenne meine Pappenheimer. Die Hälfte von ihnen würde aus Facebook raus fliegen (virtuell hingerichtet), wenn sie über das Thema Ausländer und Flüchtlinge schreiben müssten.
Schweigen steht ihnen gut – Schreiben ist nicht ihre Kernkompetenz. Aber wir können nicht alle Schriftsteller sein.

Aus einer Gasse schlendern zwei schlanke Ausländer an meinem Tisch vorbei, durch den Duft der Holzkohle oder durch die Musik angelockt. Einer hat sich bei dem Anderen untergehakt. Ein schwules Pärchen denke ich noch – und dann erfolgt der Angriff.

Von dem Stand der Bündnis 90 Die Grünen stürmt ein Parteisoldat auf sie zu und droht mit Flyern. Die Beiden weichen zurück. Sie sind in meiner Hörweite. Ich höre nur „Asyl“, „Saudi Arabia“, „Syria“.
„Lassen sie sie in Ruhe“, sagt ein steifer, piekfein gekleideter Greis mit Krawatte und Krücke, „die dürfen gar nicht wählen!“ „Noch nicht ...“, erwidert der Grüne verschmitzt lächelnd.
In ihrer Heimat hätte man sie hingerichtet – denke ich.

Aus dem Lautsprecher ertönt Roy Orbisons Pretty Woman – und tatsächlich: Endlich erscheint sie, die Frau mit den Supertitten und dem geilen Po, dem es lohnt, hinterher zu gucken.

Ein Dackel versucht das Herrchen an der Leine von dem SPD-Stand weg zu ziehen, und die sehr dunkelhäutige Tochter eines sehr hellhäutigen Vaters und einer korpulenten, ebenfalls sehr dunkelhäutigen Mutter erschreckt sich. Die Mama lacht und Papa erklärt ihr das Verhalten von deutschen Haustieren.

Und dann der Knall. Laut – wie ein Schuss.
Ein Luftballon platzt, während vom Stand der Senioren Union kindische Seifenblasen das Weite suchen – dem Himmel sei Dank! Alles heiße Luft, denke ich.

Aus dem Lautsprecher ertönt Leonard Cohens „Halleluja“ und ich bezahle meinen Cappuccino.

Bei Aimer Feinkostladen – beim Türken, wie wir sagen – gibt’s die letzten, überreifen Wassermelonen. Keine Sau will sie haben. Über dem Laden weht die Fahne mit dem Stadtwappen.

Der junge Türke im CopyShop hat die Kopien gerade vor die Eingangstür gelegt.
Es wird Zeit, meinen Roman aus dem CopyShop zu holen.

Ich setze meine Maske auf, steige aus meinem Wagen.
 
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