xavia
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Die Luft war kühl, aber nicht frisch, sie roch wie schon mal geatmet. Charlotte ließ sich langsam auf der Kiste mit den Saftflaschen nieder. Kein bequemer Sitzpatz. Ihre Finger ertasteten die raue, kalte Wand hinter ihr und sie lehnte sich nachdenklich dagegen, spürte dem Grauen nach, das der Situation angemessen war. Da musste doch eigentlich Empörung in ihr sein, Wut. Sie suchte nach solchen Gefühlen, fand sie nicht. Seit sie allein war, hatte sie nicht mehr die Gefühle, die zu den Situationen passten.
„Euch gibt es wohl nur im Doppelpack.“ hatte die Frau an der Käse-Theke im Supermarkt gesagt, wenn sie dort einkauften. Sie wollte jetzt lieber nicht an ihn denken, sonst würde sie noch trauriger. Er
war tot, sie musste sich damit abfinden. Abfinden, das klang so unkompliziert. Man bekam eine Abfindung und die Sache war vergessen. Aber sie wusste es besser.
Sie gab sich einen Ruck und kehrte mit ihren Gedanken zu ihrer aktuellen Situation zurück. War der Apfelsaft ein Fluch oder ein Segen? Er bot für eine geraume Zeit Nahrung und Flüssigkeit, wenn sie ihn sich gut einteilte. Falls es ihr gelang, die Kronkorken zu öffnen. Sie wusste, dass es möglich war, eine Flasche an der anderen zu öffnen, hatte das öfters gesehen, ihr Enkel konnte sowas. Auch am Rand der Plastik-Kiste, in der die Flaschen standen und auf der sie jetzt saß, konnte er eine Flasche öffnen. Sie, Charlotte, konnte das nicht. Jetzt realisierte sie, dass es gut gewesen wäre, es beizeiten zu lernen. Aber sie hatte ja jetzt Zeit, es zu lernen. Mehr Zeit war auf jeden Fall eine Chance, gefunden zu werden. Aber mehr Zeit war auch mehr Zeit um nachzudenken. Sie mochte nicht gerne nachdenken.
Worüber dachte man überhaupt in so einer Situation nach? Sie hatte keine Erfahrung damit, wenngleich sie schon einige Jahrzehnte lang gelebt hatte. Sie wusste vom Hörensagen, dass das eigene Leben an einem vorüberzog, wenn der Tod nahte. Ihr Leben. Würde es ihr Stoff geben für die Zeit, die diese Kiste Saft ihr verschaffte, wenn andere ihr ganzes Leben an sich vorüberziehen sehen konnten, während sie von einem Hochhaus fielen? Noch zog da gar nichts an ihr vorüber. Sie hatte eher das Gefühl, sich zu langweilen. Der Tod war also noch weit genug weg.
So saß sie lange Zeit mit geschlossenen Augen. Undurchdringliches Dunkel umhüllte sie. Sie forschte in ihrem Innern nach Gedanken, die in dieser Ruhe gedacht werden wollten und fand keine, nur Leere. Leere, immerhin. Wenn ihre Yoga-Lehrerin sie dazu aufgefordert hatte, waren unwillkommene Gedanken aufgetaucht. Nicht einmal die Traumreisen hatte sie sich vorstellen können, weil ihr dann eingefallen war, welche Gartenarbeiten noch zu erledigen waren.
Charlotte war eine Frau, die praktisch dachte und so kam ihr der Gedanke, dass der Saft ihr noch einige Unbequemlichkeit bereiten würde. Ihr taten schon jetzt, im Sitzen, alle Knochen weh, aber in diesem kalten, kahlen Raum schlafen, wie sollte das gehen? Tagelang? Wochenlang, sogar? Sie dachte an Menschen, die in Kerkern ihr Leben fristeten, vielleicht sogar in diesem Moment. Vielleicht war der Saft doch eher ein Fluch, verlängerte das Leiden, ließ einen dabei zusehen, wie die Hoffnung schwand und der Körper mehr und mehr durchdrungen wurde von der stickigen Kälte. Stickig? Vielleicht dauerte es gar nicht wochenlang, bis ihr die Luft ausgehen würde?
Wer könnte sie finden? Wen würde es wundern, wenn sie das Telefon nicht abnahm, nicht die Haustür öffnete, wenn jemand klingelte? Und wer würde daraus den Schluss ziehen, dass man in das Haus eindringen und nach dem Rechten sehen müsste?
Sie öffnete die Augen und erhob sich mühsam von der Kiste und streckte ihre Glieder. „Vielleicht sollte ich hier unten einen Flaschenöffner deponieren.“ dachte sie, während sie langsam die Treppen hinaufstieg. Mit jeder Treppenstufe wurde ihr Herz leichter und sie atmete tiefer. Sie hatte plötzlich Appetit auf ein Stück Himbeertorte. „Auf jeden Fall sollte ich jetzt einen Spaziergang machen und mich darüber freuen, dass ich es kann. Einen Osterspaziergang. Und später gehe ich zum Osterfeuer und lasse allen Schmerz und allen Kummer in den Flammen auflodern.“
„Euch gibt es wohl nur im Doppelpack.“ hatte die Frau an der Käse-Theke im Supermarkt gesagt, wenn sie dort einkauften. Sie wollte jetzt lieber nicht an ihn denken, sonst würde sie noch trauriger. Er
war tot, sie musste sich damit abfinden. Abfinden, das klang so unkompliziert. Man bekam eine Abfindung und die Sache war vergessen. Aber sie wusste es besser.
Sie gab sich einen Ruck und kehrte mit ihren Gedanken zu ihrer aktuellen Situation zurück. War der Apfelsaft ein Fluch oder ein Segen? Er bot für eine geraume Zeit Nahrung und Flüssigkeit, wenn sie ihn sich gut einteilte. Falls es ihr gelang, die Kronkorken zu öffnen. Sie wusste, dass es möglich war, eine Flasche an der anderen zu öffnen, hatte das öfters gesehen, ihr Enkel konnte sowas. Auch am Rand der Plastik-Kiste, in der die Flaschen standen und auf der sie jetzt saß, konnte er eine Flasche öffnen. Sie, Charlotte, konnte das nicht. Jetzt realisierte sie, dass es gut gewesen wäre, es beizeiten zu lernen. Aber sie hatte ja jetzt Zeit, es zu lernen. Mehr Zeit war auf jeden Fall eine Chance, gefunden zu werden. Aber mehr Zeit war auch mehr Zeit um nachzudenken. Sie mochte nicht gerne nachdenken.
Worüber dachte man überhaupt in so einer Situation nach? Sie hatte keine Erfahrung damit, wenngleich sie schon einige Jahrzehnte lang gelebt hatte. Sie wusste vom Hörensagen, dass das eigene Leben an einem vorüberzog, wenn der Tod nahte. Ihr Leben. Würde es ihr Stoff geben für die Zeit, die diese Kiste Saft ihr verschaffte, wenn andere ihr ganzes Leben an sich vorüberziehen sehen konnten, während sie von einem Hochhaus fielen? Noch zog da gar nichts an ihr vorüber. Sie hatte eher das Gefühl, sich zu langweilen. Der Tod war also noch weit genug weg.
So saß sie lange Zeit mit geschlossenen Augen. Undurchdringliches Dunkel umhüllte sie. Sie forschte in ihrem Innern nach Gedanken, die in dieser Ruhe gedacht werden wollten und fand keine, nur Leere. Leere, immerhin. Wenn ihre Yoga-Lehrerin sie dazu aufgefordert hatte, waren unwillkommene Gedanken aufgetaucht. Nicht einmal die Traumreisen hatte sie sich vorstellen können, weil ihr dann eingefallen war, welche Gartenarbeiten noch zu erledigen waren.
Charlotte war eine Frau, die praktisch dachte und so kam ihr der Gedanke, dass der Saft ihr noch einige Unbequemlichkeit bereiten würde. Ihr taten schon jetzt, im Sitzen, alle Knochen weh, aber in diesem kalten, kahlen Raum schlafen, wie sollte das gehen? Tagelang? Wochenlang, sogar? Sie dachte an Menschen, die in Kerkern ihr Leben fristeten, vielleicht sogar in diesem Moment. Vielleicht war der Saft doch eher ein Fluch, verlängerte das Leiden, ließ einen dabei zusehen, wie die Hoffnung schwand und der Körper mehr und mehr durchdrungen wurde von der stickigen Kälte. Stickig? Vielleicht dauerte es gar nicht wochenlang, bis ihr die Luft ausgehen würde?
Wer könnte sie finden? Wen würde es wundern, wenn sie das Telefon nicht abnahm, nicht die Haustür öffnete, wenn jemand klingelte? Und wer würde daraus den Schluss ziehen, dass man in das Haus eindringen und nach dem Rechten sehen müsste?
Sie öffnete die Augen und erhob sich mühsam von der Kiste und streckte ihre Glieder. „Vielleicht sollte ich hier unten einen Flaschenöffner deponieren.“ dachte sie, während sie langsam die Treppen hinaufstieg. Mit jeder Treppenstufe wurde ihr Herz leichter und sie atmete tiefer. Sie hatte plötzlich Appetit auf ein Stück Himbeertorte. „Auf jeden Fall sollte ich jetzt einen Spaziergang machen und mich darüber freuen, dass ich es kann. Einen Osterspaziergang. Und später gehe ich zum Osterfeuer und lasse allen Schmerz und allen Kummer in den Flammen auflodern.“