lietzensee
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Eingeständnis
Gerald las die Nachricht. Er schloss die Augen und atmete erleichtert aus. Freder würde also nicht vorbeikommen. Er hatte seinen Besuch wegen eines wichtigen Termins abgesagt. Wie dieser Termin aussah und dass er mit einem Filmriss im Bahnhofviertel enden würde, das konnte Gerald sich natürlich denken. Aber es war nicht sein Problem und er hielt Menschen ihre Schwächen nicht vor. Jedenfalls würde Freder ihm heute erspart bleiben. Gerald hatte als Vorsichtsmaßnahmen schon eine Flasche Korn gekauft und sich auf endlose Vorträge eingestellt gehabt. Denn Freder redete über das Tuning seines alten Opel Kadett. Er redete über nichts anderes. Für gewöhnlich nahmen diese Vorträge ihren Anfang beim zweiten Glas und kein Ende vor dem Blackout. Gerald schüttelte den Kopf. Manchmal fragte er sich, warum er sich mit solchen Leuten überhaupt abgab. Er stand vom Sofa auf, ging in die Küche und stellte die Kaffeemaschine an. Dann aß er ein Stück Kuchen. Allein hatte Gerald sich immer am wohlsten gefühlt. Es war entspannter, wenn man nicht ständig die Befindlichkeiten der Anderen erraten musste. Er kaute. Der Kuchen schmeckte nach Kakao und Nüssen.
Horst hatte ihn letztens gefragt, ob er nicht wüsste, wie ungesund Nüsse seien. Horst redete ja nicht viel, aber wenn, dann waren es meistens rhetorische Gesundheitsfragen. "Weißt du nicht dies …?", "Hast du vergessen, dass …?" Warum konnte Horst nicht einfach sagen, was ihn störte? Kauend stellte Gerald sich vor, dass Horst nun mit in der Küche säße, seinen bösen Blick auf den Kuchen werfend, den Gerald doch in Ruhe essen wollte. Nein, Danke. Der Kaffee war fertig und Gerald goss sich ein. Horst hätte sicher auch an diesem Kaffee etwas auszusetzen gehabt.
Am Schlimmsten aber war Regine. Von ihren dunklen Augen ließ er sich schon lange nicht mehr täuschen. Regine war ein schönes Biest! Vor allem hielt sie sich nicht an Absprachen. Das fand Gerald besonders bitter, weil er immer alles gab, um Absprachen einzuhalten. Warum nahm sie sich daran kein Beispiel? Wo blieb da die Fairness? Alle Leute waren schwierig. Aber Regine war am schwierigsten. Sie konnte es nicht ertragen, wenn man ihr die Wahrheit sagte. Nun kaute er wütender. Der heiße Kaffee sengte seine Lippen. Machte man Regine auf ihre Fehler aufmerksam, begann sie zu streiten. Mit Nachdruck hatte Gerald gesagt, dass er eine streitende Henne nicht in seinem Haus haben wollte, weil ihm Ruhe und Frieden in den eigenen vier Wänden nämlich sehr wichtig waren! Er setzte die Tasse auf den Küchentisch. Kaffee schwappte über und verbrannte seine Finger. Dann kam Regine eben auch nicht vorbei. Gott sei Dank, musste er sich mit all diesen Idioten heute nicht abgeben!
Gerald war satt. Er blieb am Tisch sitzen, blickte auf die Uhr und dann auf die Küchenzeile, wo noch reichlich Kuchen übrig blieb. Lange saß er so, bis er es sich eingestand. Die Leute fehlten ihm. Er wollte unbedingt seine Ruhe. Aber seinen Geburtstag allein feiern, das wollte er nicht.
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