Einiges zu Fenstern

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rotkehlchen

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Neulich, als ich wieder einmal in Berlin unterwegs war, sah ich einen S-Bahn-Sonderzug der Baureihe 165, die, wenn mich nicht alles täuscht, noch in den 1980er Jahren in Dienst stand, und alte Erinnerungen tauchten wieder auf...
Damit man versteht, worüber ich rede, kurz folgendes: Die Front dieser historischen Züge ist dreigeteilt; rechts und links vom Mittelfenster befinden sich zwei weitere, und das Besondere nun ist, dass deren Oberkante nicht waagerecht verläuft, sondern nach außen hin leicht geneigt.
Es gab eine Zeit, da haben mich diese Fenster bis in den Nachtschlaf hinein verfolgt. Damals sah ich darin nicht schnöde Ausgucke für den Zugführer und seinen Begleiter, sondern ein Gesicht, und dieses Gesicht besaß etwas unendlich Trauriges, Weinerliches. Ja, weinerlich, das ist das richtige Wort. Die Bahn schien mir einen geheimen Kummer mit sich herumzufahren, den mir mitzuteilen sie keine Zeit hatte, denn sie war ja pausenlos unterwegs. Ich könnte jetzt natürlich anfügen, dass ich Erschütterung erkannte, eine Erschütterung, die ihr das Herumfahren in dieser zwar weitgehend aufgeräumten, aber immer noch unter schlimmen Kriegswunden leidenden Stadt bereitete; aber das wäre dann doch etwas zu weit hergeholt; ich glaube nicht, dass ich als sechsjähriger Steppke zu solchen Überlegungen fähig war. Geblieben ist aber immer noch die Erinnerung an das Gefühl der Traurigkeit, das mich überkam, wenn der Zug in den Bahnhof einlief und mich traurig ansah.
Überhaupt Fenster...
Noch heute sehe ich in Fenstern nicht verglaste Öffnungen im Mauerwerk, sondern Augen, die einem Haus ein Gesicht geben, und die mich, wenn ich durch die Stadt schlendere, auf die eine oder andere Weise anblicken. Da ist zum Beispiel der ernste Blick der Fenster mit einem Kreuz, die etwas Ernsthaft-Weihevolles ausstrahlen. Manchmal bin ich kurz davor, niederzuknien, denn ich bin zwar kein kirchengläubiger, aber ein durchaus religiöser Mensch. Eine anderes, mit Sprossen und Butzen, gibt mir zu verstehen, dass es nicht die Absicht hat, mir sein Herz zu öffnen; ein weiteres, in dem sich gerade die Sonne spiegelt, zeigt mir in geradezu arrogant-mafiöser Weise, dass es sich nicht in die Karten gucken lassen will; ein Dachfenster schöpft mit geöffnetem Maul Atem, kein Wunder, bei den gegenwärtigen Temperaturen da oben. Dann gibt es welche, die mich hochnäsig übersehen, meistens Fenster von Wohn- und Geschäftstürmen; andere blinzeln mich listig an, wie diese schießschartenähnlichen Öffnungen in modernen Neubauten – wie zum Beispiel in unserer städtische Musikschule – bei denen man zweimal hinschauen muss, um sie überhaupt als Fenster zu erkennen.
An manchen gehe ich schnell vorüber; entweder sind sie mir zu ernst, ich meine diese mit einem geraden Abtropfsims über dem Sturz, der ihnen etwas Streng-Humorloses verleiht; bei Rundbogenfenstern werde ich das Gefühl nicht los, dass sie mich mit hochgezogenen Augenbrauen an diverse unbezahlten Rechnungen erinnern wollen.
Ein ernsthaftes Problem stellen für mich zwei Kellerfenster im Nachbarhaus dar, die sich offensichtlich minderwertig fühlen; denn jedesmal, wenn ich vorbeigehe, schlagen sie verschämt die Augen nieder. Ich weiß dann nicht, wie ich mich verhalten soll; am liebsten würde ich hingehen und sie trösten, etwa, indem ich ihnen sage, dass nicht jeder ein Häuptling sein kann; aber das könnte den Neid der Erdgeschossfenster darüber nach sich ziehen, denn die sind im Grunde auch nicht viel besser dran. Also schweige ich und gehe schnell weiter.
Und dann sind da die Fenster des Historismus im Haus nebenan, die mit dem Dreiecksgebälk. Für mich haben sie jede Ernsthaftigkeit verloren, sie erinnern mich an jenen Kinderclown aus meiner Kindheit, der sich dreieckige Augenbrauen aufgemalt hatte und die wildesten Purzelbäume schlug. Ich rechne jeden Moment damit, dass ein oder zwei dieser Fenster aus der Fassade springen und auf der Straße herumtollen könnten.

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Im Stadtteil Rotes Feld steht ein Gebäude mit bunten Glasfenstern, ein alter wuchtig-roter Kasten aus der so genannten Gründerzeit, ein Gymnasium. Über dem Portal steht mit goldenen Lettern:
Bonus intra, melior exi.

Die Fenster sind breit, hoch, im Schlossformat und mit gerippten Säulen; sie strahlen gelassene Würde aus, vermischt mit einem Schuss Eitelkeit, und dazu, das muss ihnen der Neid zugestehen, ein Quäntchen Weltoffenheit. Schließlich handelt es sich um eine humanistische Lehranstalt. Auch ich habe einst ein solches Haus mit ähnlichen Fenstern besucht.
Ich bleibe stehen und erinnere mich. Wie war das noch? Trat ich gut ein? Möglich, denn ich war damals ein eifriger Kirchgänger mit Schwielen an den Knien. Ging ich besser wieder aus? Ich weiß es nicht, es sei denn, einige auswendig gelernte lateinischen Sätze und das Vermögen, ein Bier auf französisch bestellen, stellt schon eine Besserung dar. Nur eines ist sicher: Diese Fenster haben mir einen Haufen Ermahnungen eingebracht, denn sie faszinierten mich mehr als das Gerede mancher Lehrer, ihre Geschichten waren interessanter, besonders, wenn die Sonne hindurch schien.
Ich gehe weiter, in Richtung Altstadt. Dort stehen die Häuser dicht gedrängt, schmalbrüstig, hoch aufgeschossen, manche geradezu rachitisch; sie sehen aus, als müssten sie sich gegenseitig Trost zusprechen. Ganz von der Hand zu weisen ist diese Vermutung nicht, denn einige sind teilweise erblindet – zumindest empfinde ich es so. Es sind alte Speicher, die man in Geschäftshäuser umgebaut hat, und deren obere Fensteröffnungen teilweise mit Brettern vernagelt sind, warum auch immer.
An ihnen kann ich nicht vorbei gehen, ohne dass mich eine Welle des Mitleids überrollt. Diese Häuser kommen mir vor wie dieser blinde Hund zwei Querstraßen weiter, dem man ein Augen entfernt und die Augenhöhle zugenäht hat. Ach, wenn ich dieses Tier sehe, wechsele ich schleunig die Straßenseite, der Anblick ist mir unerträglich. Gerade die Augen sind es doch, die einem den Hund liebenswert machen! Mit gesenktem Kopf trottet das arme Tier dahin, müde und zerzaust, das reinste Leiden Christi. Und ähnlich geht es mir bei diesen Häusern mit den verbretterten Fenstern. Nur können sie den Kopf nicht senken; sie sind gezwungen, ihr Schicksal aufrecht stehend zu ertragen und sich auch noch von arroganten Neubauten unverschämt anblicken zu lassen.
Schon mehrmals habe ich versucht, den Stadtrat auf das Leiden dieser Häuser hinzuweisen, habe aber nie eine Antwort erhalten. Ich hege sogar den Verdacht, dass sie sich im Rathaus über mich lustig machen. Soll´n sie doch, mich kümmert´s nicht. Mir reicht´s, wenn mich die Häuser verstehen, und da bin ich mir sicher. Denn immer wieder kniept mir eines ein Auge zu...
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Ich kann mir nicht helfen: Wenn ich irgendwo einen Stapel ausgemusterter Fenster sehe, die zur Entsorgung bestimmt sind, überkommt mich das dringende Bedürfnis, sie vom Untergang zu bewahren, denn Fenster sind mehr als Glas, lackiertes Holz oder Hartplastik.
Wenn ich solch einen Stapel sehe – wie jetzt vor dem Wohnblock gegenüber – frage ich mich, was haben diese Fenster verbrochen, dass man sie so schnöde aus dem Haus wirft? Bitte ich jemanden um Auskunft, bekommen ich nur dumme Antworten. Sie seien undicht und zögen, heißt es dann. Pah! Welch eine Verleumdung! Gut, es mag Fälle geben, wo ein Fenster tatsächlich undicht ist und zieht. Etwa, wenn es sich um ein ganz altes handelt, bei dem die Scheibe noch eingekittet ist und sich der Kitt gelöst hat. Aber auch das wäre kein Grund, es auf die Straße zu werfen. Dann wird eben neu verkittet und basta! Und sollte es dann immer noch ziehen, liegt´s nicht am Fenster, sondern am Mauerwerk drumherum.
Aber doch nicht die da drüben! Wieso sollten sie ziehen? Ich hab sie mir angesehen: Manche wirken geradezu fabrikneu! Wie aus dem Ei gepellt! Die ziehen doch nicht! Und wenn ich dann weiter nachfrage, heißt es – wenn ich überhaupt eine Antwort erhalte – : sie ließen zu viel Straßenlärm durch. Ha! Das ist doch sowas von daneben, dass es einem die Sprache verschlägt. Wer macht denn den Lärm? Die Fenster oder die Straße? Aber nein, an die Straße wagen sie sich nicht heran, diese Duckmäuser, die könnte ja Krach schlagen!
Denkt denn keiner mal daran, was diese Fenster schon so alles geleistet haben? Wie viel Freud und Leid sie jahraus jahrein mit ansehen mussten? Überhaupt, hat schon mal jemand darüber nachgedacht, was in ihnen vorging, wenn sie Dinge sahen, die sie gar nicht sehen wollten? Dann: Wie häufig sind sie bei Regenwetter nass geworden, und niemand hat sie getrocknet! Wie oft mussten sie sich ungefragt übers Gesicht fahren lassen, und niemand hat ihren gesagt, warum? Wie oft haben sie im Winter gefroren, ohne dass sich jemand um sie kümmerte?
Und, ach, erst die Doppelfenster – ein Leben lang friedlich beieinander in derselben Nische, haben dreißig, vierzig Jahre in derselben Wohnung ausgeharrt, in guten wie in schlechten Zeiten, ein halbes Menschenleben! Und jetzt? Brutal auseinander gerissen und auf den Müll geworfen wie leere Konservendosen! Wenn ich daran denke, wie oft ich in dieser Zeit schon umgezogen bin, könnte ich neidisch werden. Und dann meine Ehe! Nach zwölf Jahren war schon Schuss...
Es ist ein Trauerspiel...
Was könnte man mit solchen Fenstern noch alles anfangen!
Man könnte zum Beispiel daraus lichtdurchflutete Gewächshäuser bauen, mit bunten Papageien und tropischen Pflanzen, ihnen und den Menschen zur Freude. Wenn das nicht geht könnte man sie wenigstens bemalen, damit sie endlich etwas anderes sehen als die triste Hauswand von gegenüber. Aber ich fürchte, sogar das wird wieder an den Kosten scheitern.
Wenn meine Mittel nicht so beschränkt wären, würde ich mir ein Haus nur aus Fenstern bauen. Nein, nicht nach Art dieser modernen Bürogebäude, die anscheinend nur aus Glas bestehen. Ich meine Fenster, nicht Glas, und auch nicht irgendwelche Fenster, sondern solche, die schon vieles in ihrem Leben gesehen haben und das Leben kennen, wie die da drüben, und sie müssten aus aller Herren Länder stammen. Dann könnte ich mir jeden Tag ein anderes Fenster aussuchen und die Welt mit dessen Augen betrachten. Das, wofür andere Leute weite Reisen unternehmen müssen, könnte ich dann von meinem Sessel aus genießen.
Nur leider, meine Mittel erlauben es nicht.
 



 
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