Einladung zum Leben – angenommen

Einladung zum Leben – angenommen
Überdosis Glück von Rosenstolz dudelte gerade aus dem Radio, während ich bewegungslos im Flur herumstand und wartete. Im großen Sinne natürlich auf eine solche Überdosis Glück, die ich in der Zukunft, im neuen ungewissen Abschnitt meines Lebens endlich wieder suchen wollte. Davor, jetzt im Moment, wartete ich aber irgendwie noch darauf, dass jemand von außen sturmklingelnd vor der Tür stand und mich davon abhielt, das bereits begonnene zu beenden. Sinnloserweise, denn demjenigen Leidgeplagten würde ich dann ohnehin meine Hand auf die Schulter legen und verständnisvoll seinem besorgten Wortschwall zuhören, mit dem er versuchte, mich in letzter Sekunde von einem derart unsinnigen Vorhaben abzuhalten. Um dann gleich meine Hand wieder wegzunehmen, ein paar letzte dramatisch –philosophische Phrasen über neue Horizonte zu hauchen, -die könne man eben nicht aus dem heimischen Küchenfenster erblicken- und anschließend genau diese Handlung zu begehen, der dank berüchtigten Romanen und Filmen der Ruf des Unüberlegten, Ruchlosen, anhaftete. Einfach von heute auf morgen abzuhauen und nicht wiederzukommen.
Auf so symbolhafte und klischeegetränkte Weise, dass es mir fast schon wie ein Witz vorkam, riss ein Windstoß das Fenster auf, wirbelte sämtliche Papiere auf dem Tisch durcheinander und schien auch mich mit nach draußen ziehen zu wollen. Na schön, also deutlicher ging es ja wohl nicht mehr. Die endgültige Erlaubnis hatte ich hiermit von einer externen Naturkraft oder so erhalten –vielen Dank an Was-auch-immer; ich hatte Pantheismus schon immer interessant gefunden. Hiermit war für mich der letzte Anlass gegeben, nicht mehr auf die pragmatische Person X zu warten. Nein, mein altes Leben, meine alte Form musste abgeschüttelt werden, es war unvermeidbar. Lange hatte es sich in mir angebahnt und jetzt, endlich, war an der Zeit, energisch meinen Schlüssel - und die Banane, ganz wichtig- vom Tisch zu nehmen. Den heroischen Schritt nach vorne über die Türschwelle zu wagen. Davor überprüfte ich jedoch ein fünfunddreißigstes Mal Herd und Ofen. Da konnte mein emotionaler Umschwung ach so rebellisch und abtrünnig sein – hartnäckige Angewohnheiten legt man vor allem dann nicht ab, wenn sie besonders spießig sind.
So, jetzt aber stand mir als großer Heldin nichts mehr im Weg. Ohne einen Blick zurück. fast schon hochmütig schritt ich die Straße weiter voran. Rosenstolz tönte immer noch aus dem Radio, ich hatte es nicht abgestellt.
In der U-Bahn, dort werde ich erneut daran erinnert, warum ich diesen Ausbruch bitter nötig habe. Man lässt sich in Ruhe, jeder geschützt durch einen Kokon aus Großstadtdistanz und Gleichgültigkeit. Sie haben denselben unbewegten emotionslosen Gesichtsausdruck, die Menschen hier in der U-Bahn, obwohl sie alle, vereint in einem langen Wagon, ein Stück ihrer einzelnen Wege gemeinsam verbringen. Alte, abgearbeitete Frauen mit vollgestopften Einkaufstaschen zu ihren Füßen, aus denen Lebensmitteldosen an der Seite schon herausquellen. Junge, vielleicht auch bald abgearbeitete Frauen in Kostümen, die mit leerem Blick ihr Spiegelbild in der Fensterscheibe anstarren. Ihr neues Selbst, das sie für das neue Leben in der Großstadt haben anlegen müssen. Hochgesteckte Haare, schlanke übereinandergeschlagene Beine in roten High Heels mit geschmackvoll aufeinander abgestimmten Designerkostümen. Sie zögen auf jeder Party ungeteilt alle Blicke auf sich, leben aber vermutlich nur für ihren Beruf, ihre Position in einem innovativen Start-Up oder einer expandierenden company. Mit Chefs, die genau wissen, dass sie den Fleiß der jungen Neuzugänge, die dank einer exzellenten Ausbildung an exzellenten Hochschulen ein Fang für ihre Firma sind, scheinbar bis ins Unendliche ausreizen können. Gnädigerweise werden sich erst in einigen Jahren die Folgen bemerkbar machen: Dann nämlich haben sich diese einst hübschen jungen Frauen im tiefsten Burnout verfangen und halten den durchschnittlichen Anteil von 50% der Bevölkerungen westlicher Industrienationen, die an psychischen Erkrankungen leiden, weiterhin konstant. Werden aber wohl eher in einer Privatklinik verweilen, bis das Schlimmste vorüber ist, anstatt sich mit herausquellenden Supermarkt-Tüten in die U-Bahn zu begeben.
Ja, das Leben ist hart –vor allem das Großstadtleben, machen wir uns nichts vor -, und zu irgendeinem Zeitpunkt bricht jeder Mensch unter dieser Last einmal zusammen und muss das Menschsein für einige Zeit aufgeben. Das eigentlich in seinem tiefsten Inneren angelegte Streben nach Freude muss er niederlegen, die Suche nach Glück aufgeben. Denn zeitweise macht das Leben jeden verrückt. So verrückt, dass man dann die erlesene Auswahl hat, entweder schreiend draußen herumzulaufen, sich jeden Abend in den Schlaf zu weinen, dreimal die Woche zu einem Psychologen zu rennen oder, im Endstadium der Krise, einfach alle Gefühle abzustellen und der Leere im Inneren, die sich eigentlich schon ganz lange angebahnt hat, endlich die verbindliche Einladung zu erteilen. All diese Phasen hatte auch ich von vorne bis hinten durchlaufen und mich damals schleichend zu einem Wrack verkommen lassen. Ohne Emotion, ohne Appetit, ohne neo-liberale Self-Care-Habits, die nach Strawberry-Cream duften sollen. Man weiß nicht, warum diese Dämonen einfach so vor der Tür stehen, erwartungsvoll, sich behaglich einnisten wollend. Bis man sie wieder verscheuchen kann, ja, bis man überhaupt versteht, dass man sie um jeden Preis zu verscheuchen hat, können quälende Monate vergehen. Jahre, bis man irgendwann an den Punkt der Erkenntnis kommt, dass es diese kichernden gemeinen Dämonen genauso wenig wert sind wie Laura-Isabel von damals, von der man als einzige nicht zum Geburtstag eingeladen wurde. Ich meine, dass erst, wenn man einmal ganz unten am Tiefpunkt angekommen ist – man weinend in seinem Kinderzimmer sitzt, während Gekichere von der supercoolen Gartenparty nach drüben dröhnt -, erst dann die wertvollen Seiten des Lebens erkannt werden können. Dass es auch cool sein kann, mit Nerd-Paul von gegenüber an der Playstation zu zocken.
Beim Anblick des jungen Mannes, der sich auf dem Platz neben mir im Abteil niederließ, trat mir die erste, alles verändernde Begegnung wieder vor Augen. (Nicht die mit Paul, als ich zehn war und mich entschieden hatte, mir von nun an neue Freunde zu suchen.) Mein Gegenüber lächelte mit blitzenden Zähnen, ein spitzbübischer Anflug, der die Züge seiner gerade erst hinter ihm gelassenen Kindheit zum Vorschein kommen ließ. So hatte Jim auch gelächelt. Er stand damals hinter dem Bar-Tresen und schenkte eifrig Aperitifs und Cocktails in geschliffene Gläser, während ich mich über ein selbiges in einer versteckten Nische des Restaurants beugte. Damals hatte ich irgendwohin vor dem strömenden Regen flüchten müssen. Vollkommen durchnässt und unansehnlich war ich eingetreten, hatte wahllos ein Getränk bestellt und möglichst vermeiden wollen, irgendjemanden anzuschauen oder mir ein Gespräch aufhalsen zu lassen, bloß nicht. Nicht gerade von Erfolg gekrönt, denn immer wieder hatte Jim sich mir zugewandt, mir zugeblinzelt und gleichzeitig geschickt eine teure Weinflasche nach der anderen entkorkt. (Was die nachgewiesene eingeschränkte Multi-Tasking-Fähigkeit bei Männern angeht, sind Barkeeper bekanntermaßen eine Ausnahme. Müssen sie ja auch sein). Über die Restauranttische hinweg hatte er mich angeschaut, immer wieder; ich vermute heute manchmal, dass er einfach nur neugierig gewesen war, wer sich da hinten so patschnass und struppig wie ein Hund verkroch. Dann der fehlende Schritt auf mich zu, selbst schuld. Gezwungenermaßen musste ich mich ihm zuwenden, musste mich schließlich darauf einstellen, dass er nach der Rechnung oder so verlangte. Was danach passierte? Nun…der Fantasie sind keine Grenzen gesetzt, oder? Klar ist nur, dass er nicht einfach stupide nach der Rechnung gefragt hatte – und ich das Restaurant um ein hausgemachtes Mango-Holunder-Avocado-Wasser betrogen hatte. Egal, vielleicht würde ja Laura-Isabel dafür aufkommen. Alles, was man dem anderen antut, kommt schließlich irgendwann selbst zu einem zurück. Mantra und so. Zugegebenermaßen ist mir alles, was mit Mantra und diversen Leben danach zu tun hat, nicht geheuer. (Wer will schon als Kuh wiedergeboren werden? Und wenn es ganz blöd läuft, endet man im 7. Leben nur noch als niederer Grashalm). Allerdings hege ich die Hoffnung, dass es als Pluspunkt angerechnet wird, wenn man vermeintlich unwichtigen Begegnungen im Leben wenigstens einmal seine Aufmerksamkeit schenkt. Flüchtigkeitsbegegnungen, die einen auf der Durchreise, im schnellen Strom des Lebens streifen. Denn ich habe es getan, mich einmal darauf eingelassen und gemerkt, wie sehr ich etwas von mir selber wiedergefunden habe, auf das wahrscheinlich keiner mehr zu hoffen gewagt hatte. Wo Psychologen, Ärzte, Heilpraktiker, Life-Coaches sich seit Jahren an mir abmühten, hatte Jim unwissend eine Meisterleistung vollbracht: Mich den Entschluss fassen zu lassen, den Dämonen kein Gehör mehr zu verschaffen. (Wie damals bei den Zicken aus der 4A, nur dass meine Dämonen später noch ein bisschen… nun ja, schwieriger bekämpfbar wurden). Sogar Appetit hatte ich wieder bekommen, und zwar auf meinen eigenen Kuchen, viel leckerer als eine blöde rosafarbene Prinzessinnen-Torte.
Dem jungen Mann gegenüber mit Kindergesicht – doch ein bisschen wie Paul - lächelte ich zum Abschied zu. Ich lernte gerade wieder zu lächeln. Ich lernte, was es bedeutete, am Leben zu sein, welch wahnsinnige Chance man verpassen würde, wäre man es nicht. Jetzt musste ich nur noch das nächste Ziel meiner angebrochenen Reise erreichen; wie eine angebrochene Tafel Schokolade, die mir bereits einen Vorgeschmack gegeben hatte (Wie bereits erwähnt, mein Appetit war wieder da). Vielleicht, hoffentlich den Menschen wieder treffen, der mich so verändert hatte. Dann konnte ich mein Wunder tatsächlich erleben und mir endlich wieder eine wahre Überdosis Glück versetzen.
Franziska Sittig, 19 Jahre
 



 
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