Heinrich VII
Mitglied
Teil 1
Mein Name ist Karl-Heinz, aber alle nennen mich Charlie - Charlie Semmel, wenn man den Nachnamen dazusetzt. Ich bin jetzt 56 Jahre alt, einsachtundsiebzig groß, siebzig Kilo, Schuhgröße 41. Am wichtigsten zu wissen: Mein Aktenzeichen lautet 4100.0121 36. Meistens habe ich mit Frau Frühstück zu tun (sie heißt wirklich so), meiner Sachbearbeiterin.
Neulich sagte sie zu mir - sie muss mich ja hin und wieder zu sich bestellen, um den aktuellen Status von Person zu Person zu erkunden – dass sie mich in Arbeit bringen und mir da raushelfen wolle. Ich antwortete begeistert: „Ja!“ und fragte mich insgeheim, ob sie zaubern könne. Manchmal schickt man Arbeitslose zur Probe zu einem Betrieb, der eine Festeinstellung in Aussicht stellt. Nach der Probezeit wird man gefeuert und die Firma holt sich den nächsten, der wieder nichts kostet. Eine Festanstellung gibt es nicht. Das Arbeitsamt weiß davon, verehrt die Unternehmer aber wie heilige Kühe und tut nichts. Am schlimmsten sind die Eineurojobs: moderne Aufmachung des guten, alten Arbeitsdienstes, ohne Lohn. Oder die Leiharbeitsfirmen, die gern ein Drittel deines Lohnes einbehalten. Landet man dort, rennt man weiter zum Amt, um Aufstockung zu beantragen.
Wenn die Politiker im TV vermelden, sie hätten in ihrer Amtszeit hunderttausende Menschen in Arbeit gebracht, muss ich lachen. In was für Arbeit? - danach fragt keiner. Öffentlich tut man so, als seien Arbeitslose faule Hunde, die nicht mit anpacken wollen. Neuerdings kommen Vorschläge, ihnen das Geld für Alkohol und Tabak zu streichen, damit sie angeblich nüchterner werden, sich waschen, sauber anziehen und Bewerbungen schreiben – für Jobs, die nicht existieren.
Ich will von vorne anfangen; mit dem Tag meiner Kündigung. Das Schreiben habe ich noch: Sehr geehrter Herr Semmel! Auf Grund der schlechten Auftragslage
im Speditionswesen, sowie dem daraus entstandenen Arbeitsmangel, ist es mir nicht möglich, Sie weiterhin bei mir zu beschäftigen. Die Kündigung tritt zum 15.3.2003 in Kraft.
Für Ihren weiteren Berufs- und Lebensweg wünsche ich Ihnen alles Gute.
Als ich das meiner Freundin zeigte, sie arbeitet ganztags als Haushaltshilfe, wir teilen uns Miete und Nebenkosten einer Dreizimmerwohnung – sah sie mich entgeistert an. „Ich finde wieder eine Arbeit“, versprach ich leichtsinnigerweise.
Sie sah mich an, als wüsste sie etwas, das ich nicht wusste, und verzog das Gesicht.
Am nächsten Tag kaufte ich eine Zeitung, markierte passende Stellen und wählte zuerst die Angebote mit Telefonnummern aus. Viele wollen als erstes das Alter wissen. Ich war 49 damals und begriff noch nicht, wie sehr das einen für eine Stelle disqualifizieren konnte. Kurz gesagt: Ich bekam nirgends eine Zusage, weder an dem Tag noch an einem anderen. Einer brachte es auf den Punkt: „Wir wollen ein junges Team haben.“ Ich war sprachlos, aber so langsam dämmerte mir einiges.
Schließlich ging ich zum Arbeitsamt. Dort lerne ich die „Amsel“ kennen, so nannte ich sie. Frau Amselfeld, eine etwas dickliche, ältere Frau, die immer explizit schlechter Laune zu sein schien. An uns Arbeitslosen konnte sie diese Laune ungestraft auslassen; alphabetisch wollte es der Zufall, dass sie für mich zuständig war. Zuvor saß ich in einem dieser langen Gänge zwischen gefühlt fünfhundert anderen, zog eine Nummer und wartete. Ding-Dong, eine Zahl leuchtete auf, und der Nächste durfte in eines der Zimmerchen. „Hurra, nur noch 499 vor mir.“
In der Zwischenzeit starrte man auf kahle, graue Wände, die in ein trübes Tageslicht getaucht waren. Reden mit anderen war selten; jeder trug sein Päckchen für sich und blieb stumm. Überall lagen Prospekte herum mit dem Titel „Das Arbeitsamt informiert“. Sie taten so, als ginge es lediglich um die Vermittlung einer Stelle und das Arbeitsamt wäre der kompetente Partner. Ich nahm später stets ein Buch mit, um nicht in Versuchung zu geraten, eine dieser Broschüren anzufassen.
Je länger ich dort gemeldet war, desto mehr wirkte alles wie Augenwischerei. Es erinnerte mich an George Orwells Roman 1984, in dem der Protagonist Winston Smith Tabellen erstellt, von Waren, die nicht existierten. Den Arbeitslosen unterstellt man Faulheit, gegenüber einer Arbeit, die es nicht gibt. „Fördern und fordern“ - ein Slogan, der jedem Pissoir als Klospruch guttun würde. Bei diesem Spiel verdienen nur die schlechtgelaunten Beamten ein ordentliches Monatsgehalt. Die Arbeitslosen bleiben auf der Strecke. Sie werden verwaltet und gegängelt. Der Behörde kann das egal sein, das Steuergeld für ihre Löhne ist ihnen sicher.
Als ich schließlich dran war, reichte ich meinen Antrag auf Arbeitslosengeld ein. Die Amsel riss ihn mir aus den Händen und überflog ihn.
„Sie waren Spediteur?“, fragte sie.
Ich nickte und fast wäre mir „Steht doch alles da drin!“ heraus gerutscht.
Sie sah mich über den Rand ihrer Brille an. „Und da finden Sie nichts? Speditionen gibt´s doch wie Sand am Meer!“
Ich nickte und erwiderte: „Stimmt, aber offenbar keine, die jemand in meinem Alter haben will.“
Sie sah mich abschätzend an: „Aber Sie sind verpflichtet, weiterzusuchen, auch in anderen Branchen.“
„Aber selbstverständlich!“, sagte ich, und verbarg, dass ich kaum noch daran glaubte, wirklich eine Arbeit zu finden - in welchem Gewerbe auch immer.
Sie wies mich darauf hin, dass das Arbeitslosengeld, falls mir welches zustehe, nur als Überbrückung diene; es dürfe keinesfalls Dauerzustand werden.
Teil 2
Am gleichen Abend saßen Jutta und ich im Wohnzimmer und aßen die Lasagne, die ich eingekauft und selbst zubereitet hatte.
„Und wenn du tatsächlich nichts mehr findest, was machen wir dann?“, fragte sie.
Ich zuckte mit den Schultern.
„Kann man von diesem Arbeitslosengeld überhaupt existieren?“
Ich wusste es nicht. „Bis man Bescheid bekommt, dauert es erst mal sechs Wochen“, antwortete ich.
Am schlimmsten war, dass ich bei der Bank einen größeren Kredit laufen hatte. Wir hatten gerade neue Möbel gekauft, ich hatte mit meiner Band eine CD aufgenommen und mir ein neues Motorrad geleistet - ohne zu ahnen, dass ich bald meinen Job verlieren würde. Jetzt war alles zusammen gekommen, der Teufel hing an der Wand, und mir wurde ganz eng zumute.
Die Möbel konnten wir nicht verkaufen, das Geld für die CD war auch verloren – aber das Motorrad, das konnte und musste weg. Schon der Gedanke daran, stach mich wie ein Messer; ich spürte die Schmerzen noch lange. Seit ich 16 war fuhr ich Zweiräder: erst ein Moped, mit achtzehn das erste Motorrad, dann weitere Maschinen und schließlich diese 1000er Kawasaki, von der hier die Rede war. Jutta arbeitete, wie gesagt, ganztags als Haushaltshilfe. Sie verdiente gut, aber nicht so viel, dass sie uns beide auf Dauer durchbringen konnte – und das wollte ich auch nicht. Sie legte regelmäßig Geld auf ein Sparkonto; aber das war ihr Geld. Ich hatte nichts: kein Sparkonto, keinen Bausparvertrag, nur ein ordentliches Minus. Negativermögen nannte ich das damals scherzhaft.
Jutta war zu der Zeit neununddreißig, zehn Jahre jünger als ich. Sie war einen Kopf kleiner, mit langen brünetten Haaren und einem Stupsnasengesicht. Am liebsten sah ich sie in Stiefeln und halblangem Rock. Vom Wesen her war sie meistens ausgeglichen; wenn ihr aber etwas gegen den Strich ging – zum Beispiel meine Arbeitlosigkeit - , konnte sie durchaus anders werden. Wir waren seit drei Jahren zusammen, und ich hatte vor, mit ihr für immer zusammenzubleiben. Wir lernten uns in einer Eisdiele kennen. Sie saß alleine, lutschte an einer Schokokugel, und ich saß am Nachbartisch, beobachtete sie und lächelte, als sie aufsah. Schließlich fasste ich Mut, setzte mich zu ihr und wir redeten.
Wir besaßen ein Auto, auf uns beide zugelassen. Zur Arbeit fuhr ich, wann immer es ging, mit der Kawa, sie nahm das Auto. Nun sah es so aus, als könnte ich meinen Anteil für Sprit, Steuer, Versicherung und Reparaturen nicht mehr aufbringen. Das Motorrad musste weg. Mein weiteres Pech war, dass mein Gehalt in der Spedition nur aus einem geringen Grundlohn bestand, der Rest waren Leistungsprämien. Diese Prämien zählten nicht zur Bemessungsgrundlage für das Arbeitslosengeld. Und das Wenige, das ich voraussichtlich bekommen würde, wurde durch die Bankrate noch weiter gemindert. Ich wagte gar nicht auszurechnen, was am Ende übrigblieb.
Die sechs Wochen bis zur Bewilligung verbrachte ich, entgegen aller schlechten Prognosen, weiter mit Bewerbungen und Telefonaten. Selten hörte man ein „Ja“. Wenn doch, brachte es meist nichts. Eine Autovermietung lud mich zu einem Vorstellungsgespräch ein. Zuerst fühlte ich mich wie an Weihnachten und Ostern zusammen, dann stellte sich heraus, dass sie fünf Euro brutto die Stunde zahlen wollten. Wie sollte man davon leben? Man müsste alles bei Aldi kaufen können: Billiges Essen gab es ja schon – was fehlte waren Telefon, Heizung, Strom und Wohnung mit Power-Flatrate. Vielleicht würde Aldi bald Autos verkaufen: Den Aldi Fünfhundert, wartungsfrei, ein Liter Sprit auf hundert Kilometer, Reparaturen gratis.
Ich bewarb mich als Automatenaufsteller, als Arbeitshilfe in einer katholischen Pfarrei, rief unzählige Firmen mit Stellen im Lager an, meldete mich beim Hausmeister-Service, bewarb mich als Fahrer bei einer Firma, die Sicherungsdateien einlagerte. Als Gärtner, Putzmann, Tellerwäscher - und vielleicht demnächst als Leichenwäscher. Auf jede Stelle bewarben sich Hunderte; wer über vierzig war, dessen Bewerbung wanderte schnell in den Papierkorb.
An ein Gespräch erinnerte ich mich noch: Es ging um eine Lagerstelle. Jemand hatte ein gutes Wort für mich eingelegt, so dass ich den Chef persönlich erreichen konnte. Ich musste in jener Woche zum dritten Mal anrufen.
„Ja, guten Tag, hier ist Karl-Heinz Semmel noch mal!“
„Semmel?“
„Ja, Sie wollten mir doch Bescheid geben, ob es mit der Stelle klappt. Der Herr Reinhard hat mich empfohlen – er ist ein Schwager, den sie als Lieferanten kennen.“
Ein Moment war Stille, ich hörte nur, wie der Chef atmete.
„Da müsste ich mal mit dem Vorarbeiter sprechen, ob wir jemanden brauchen.“
„Aber Sie wollten doch schon nach unserem ersten Telefonat nachfragen.“
Der Chef seufzte. „Stimmt, Sie haben schon mal angerufen. Tut mir leid, habe im Moment einfach zu viel um die Ohren.“
„Aber ich rufe jetzt schon zum dritten Mal an.“
Er ließ wieder eine Pause, dann fragte er: „Wie alt sind Sie noch mal?“
Bei dieser Frage bekam ich Pickel im Gesicht.
„Bin gerade hundertzwanzig geworden“, antwortete ich, „aber immer noch rüstig.“
Mein Gegenüber holte hörbar Luft. Ich ließ es nicht zu einer Antwort kommen und legte wortlos auf.
Teil 3
Der Tag X war gekommen. Ich hatte die Maschine schon ein paar Mal in der Zeitung angeboten, und jetzt hatte sich jemand gemeldet.
Er fuhr mit dem Bus vor, stieg aus, sah sich das Motorrad an und sagte: „Viertausend - und ich nehm´ sie gleich mit.“
Ich schüttle den Kopf. Vor zwei Jahren hatte ich sieben dafür bezahlt. Die Maschine war äußerlich in einwandfreiem Zustand, und wurde regelmäßig in der Werkstatt gewartet. „Fünfeinhalb! Keinen Heller weniger“, beharrte ich.
Er blickte mich an; ich merkte, wie er fieberhaft überlegte.
„Viereinhalb, mein letztes Wort!“
Ich schüttelte erneut den Kopf.
Später schob er die Maschine zum Bus und stellte sie davor ab. Er öffnete die hinteren Türen, legte eine Schiene an und wir luden die Kawa gemeinsam hinein. Ich sah zu, wie er sie mit einem dicken Seil an der Bordwand befestigte. Mein Herz fühlte sich an, als stecke es in der Unterhose; es rutschte weiter bis zu meinen Fußknöcheln. Der Typ schloss die Türen und gab mir zum Abschied die Hand. Am Ende hatten wir uns auf Vier-Acht geeinigt; er zählte mir das Geld sofort bar auf die Hand. Ich blieb auf der Straße stehen, sah dem Bus nach, bis er um die Ecke bog, wischte mir eine Träne aus dem Gesicht und ging hoch in meine Wohnung.
Eines Morgens trudelte der Bewilligungsbescheid vom Arbeitsamt ein. Auf der Treppe schon, riss ich den Brief auf und starrte auf die Zahl. „Mein Gott!“, sagte ich laut und setzte mich dann erst einmal im Wohnzimmer hin, um den Bescheid noch einmal zu lesen. Wenn ich das Jutta zeige, flippt sie völlig aus. Auf der anderen Seite hatte ich durch den Motorradverkauf jetzt etwas Kohle und sollte sie möglichst gewinnbringend investieren. Aber in was?
Mir fiel eine Bekannte ein, die selbständig allerlei Sachen verkaufte. Früher hatte ich sie manchmal an den Wochenenden auf Flohmärkte begleitet - aus Spaß, weil mir das Verkaufen alter Dinge gefiel. Vielleicht wäre jetzt ein guter Zeitpunkt, sie wieder aufzusuchen und die Sache ins Rollen zu bringen.
Zwei Tage später zeigte sie mir stolz ihre Garage. „Ich mache nur noch selten Flohmärkte“, erklärte sie. „Hab mich auf Haushaltsgeräte spezialisiert. Waschmaschinen, Herde, Kühlschränke, Küchenschränke. Das läuft immer und bringt gutes Geld.“
Ich nickte und ging an einer Reihe blitzblank geputzter, funktionstüchtig wirkender Geräte vorbei. Hinten in der Ecke stand ein teils zerlegter Küchenschrank, an dem sie offenbar gerade arbeitete. Die eine Hälfte lag auseinander gebaut auf dem Boden, daneben Putzzeug, Lackdosen, Pinsel und verschiedene Schraubenschlüssel.
Sie sah mich an: „Willst du was kaufen?“
Ich schüttelte den Kopf.
„Und was führt dich zu mir? Hast dich ja schon ne Weile nicht mehr blicken lassen.“
Ich nickte und sagte: „Ich suche einen Nebenverdienst.“
Sie sah mich erstaunt an: „Wie, nichts mehr mit Spedition?“
Ich verneinte und erzählte ihr, dass man mich wegen Arbeitsmangel entlassen hatte, dass ich Stütze beantragt habe
und mich regelmäßig bewerbe, aber vergeblich.
„Ah verstehe! Und jetzt willst du bei mir einsteigen?“
„Würde das denn gehen?“
Sie legte die Stirn in Falten und schüttelte bedauernd den Kopf.
„Das hier ist nicht so einfach, wie es aussieht. Und es wirft nicht genug ab, dass zwei davon leben könnten.“
„Muss nicht“, antwortete ich, „ich krieg ja noch Stütze – soll wirklich nur ein Nebenverdienst sein. Du könntest mich anlernen, ich bin fix im Kapieren.“
Sie gab mir keine endgültige Antwort, auch dann nicht, als ich ihr das Geld in Aussicht stellte, das ich investieren könnte: zweitausend Euro.
Abends geriet ich mit Jutta in Streit, als sie von der Arbeit heimkam.
Zu meiner neuesten Idee sagte sie: „Fang doch nicht mit so was an, davon kann man doch nicht leben.“
„Wieso nicht?“, entgegnete ich. „Zusammen mit der Stütze reicht es.“
Sie sah mich stirnrunzelnd an: „Das musst du dem Arbeitsamt melden, dann ziehen sie dir so und so viel ab.“
Da war zweifellos etwas dran. Andererseits ging es um meine Existenz, und das Amt musste ja nicht alles wissen.
In der gleichen Woche fuhr ich zur Bank. Sie hatten mir geschrieben, mein Konto sei weit überzogen - als ob ich das nicht wüsste - und angesichts meiner Arbeitslosigkeit könne man das nicht dulden. Nicht zuletzt, weil Arbeitslosengeld nicht pfändbar sei. Der zuständige Sachbearbeiter führte mich in ein Hinterzimmer, setzte sich und zog ein vorbereitetes schriftliches Angebot aus der Schublade. „Am besten legen wir die alten Kreditschulden und die Girokonto-Schulden zusammen“, schlug er vor. Auf den ersten Blick klang das vernünftig. „Dazu müssen wir den alten Kreditvertrag auflösen und einen neuen aufsetzen.“ Er legte ein Blanko-Formular vor mich hin.
„Lesen Sie sich das Angebot durch, dann können wir alles gleich erledigen.“
Ich studierte die Zahlen und die Endsumme, die sich aus dem neuen Vertrag ergeben sollte. Mir wurde ein wenig flau. Der Sachbearbeiter spannte bereits das Formular in die Schreibmaschine, während ich noch rechnete. Sein Bauernfängergrinsen entging mir nicht.
„Kann man das Geld vom überzogenen Konto nicht einfach dem alten Kredit zurechnen?“, fragte ich.
Er sah mich unverständlich an. „Das geht natürlich nicht!“
Ich wollte Zeit gewinnen und zog das Lesen künstlich in die Länge. Die Zahlen, die über mein künftiges Schicksal entschieden, konnte ich nur vage im Kopf überschlagen. Nach einer Weile sagte ich: „Ich nehme das mit nach Hause und lese es in Ruhe.“
Er sah mich an, als hätte ich in der Kirche das Kreuz heruntergerissen. Widerwillig zog er das Formular aus der Maschine.
„Wie Sie wollen, Herr Semmel. Aber zögern Sie nicht zu lange, die Sache duldet keinen Aufschub.“
Ich steckte das Angebot in die Jackentasche, gab ihm die Hand und versprach, mich zu melden.
Zuhause ließ ich den Taschenrechner glühen und stellte fest, dass ich tief in die Tasche greifen müsste, um diesen neuen Deal zu stemmen. Die Zinsen des alten Kredits – mit einer Laufzeit von fünf Jahren - sollte ich fast in voller Höhe abdrücken, obwohl der Vertrag erst zwei Jahre lief. Hinzu kam eine nicht geringe Bearbeitungsprovision und die Zinsen für den neuen Vertrag, der über sieben Jahre laufen sollte. Langsam wurde mir klar: Die Bank verdiente am alten Kredit nahezu das volle Geld, obwohl sie das Darlehen nicht einmal halb so lange gewährt hatte, wie vertraglich vorgesehen. „Tsweinebande!“, hätte ein Onkel von mir gesagt, der ein wenig lispelte. Das merkwürdige Grinsen des Sachbearbeiters konnte ich mir jetzt erklären.
Am nächsten Tag erst rief ich bei der Bank an und verlangte den Sachbearbeiter. Hätte ich am Tag zuvor gleich angerufen, als die volle Wut noch in mir steckte, hätte man mir vermutlich wegen unflätigen Ausdrücken und zu hoher Lautstärke Hausverbot erteilt.
„Aber Herr Semmel...“, begann er am Telefon. „Wie soll das denn werden mit ihren Bankschulden? Wir können ja nicht einmal mehr ihre Daueraufträge erledigen.“
Meine Hand krampfte sich fester um den Hörer.
„Hören Sie“, erwidere ich, „wenn Miete, Strom und Telefon nicht mehr überwiesen werden, lande ich auf der Straße. Und die Rückzahlung der Kreditschulden können Sie dann getrost in den Kamin schreiben.“ Er sog merklich die Luft ein, das war zu hören.
„So schnell geht das nicht mit der Straße. Sie zahlen weiter regelmäßig Ihre Kreditrate und versuchen nach und nach ihr Girokonto auszugleichen. Können wir uns darauf einigen?“
„Können wir“, antwortete ich und wischte mir den Schweiß von der Stirn. Vom Geld für das Motorrad erwähnte ich nichts.
Das kam auf kein Konto; das brauchte ich und wollte es nicht in einem Fass ohne Boden versacken lassen.
Teil 4
„Wir fahren zuerst in die Lenaustraße“, sagte Hannelore. Ich nickte und bog nach rechts ab. Wir waren mit ihrem Bus unterwegs, ich fuhr. Hanne saß neben mir und hatte die Seite einer Kleinanzeigen-Zeitung aufgeschlagen, mehrere Anzeigen waren angekreuzt. Die Zeitung hatte sie schon um halb fünf an einer Tankstelle in der Nähe ihrer Wohnung gekauft. Wir mussten sogar noch zehn Minuten auf den Fahrer warten, der sie auslieferte. Jetzt war es kurz nach sieben. Hanne hat ab sechs bereits Leute angerufen, die kostenlose Haushaltsgeräte und Küchen abzugeben hatten. „Manche werden stinkig“, erzählte sie mir zwischen zwei Telefonaten. „Mosern einen an; von wegen, ob man eigentlich wisse, wie viel Uhr es sei.“
An diesem Tag geriet sie jedoch nur an Frühaufsteher. „Man muss die Leute erwischen“, erklärte sie, „bevor sie zur Arbeit gehen.
Ruft man später an, sind die kostenlosen Sachen sämtlich weg.“
Sie faltete die Zeitung zusammen und legte sie vorne auf die Konsole. Dann holte sie Tabak und Papers aus der Jackentasche und drehte sich eine.
„Willste auch?“ Ich verneinte; das Rauchen hatte ich mir abgewöhnt, von einem gelegentlichen Joint einmal abgesehen.
„Mach das Seitenfenster auf“, bat ich sie und sie tat es.
Ich fragte: „Was haben wir denn in der Lenaustraße?“
„Einbauküche! Fünf Jahre alt, aber noch gut in Schuss, wie der Mann am Telefon meinte.“
„Prima!“, jubelte ich.
Hanne zog an der Zigarette und sah mich von der Seite an. „Abwarten, mein Lieber! Manche wollen nur ihren Mist entsorgen.“
Ich nickte und schwieg. In diesem Job war ich der Lehrling, und außerdem war ich heilfroh, dass Hanne es sich anders überlegt und mich angerufen hatte. „Wir probieren es einfach mal“, sagte sie. „Aber freu dich nicht zu früh – wenn die Sache nicht genug abwirft, mach ich das wieder alleine.“
In der Lenaustraße gab es weit und breit keinen Parkplatz, so dass ich in zweiter Reihe stehen blieb. Wir stiegen aus und klingelten. Es dauerte eine Weile, bis der Summer endlich ging – vermutlich war der Typ gerade beim Zähneputzen oder Rasieren. Wir drückten die Tür auf und liefen hoch in den zweiten Stock. Altbau. Es würde nicht einfach sein, die Küche da runter zu bugsieren, überlegte ich. Hanne klingelte oben an der Wohnungstür und ein Mann öffnete, zwar schon in Hosen, ansonsten aber noch im Unterhemd. Mit einem Handtuch wischte er sich den restlichen Rasierschaum ab und sagte: „Kommen Sie rein, ist noch alles aufgebaut.“
Er lief voraus in die Küche, wir folgten. Auf den ersten Blick sah die Sache - für mich jedenfalls - gut aus. Hanne öffnete als erstes die Tür unter der Spüle und prüfte innen die Wände. Billiges Press-Spahn, wie ich später von ihr erfuhr, und aufgequollen. Die Scharniere der Schranktüren waren ausgeleiert. Eine Tür vom Oberschrank fiel regelrecht herunter, als Hanne sie öffnete. Der Lack insgesamt war schon ein gutes Stück von taufrisch entfernt; so etwas verkaufte sich nicht. Auf der Arbeitsplatte waren deutliche Risse und Abschürfungen zu sehen. Der Mann wirkte einigermaßen konsterniert, als Hanne sagte: „Ne, tut mir leid, nicht das, was ich suche.“
„Aber sie ist doch umsonst“, entrüstete er sich, „wer wird denn da noch Ansprüche stellen?“
„Tut mir leid!“, entgegnet Hanne.
Wir waren bereits auf dem Weg zur Tür.
Unten stand eine Politesse neben unserem Bus und hatte ein digitales Eingabegerät in der Hand.
„Wir fahren sofort weg!“, rief ich ihr von weitem zu. Sie sah sich gerade unser Nummernschild an.
Ich lächelte sie freundlich an, als wir bei ihr waren. „Gleich haben wir uns in Luft aufgelöst“, sagte ich, „als wären wir nie da gewesen.“
Sie musterte mich mit Stoneface – dann huschte doch die Andeutung eines Lächelns über ihr Gesicht. Schließlich machte sie eine Handbewegung,
dass wir verschwinden sollten.
In der Schmidtstraße sahen wir uns einen Herd an, der ebenfalls kostenlos war. Hanne befand ihn für gut und ich lief eilig runter zum Bus, um die Sackkarre zu holen. Wir bedanken uns, brachten ihn auf die Schippe und hinaus auf den Gang. Dann holperten wir damit über die Stufen. „Langsam!“, gab Hanne Anweisung. Sie lief vor mir her und hielt das Gerät fest, damit es nicht überkippte. Unten stellten wir das Ding genau vor dem Bus ab. Hanne legte eine Decke auf die Ladepritsche, wir hoben zu zweit hoch, kippten und schoben den Herd hinein. Dann kamen die Türen hinten zu und wir fuhren weiter.
Eine Gefrierkombi holten wir noch ab, die auch in Ordnung war. Die musste aber aufrecht transportiert werden, wegen der Kühlflüssigkeit. Hanne zurrte sie mit einer Kordel an der Seitenwand fest. Dann fuhren wir in die Hafenstraße, um eine weitere Küche anzusehen. Sie war nicht kostenlos, sollte dreihundert kosten. Hanne befand sie für gut, nur der Preis gefiel ihr nicht. Eine Weile ging es zu wie auf einem Basar, als sie mit der Frau verhandelte. Dann kostete die Küche plötzlich nur noch zweihundert. Ich bezahlte von meinem Geld; ich hatte ja zugesagt, mit zweitausend einzusteigen.
Wir bauten sie an Ort und Stelle auseinander - wobei Hanne mir zeigte, wie man das am schnellsten und effektivsten machte. Zuerst wurden die Herdplatte und das Spülbecken abmontiert, dann die gesamte Arbeitsplatte. Schließlich kam der Herd heraus und der Dunstabzug wurde demontiert. Danach hängten wir die Oberschränke ab und schraubten sie auseinander, dann die Unterschränke. Die leichten Teile trugen wir per Hand nach unten; die schweren Sachen kamen auf die Sackkarre. Bis alles soweit war, verging eine gute Stunde.
Hanne saß wieder auf dem Beifahrersitz, als wir zurückfuhren. Sie hatte einen zufriedenen Gesichtsausdruck und drehte sich eine Zigarette. Dann zündete sie den Klimm-Stängel an und nahm einen tiefen ersten Zug. Sie machte das Seitenfenster auf und sagte: „Nicht schlecht, die Ausbeute.“
Ich nickte; auch ich war richtig froh. Vielleicht ein gutes Omen, wenn der erste Tag so lief - ein positiv in die Zukunft weisendes Zeichen. Ich hatte schon halb vergessen, dass ich arbeitslos war.
Wir fuhren direkt zu Hannes Garage und luden den Bus aus, der ordentlich voll geworden war. Nacheinander brachten wir die Geräte und Küchenschrankteile in den hintersten Winkel. Im vorderen Teil standen die verkaufsfertigen Stücke unter Neonlicht. Hinten konnte man einen Vorhang vorziehen, so dass die Werkstatt vor der Kundschaft verborgen blieb. Als wir fertig waren, war es schon etwas nach zwölf.
„Lass uns ne Pizza einfahren“, sagt Hanne. „Und danach fangen wir mit der Arbeit an.“
Ich war einverstanden. Die Pizzeria war nur einen Katzensprung entfernt. Die Pizza war ordentlich, wir tranken beide ein Bier dazu. Hanne rauchte in aller Ruhe noch eine Selbstgedrehte und erklärte dann mit einem Mal: „Pause beendet!“
Wir bezahlten, gingen zurück und stürzten uns kopfüber in die Arbeit. Zuerst bekam ich eine Einweisung, wie man richtig putzt. Erst einweichen mit Schwamm und warmem Putzwasser, in das sie Essigreiniger getan hatte. Dann ein zweiter Durchgang - die hartnäckigen Stellen bearbeitet man mit Ako-Pads und einem Schaber. Für die Chromteile hatte sie ein spezielles Mittel. Der Herd musste innen mit Backofenspray gereinigt werden, und der Kühlschrank wurde innen und außen vollständig gereinigt.
Abends erzählte ich Jutta ganz stolz von meinem ersten Tag.
Wir aßen Kartoffelsalat, Wiener Würstchen mit Senf und Brot und tranken Bier dazu.
„Was sagen die beim Arbeitsamt eigentlich?“, wollte sie wissen. „Haben die keine Arbeit für dich?“
Ich zuckte mit den Schultern. „Was sollen die schon haben und sagen?“
Auf Bewerbungen hatte ich kaum noch Lust; die Reaktionen kannte ich in- und auswendig.
Man kam sich nur blöd vor, fast fünfzig und nach deren Einschätzung zu alt.
„Willst du dich in dieser Übergangssituation einrichten?“, fragt Jutta und seufzte. „Wir können uns doch nichts mehr leisten, auf so einem Niveau.
Kein neues Auto mehr, das Motorrad ist bereits weg und den jährlichen Sommerurlaub können wir uns auch abschminken.“
Halb entrüstet sah sie mich an: „Darfst du überhaupt Urlaub machen, wenn du beim Arbeitsamt gemeldet bist?“
Ich maß sie mit einem Humphrey Bogart-Blick und erwiderte: „Jetzt leg´ mal ne Pause ein, Mädchen. Klar, darf ich das.
Außerdem hab´ ich noch die Kohle vom Motorradverkauf, das reicht doch für Urlaub.“
„Wird vermutlich unser letzter sein“, sagte sie.
Ich antwortete nicht und machte mir eine weitere Flasche Bier auf. Mein Gott, dachte ich und nippte daran. Geradewegs in die schlimmste Falle getappt, die einem diese Gesellschaft stellen konnte. Mit fast fünfzig den Job verlieren, das kommt einem Exitus gleich. Man findet nichts mehr, wird ins Räderwerk der staatlichen Verwaltungen eingesaugt und dreht sich sinnlos im Kreis. Ich verwarf den Gedanken. Immerhin konnte ich mit Hanne etwas dazuverdienen. Und ich hatte noch etwas Geld auf der Kante vom Motorradverkauf. Ganz so schwarz sah der Himmel nicht aus, obwohl dunkle Wolken aufgezogen waren. Wie lange das mit Jutta noch gut gehen würde - darüber wollte ich an diesem Abend lieber nicht nachdenken.
Teil 5
Es gab da einen Laden etwas außerhalb, in dem noch die alten Sachen gespielt wurden: Ten Years After, The Who, Santana, Rory Gallagher, Jimi Hendrix, die Stones und ähnliches. Der Wirt war selbst ein Freak und noch ein Stück älter als wir. Die Haare trug er immer noch über die Schultern, hatte einen beeindruckenden Bart, und ein deutlicher Bierbauch spannte sein Hemd. Er fuhr eine Harley und stand meist im Hemd mit aufgekrempelten Ärmeln und einer Lederweste hinterm Tresen.
„Hallo Charlie. Hallo Reiner“, begrüßte er uns.
„Hallo Wolfgang“, antworteten wir wie aus einem Mund.
„Bierchen?“
Wir nicken und setzen uns vor ihm an die Theke. Wolfgang besaß eine riesige Plattensammlung. Zehntausend Stück alleine hier im Thekenraum, die ganze Wand hinter ihm, hoch bis zur Decke mit Regalen voller Vinyl; und in seiner Wohnung sollten noch mehr stehen. CDs mochte er nicht; diese kleinen Silberlinge, wie er sie nannte, würde er niemals auflegen. Im Moment lief gerade Frank Zappa - die dritte Seite von Roxy & Elsewhere. Er zapfte uns zwei Bier, legte Bierdeckel auf den Tresen und stellte die Gläser darauf. Wir dankten mit knappem Nicken und hatten die Gläser sofort am Mund. Samstage sind zum Saufen da - das war früher, als es hier drin noch ziemlich wild zuging, ein geflügeltes Wort. Heute war es gemäßigter, aber noch immer sehr erträglich. Rap, Techno oder Pop spielte hier niemand. Entsprechend war das Publikum in unserem Alter; es kamen aber auch jüngere Leute, die der Atmosphäre etwas abgewinnen konnten.
Ich erzählte meinem Freund Reiner von meinem Job bei Hanne und von einer erfolgreich abgeschlossenen Arbeitswoche.
Er wollte wissen – wie fast jeder mit dem ich sprach, ob ich nicht wieder auf dem richtigen Arbeitsmarkt Fuß fassen wolle.
„Der richtige Arbeitsmarkt? Was soll das sein?“
Reiner sah mich verdutzt an: „Na, so ne richtige Arbeit, da draußen in der Welt.“
Er deutet mit ausgestrecktem Zeigefinger zur Tür.
„So mit morgens früh aufstehen und bis abends schuften, in ´ner offiziellen Firma, mit ´nem Chef und Mitarbeitern und ´ner Lohntüte am Monatsende?“
Ich trank einen Schluck, wischte mir den Schaum vom Mund und fügte hinzu: „Meinst du so etwas?“
Reiner nickte und sah mich an. „Ja, genau.“
„Weißt du, was ich langsam glaube?“, erwiderte ich.
Er schüttelte den Kopf.
„Dass es so eine Arbeit für mich nicht mehr geben wird. Mein Haltbarkeitsdatum ist überschritten - ich bin verdorben für diesen Markt.“
Reiner machte ein obszönes Geräusch mit dem Mund: „Blödsinn!“
Vielleicht sollte ich erwähnen, dass er zehn Jahre jünger war als ich, so wie Jutta, und mit dieser Frage noch nicht konfrontiert. Aber auch ihn konnte es treffen. Und wenn er seinen Job im entscheidenden Moment nicht halten konnte, drohte ihm die gleiche Falle: Erst ein bis zwei Jahre Arbeitslosengeld, dann Harz IV - eine direkte Fahrkarte aufs gesellschaftliche Abstellgleis. Besaß man Immobilien oder Erspartes, musste das erst verbraucht werden, bevor der Staat half. Dann hatte man nichts mehr. Ade, Altersruhe – dann konnte man weiter malochen, bis der Sankt Nimmerleinstag einen zur Beerdigung einlädt. Ich sagte zu Reiner nichts dergleichen; Samstag war schließlich zum Saufen da.
Wolfgang kam mit zwei weiteren Bieren zu uns, die wir bestellt hatten.
„Habt ihr Lust, bei uns zu spielen?“, fing er an. „In zwei Wochen treffen sich unsere Motorradfreunde. Wir stellen ein großes Zelt auf und bauen eine Bühne. Lichtanlage und PA werden von uns gestellt.“
Ich sah Reiner an. Er nickte und sagte zu Wolfgang: „Hört sich erst mal gut an.“
Reiner war Bassist in unserer Band. Ich spielte die Sologitarre und sang. Desweiteren gab es einen Keyboarder und einen Schlagzeuger.
Wir nannten uns Heart to Roll und waren in der Gegend bekannt genug, dass wir hin und wieder einen Gig ergattern konnten - so wie jetzt bei Wolfgang.
„Wie viele Leute kommen denn?“, fragte ich.
Wolfgang überlegte: „Wir rechnen mit drei bis fünfhundert.“
Reiner und ich machten große Augen.
„Drei Motorradclubs insgesamt, die sich die Kosten teilen“, fügte Wolfgang hinzu.
Er räusperte sich und sagte: „Sind auch viele andere Leute eingeladen, die kein Motorrad fahren, aber gut drauf sind.
Musik, wie ihr sie macht, wäre da genau richtig.“
Teil 6
Als ich in der Nacht nach Hause kam, brauchte ich eine ganze Weile, bis ich den Schlüssel ins Schloss gesteckt und die Tür geöffnet hatte. Ich ging ins Wohnzimmer und musste mich im Flur zweimal an der Wand festhalten, um nicht umzukippen. Im Wohnzimmer ging das Licht an, als ich unter der Tür stand; eine Frau saß dort. Ich sah auf die Uhr: 1:23.
„Was machst du denn noch hier?“
Jutta sah mich mit einem wenig wohlmeinenden Blick von oben bis unten an.
„Haste das bisschen Geld, das du verdient hast, gleich wieder versoffen?“
„Ich bin nicht betrunken“, lallte ich und hielt mich wieder irgendwo fest.
„Hab´ nur mit Reiner n paar Bierchen gekippt, auf meine erste Arbeitswoche bei Hanne.“
Jutta sah mich mit einem todesverheißenden Blick an.
„Und was ist in dieser Woche rumgekommen?“
„Meinst du an Geld?“
„Was denn sonst?“
Ich winkte ab und erklärte, die Sachen müssten erst verkauft werden, dann würde abgerechnet.
„Ein Drittel für mich, weil Hanne die Garage, den Bus und das Know-how hat.“
Es blieb bedrückend still im Raum, nur die Uhr tickte.
„Morgen treffen wir uns mit der Band“, sagte ich in diese Stille hinein. „Hab´ die Jungs schon angerufen.“
Ich ließ mich in den Sessel fallen, weil mir schwindlig wurde.
„Wolfgang macht eine große Feier mit seinen Jungs und sie wollen, dass wir …“
An der Stelle stand Jutta auf und ging aus dem Zimmer. An der Tür blieb sie stehen.
„Und was ist mit uns?“, sagte sie. „Ich hab´ gedacht, wir machen Morgen was zusammen; ist schließlich Wochenende.“
Ich wusste keine Antwort und starre sie nur an.
„Kotz mir bloß nicht auf den Teppich!“, sagte sie noch und verschwand ins Schlafzimmer.
Später, als ich mich aus den Klamotten gezwängt und die Zähne geputzt hatte, folge ich ihr ins Bett. Sie drehte sich von mir weg, als ich unter die Decke schlüpfte. Ich schmiegte mich trotzdem an sie und küsste ihren Nacken. Stimmt, dachte ich, den Sonntag hätte ich für uns frei halten sollen. Aber mit den Jungs von der Band hatte ich schon alles abgemacht. Wir hatten keine Wahl; wir mussten sofort mit den Proben beginnen, wenn wir in zwei Wochen spielen wollten.
Ich küsste ihr weiter den Nacken und fasste ihre Brüste an. Sie trug nur einen Slip. In meinem benebelten Kopf meinte ich, dass ich jetzt etwas Gutes tun sollte, wenn es morgen schon nicht klappen würde. Vorsichtig zog ich ihr den Slip nach unten, über den Po, über die Beine, an den Füßen vorbei, bis ich ihn in der Hand hielt. Dann drängte ich mich an sie; mein Glied hatte schon mitgekriegt was lief und war bereit.
Ich schob es zwischen ihre Pobacken und zwischen ihre Schenkel, ohne einzudringen. Aber sie reagierte nicht. Ich umfasse ihre Brüste mit beiden Händen und knetete sie sanft. Normalerweise wäre sie jetzt längst dabei gewesen. Doch diesmal blieb jede Reaktion aus. Als ich nachsah, ob sie eingeschlafen war, stieß sie mich mit dem Ellbogen zur Seite. Dann richtete sie sich auf, schnappte ihr Höschen und zog es demonstrativ wieder an. Sie sagte kein Wort, schaltete die Nachttischlampe ein und sah mich nur an – mit Blicken, die Blitze schleuderten. Schließlich löschte sie das Licht, legte sich unter die Decke und drehte sich wieder weg. Ich legte mich ebenfalls hin, drehte mich in die andere Richtung und versuchte zu schlafen. Doch unangenehme Gedanken hielten mich noch lange wach.
Teil 7
In der nächsten Woche musste ich bei Frau Frühstück antanzen. Sie hatte mir eine Einladung geschickt – mit dem freundlichen Vermerk, dass Kommen Pflicht sei, nach Paragraph sowieso … und dass andernfalls Geld gestrichen werde. Als ich in ihrem Zimmer saß, war sie nicht gleich da. Eine andere Frau hatte mich nach dem Klopfen hereingelassen. Sie bat mich Platz zu nehmen, setzte sich wieder an den Computer und schrieb weiter. Ich sah mich um, ein Amtszimmer aus dem Bilderbuch, in dem man den Schimmel meilenweit wiehern hörte. Die Wände waren depressiv beige, der Blick aus dem Fenster eignete sich auch nicht zu Freudensprüngen. Ansonsten nur Schränke und staubige, alphabetisch geordnete Akten.
Dann entdecke ich doch etwas: an einer Wand hing ein schönes Bild, abstrakt, ein wenig im Stil von Picasso. Ich betrachte es, bis Frau Frühstück ins Zimmer kam - der einzige Lichtblick, dieses Bild, in dieser ansonsten eher tristen Räumlichkeit.
„Ist das ´n echter Picasso?“ fragte ich spaßeshalber.
Sie sah das Bild an, dann mich, und erwiderte: „Wenn ich mir so ein Bild in echt leisten könnte, müsste ich wohl kaum hier sein und diese Arbeit tun.“
Dabei musterte sie mich von oben bis unten … und mit Subjekten wie Ihnen abgeben, durfte sie ja nicht sagen. Und ich durfte nicht sagen, dass sie ohne mich vermutlich gar keinen Job hätte.
Sie setzte sich und tippte mein Aktenzeichen ein. Dann blickte sie mich an und sagte: „Sie waren das letzte Mal vor sieben Wochen hier; das bedeutet, dass sie mir heute vierzehn Bewerbungen vorlegen. Ich nickte und kramte die Kopien aus der Tasche. Sie riss sie mir aus der Hand und begann mit feucht gemachtem Zeigefinger zu zählen.
„Das sind ja nur neun?“
Ich zucke mit den Schultern.
„Es waren nicht mehr Arbeitsangebote in der Zeitung“, sagte ich.
Sie sah mich an wie eine Schullehrerin.
„Vielleicht sollten Sie auch mal im Internet gucken, in der Jobbörse vom Arbeitsamt?“
„Tu ich doch!“
„Hier im Haus gibt es einen Raum, der extra dafür eingerichtet wurde.“
„Ist mir bekannt.“
„Waren Sie schon mal dort?“
„War ich.“
Sie legte die Bewerbungen beiseite und sah mich über den Rand ihrer Brille an.
„Hören Sie, Herr Semmel! Wenn Sie das nächste Mal nicht die vorgeschriebene Anzahl von Bewerbungen mitbringen, werde ich Ihnen einen Teil ihres Geldes streichen.“
Ich sagte okay, wäre der garstigen Krähe aber am liebsten mit dem nackten Arsch ins Gesicht gesprungen.
„Und was ist dabei heraus gekommen?“, unterbrach sie meine Gedanken.
„Keine Rückmeldung seitens irgendwelcher Arbeitgeber.“
„Sie haben also keine einzige Einladung zu einem Vorstellungsgespräch erhalten?“
„So ist es wohl!“
Sie griff nach einer meiner Bewerbungen und las sie. Dann ließ sie die Hand sinken, das Blatt segelte auf die Schreibtischplatte.
„Das wundert mich nicht. Sie müssen viel ausführlicher schildern, was sie gemacht haben, wie qualifiziert Sie sind - und vor allem, wie motiviert, eine neue Tätigkeit aufzunehmen.“
Sie räusperte sich.
„Heutzutage muss man sich auf die Hinterfüße stellen, wenn man etwas erreichen will!“
Ich nickte und sagte kleinlaut: „Man sollte in erster Linie das richtige Alter haben.“
Frau Frühstück starrte mich mit aufgerissenen Augen an.
„Wollen Sie damit sagen, dass …?“
„Genau das!“, antwortete ich, bevor sie den Satz beenden konnte.
Sie schwieg einen Moment und schien zu überlegen.
„Am besten wäre“, fuhr sie fort, „Sie zu einer Schulung zu schicken. Dort lernen Sie, wie man Bewerbungen und einen Lebenslauf richtig schreibt.“
Ich sagte nichts, dachte nur daran, dass ich in der Zeit nicht bei Hanne arbeiten konnte.
„Gehen Sie jetzt“, sagte sie. „Ich werde Ihnen das schriftlich zukommen lassen.“
Draußen dachte ich nur: Scheiße. Wenn ich Hanne sagte, dass ich drei oder vier Wochen ausfalle, würde sie mich bestimmt gleich wieder rauswerfen. Ich war gerade mal eine Woche bei ihr und fiel schon für längere Zeit aus. Ohne einen Nebenverdienst würde das Geld aber hinten und vorne nicht reichen. Ganz davon zu schweigen, was Jutta sagen würde, wenn ich plötzlich keine Kohle mehr hatte. Ich lief die Straße runter zur S-Bahn-Station, löste ein Ticket und setze mich auf eine der Bänke. Die Anzeige am Bildschirm meldete: fünfzehn Minuten Wartezeit.
Teil 8
Johann, der Keyboarder den wir Jo nannten; Adelbert, der Schlagzeuger, genannt Ade, und Reiner sahen mich an.
„Was machen wir denn jetzt?“, hatte Jo gefragt.
„Na, was schon? Jeder schnappt sich einen Arm oder ein Bein von dem Kerl und auf drei heben wir ihn da raus.“
Die anderen nickten, und wir taten, wie besprochen. Der Kerl war eine Riese, schwerer als ein Betonklotz und besoffen wie ein Schwein. Er hatte mit ein paar anderen auf einer Art Stange direkt vor uns gesessen; sie ließen eine Whiskyflasche hin und hergehen und hatten uns beim Aufbauen zugesehen. Sie gehörten zu der Motorradgruppe, die als erste angekommen war. Vereinzelt bauten noch andere Leute ihre Zelte auf, ansonsten war der Platz aber noch relativ leer. Als wir gerade unsere große Kabelkiste offen hatten und alles für den Auftritt bereit legen wollten, war der Kerl von der Stange gefallen, genau in unserer Kiste.
Wir brachten ihn ein Stück aus der Gefahrenzone, damit er uns nicht im Weg lag. Er war völlig benommen und nicht wachzukriegen. Schließlich übernahmen die whiskygetränkten Motorradkameraden, die mit ihm auf der Stange gesessen hatten, und kümmerten sich um ihn. Wir machten weiter. Eine PA- und Lichtanlage stand bereits, darum hatte sich Wolfgang, wie versprochen, gekümmert. Die Tontechniker richteten ihre Station am anderen Ende gegenüber der Bühne ein; dort stand ein riesiges Mischpult, das sie verkabelten. Wir bauten hinten auf der Bühne unsere Verstärker auf und nahmen sie mit Mikrophonen ab, damit der Sound später über die PA-Boxen nach vorne kommen konnte. Ada stellte sein Schlagzeug auf, Reiner und ich kümmerten uns um die Effektboards und packten dann die Instrumente aus. Jo wurde mit seinem Keyboard angeschlossen. Einer der Tontechniker bat ihn, das Instrument über die Line out-Buchse direkt in den Mixer zu führen. Er bekam eine extra Monitorbox, um sich zu hören. Wir verließen uns auf die Jungs. Wenn sie ihren Job verstanden - und sie sahen so aus - würden wir heute Abend ziemlich gut klingen. In den Clubs genossen wir den Luxus einer eigenen PA nicht; einen Mann am Mischpult konnten wir uns auch nicht leisten, zu wenig Gage. Da die Dimension jedoch wesentlich kleiner war, ging es auch ohne.
Wolfgang kam in voller Montur auf die Bühne, in Lederklamotten, Stiefeln und mit einem Harley-Davidson-Käppi.
„Hi Leute!“, rief er, als er seinen massigen Körper die Treppen hochwuchtete. Wir klatschen nacheinander gegen seine rechte Handfläche.
„Alles fit im Schritt?“, wollte er wissen.
Wir nickten. „Fit wie bei Brad Pitt“, antwortete Ada.
Er hatte sein Schlagzeug inzwischen aufgebaut, hielt die Stöcke in der Hand und machte ein paar Probeschläge auf Snare, Toms und Becken. Wolfgang hatte sich neben ihn gestellt und sah ihm fasziniert zu. Reiner stöpselte den Bass ein und spielte ein paar Läufe; ich nahm die Gitarre und legte mit einem improvisierten Solo los - spontane Sessions waren immer noch die besten, und man gewöhnte sich so an die Klangverhältnisse. Ein paar Zuhörer versammelten sich vor der Bühne, klatschen, als wir fertig waren. Wolfgang klatschte mit. „Wie es aussieht“, meinte er, „seid ihr gut drauf.“
Wir nickten. Er zog einen Zettel aus der Tasche und erklärte: „Ich habe hier ein paar Songs aufgeschrieben, die der eine oder andere heute Abend gerne hören würde.“
Ich nahm ihm das Stück Papier aus der Hand und las laut vor: „Satisfaction, Stairway to heaven, Magic bus, Hey Joe, Layla und natürlich Knocking on heavens door.“ Zeug, das wir größtenteils sowieso in unserem Programm hatten. Zum Glück, die Zuhörer wollte man ja nicht enttäuschen.
Teil 9
„Mit der Musik wird´s auch bald aus sein“, nahm Jutta den Gesprächsfaden wieder auf.
Ich sah sie von der Seite an und fragte: „Womit ist es denn sonst noch bald aus?“
Sie blickte mich einen Moment an, als würde sie darüber nachdenken. Dann räuspert sie sich, gab aber keine Antwort. Vielleicht wollte sie mir ankündigen, dass es mit uns bald zu Ende ist. Ganz der klassische Abstieg: Arbeitslos, kein Auto mehr, die Freundin haut ab und die Hobbies sind wegen Geldmangel nicht mehr möglich. Und dann kauft man sich vom letzten zusammengekratzten Geld den Revolver und setzt den Schlusspunkt?
„Warum sollte ich mit der Musik aufhören?“, fragte ich.
„Vielleicht, weil du kein Auto mehr hast und die anderen dein Zeug mit transportieren und dich anschließend jedes Mal nach Hause fahren müssen.“
Sie sah mich an: „Und deine teuren Gitarren, Verstärker und Effektracks – wenn da etwas kaputt geht, wie willst du die Reparaturen bezahlen?“
So ganz unrecht hatte sie nicht, aber ich hatte ja immerhin noch den Job bei Hanne; da verdiente ich genug, das hoffe ich wenigstens. Ich werde für diesen Fall etwas zur Seite legen, nahm ich mir vor. Und so oft spielten wir ja auch nicht, dass es die anderen störte, mich hinterher nach Hause zu kutschieren.
„Kennst du das?“, frage ich sie. „Verlier´ deine Träume und du verlierst dein Leben.“
Jutta sah mich mit großen Augen an. Dann sagte sie: „Träume können sich auch in Albträume verwandeln.“
Ich beschloss, darauf keine Antwort zu geben. Dass Jutta überhaupt gekommen war, wunderte mich. Sie mochte unsere Musik, das wusste ich. Aber wenn man mit seinem Freund getrennte Betten hatte, war es nicht mehr selbstverständlich, dass man seine Konzerte besuchte. Oder war sie nur gekommen, um mir zu sagen, dass es so etwas wie Musik – meine Träume - für mich bald nicht mehr geben würde?
Juttas Freundinnen kehrten zurück. Kaum standen sie bei uns, entschuldige ich mich, weil ich wieder auf die Bühne musste. Die Pause war längst vorbei. Ich hörte Ada bereits das Schlagzeug bearbeiten; höchste Eisenbahn. Jo und Reiner standen auch schon in Position, als ich die Bühne betrat. Sie straften mich mit Blicken. Man sollte das Publikum nicht zu lange warten lassen und die Musikerkollegen ebenso nicht. Hastig gurtete ich mir die Stratocaster um, schloss sie an den Verstärker an und trat ans Mikrofon.
„So, Leute! Wie ihr sehen könnt, geht es jetzt weiter.“
Im Publikum brandete freudiges Johlen auf. Die Reihen vorne waren jetzt noch dichter gefüllt als beim ersten Set. Ein paar Leute hielten Handys hoch und filmten. Ich stellte mich in Pose und lieferte ihnen Motive. Dann legten wir mit Summertime Blues in der Version von The Who los und hatten das Publikum sofort auf unserer Seite. Beim Gitarrensolo ahmte ich die ekstatischen Bewegungen von Pete Townsend nach und fegte wie ein Wirbelwind über die Bühne. Mit langen, flatternden Haaren, vorne schon recht schütter, wirbelte ich herum. Ich trug eine hautenge Lederhose, eine Wildlederfransenjacke und Cowboystiefel, als wäre ich zwanzig Jahre jünger. So fühlte ich mich auch. Um den Euphorie hochzuhalten, trumpften wir danach mit zwei Cream-Nummern auf: Strange Brew und Crossroads. Anschließend brachten wir zwei Stücke aus Wolfgangs Wunschliste. Er stand am Bühnenrand, Daumen hoch, und rief uns etwas Zustimmendes zu. Ein extra Applaus des Publikums erging schon bei der Ansage der Stücke, noch bevor wir damit los legten.
Jutta und ihre beiden Freundinnen standen wieder ganz vorne und tanzen in einer Gruppe von anderen Leuten. Überhaupt schien inzwischen alles zu tanzen. Manche Kerle hatten ihre Mädchen auf den Schultern; dort johlten sie und wedelten mit den Armen im Takt. Ganz vorne versuchten welche die Bühne zu stürmen, aber Wolfgangs Jungs passten auf und drängten sie zurück. Ich lächelte meine Freundin Jutta an, als sie zu mir hochsah; sie lächelte zurück. Vermutlich die einzige Situation, in der das noch möglich war. Vielleicht, dachte ich kurz darauf, sollte ich ihr besser die kalte Schulter zeigen und einen Flirt mit einer anderen beginnen – vor ihren Augen. Sie würde es sich dann vielleicht anders überlegen, einen „Rockstar“ wie mich in die Wüste zu schicken. Ich könnte ihr damit aber auch einen Grund liefern, mich endgültig abzuschießen.
Teil 10
Später, in der Pause, war Jutta nicht mehr da – ihre Freundinnen waren offenbar auch gegangen. Ich stand am Getränkestand und kam mit zwei Motorradfahrern ins Gespräch. Nicht über Musik, über Maschinen. Ich machte ihnen klar, dass ich bis vor Kurzem selbst Biker gewesen war. Sie fragten warum ich nicht mehr fuhr, und ich erzähle ihnen, dass ich arbeitslos geworden sei und keinen Job mehr finde. Der eine, schon über fünfzig, kannte das. Er hatte seinen Job auch verloren, war aber bei einem Onkel in dessen Firma untergekommen. Ich gratulierte ihm zu so viel Glück.
Im dritten Set gaben wir von A-Z Vollgas. Gleich zu Beginn spielten wir die restlichen Nummern von Wolfgangs Wunschliste und ernteten dafür schon im Vorfeld extra starken Applaus. Dann brachten wir zwei eigene Stücke: eine Rockballade mit deutschem Text und einen Boogie, der ordentlich abging. Die perfekte Überleitung zu Stücken wie Satisfaction, Smoke on the Water, Hey Joe und Layla, die danach kamen – genau das Repertoire, das man von einer Rockband unseres Kalibers erwartete. Als wir gegen ein Uhr nach der x-ten Zugabe das Konzert erfolgreich beendet hatten, war zum Glück Entspannung angesagt. Zum Schluss standen wir Musiker Arm in Arm vorne auf der Bühne und verbeugten uns, begleitet vom tosenden Applaus des Publikums. Danach gingen die Bühnenlichter für diesen Tag aus. Das Equipment blieb auf seinem Platz, weil wir am nächsten Morgen noch einmal spielen sollten; ein Rockfrühstück war geplant.
Wir Musiker hatten für heute erst mal Feierabend und mischten uns unter die Leute. Am Getränkestand kam ich mit einem Mädchen ins Gespräch, das mir etliche Komplimente machte, wie gut unsere Musik sei. Sie gefiel mir: langes Haar, schlank, hübsches Gesicht. Ob ich Chancen bei ihr hatte? Wir redeten die ganze Zeit, wie im Fieber. Ihren glänzenden Augen und meiner Euphorie nach zu urteilen, steckten wir mitten im heftigsten Flirt. Mein Herz hüpfte, und ich überlegte ernsthaft, ob ich es versuchen sollte. Sie trank nur Weißwein; ich hielt mit, obwohl ich lieber Bier trank. Sie war bestimmt zehn Jahre jünger als ich, wie Jutta. Verdammt, dachte ich, warum musste ich ausgerechnet jetzt an Jutta denken? Warum war sie überhaupt so schnell verschwunden? Ich schob die Gedanken beiseite und widmete mich wieder meiner Eroberung.
Ein Motorradfahrer gesellte sich eine Weile später zu uns und küsste das Mädchen, mit dem ich mich die ganze Zeit unterhalten hatte.
Mir blieb der Mund offen. „Darf ich dir meinen Freund vorstellen?“, sagte sie.
Ich schloss den Mund wieder und gab ihm die Hand, was sollte ich sonst tun? Er nahm seine Freundin in den Arm und sagte: „Lass´ uns gehen, meine Kumpels warten.“
Sie nickten mir zum Abschied zu und liefen los. Ich blieb zurück wie der berühmte begossene Pudel und starrte ihnen hinterher, bis sie aus meinem Blickfeld verschwunden waren. Rockstars bekamen eben auch nicht alles, was sie wollten.
Ich ließ den Rest Weißwein stehen und suchte nach den anderen. Auf dem Platz herrschte überall Halli-Galli. Etliche Leute waren noch auf den Beinen oder saßen um eines der Feuer, die überall loderten. Wahrscheinlich würden viele hier in den aufgebauten Zelten übernachten, um am Morgen gleich wieder vor Ort zu sein, wenn es Frühstück und Musik gab.
Hier und da erkannte mich jemand und rief mir einen Gruß zu. „Spielt ihr nochmal, Charlie?“, schrie einer mit offensichtlicher Schlagseite. „Morgen früh!“, brüllte ich zurück und ein paar Leute lachten. Sie saßen um ein Feuer, tranken und unterhielten sich. Einer hatte eine Gitarre und gab ein Lagerfeuerlied zum Besten. Ich winkte ihnen zu und lief weiter.
„He, Charlie!“, rief erneut jemand. Es war Reiner. Ich ging zu ihm, da standen auch Wolfgang, ein paar Motorradfahrer und die anderen Musiker. Sie hatten sich ebenfalls um ein Feuerchen versammelt. Wolfgang schob mir eine Flasche Bier rüber - genau das Richtige jetzt, nach all dem Wein. Ich machte sie mit dem Feuerzeug auf, stieß mit den anderen an und trank einen Schluck.
Mein Name ist Karl-Heinz, aber alle nennen mich Charlie - Charlie Semmel, wenn man den Nachnamen dazusetzt. Ich bin jetzt 56 Jahre alt, einsachtundsiebzig groß, siebzig Kilo, Schuhgröße 41. Am wichtigsten zu wissen: Mein Aktenzeichen lautet 4100.0121 36. Meistens habe ich mit Frau Frühstück zu tun (sie heißt wirklich so), meiner Sachbearbeiterin.
Neulich sagte sie zu mir - sie muss mich ja hin und wieder zu sich bestellen, um den aktuellen Status von Person zu Person zu erkunden – dass sie mich in Arbeit bringen und mir da raushelfen wolle. Ich antwortete begeistert: „Ja!“ und fragte mich insgeheim, ob sie zaubern könne. Manchmal schickt man Arbeitslose zur Probe zu einem Betrieb, der eine Festeinstellung in Aussicht stellt. Nach der Probezeit wird man gefeuert und die Firma holt sich den nächsten, der wieder nichts kostet. Eine Festanstellung gibt es nicht. Das Arbeitsamt weiß davon, verehrt die Unternehmer aber wie heilige Kühe und tut nichts. Am schlimmsten sind die Eineurojobs: moderne Aufmachung des guten, alten Arbeitsdienstes, ohne Lohn. Oder die Leiharbeitsfirmen, die gern ein Drittel deines Lohnes einbehalten. Landet man dort, rennt man weiter zum Amt, um Aufstockung zu beantragen.
Wenn die Politiker im TV vermelden, sie hätten in ihrer Amtszeit hunderttausende Menschen in Arbeit gebracht, muss ich lachen. In was für Arbeit? - danach fragt keiner. Öffentlich tut man so, als seien Arbeitslose faule Hunde, die nicht mit anpacken wollen. Neuerdings kommen Vorschläge, ihnen das Geld für Alkohol und Tabak zu streichen, damit sie angeblich nüchterner werden, sich waschen, sauber anziehen und Bewerbungen schreiben – für Jobs, die nicht existieren.
Ich will von vorne anfangen; mit dem Tag meiner Kündigung. Das Schreiben habe ich noch: Sehr geehrter Herr Semmel! Auf Grund der schlechten Auftragslage
im Speditionswesen, sowie dem daraus entstandenen Arbeitsmangel, ist es mir nicht möglich, Sie weiterhin bei mir zu beschäftigen. Die Kündigung tritt zum 15.3.2003 in Kraft.
Für Ihren weiteren Berufs- und Lebensweg wünsche ich Ihnen alles Gute.
Als ich das meiner Freundin zeigte, sie arbeitet ganztags als Haushaltshilfe, wir teilen uns Miete und Nebenkosten einer Dreizimmerwohnung – sah sie mich entgeistert an. „Ich finde wieder eine Arbeit“, versprach ich leichtsinnigerweise.
Sie sah mich an, als wüsste sie etwas, das ich nicht wusste, und verzog das Gesicht.
Am nächsten Tag kaufte ich eine Zeitung, markierte passende Stellen und wählte zuerst die Angebote mit Telefonnummern aus. Viele wollen als erstes das Alter wissen. Ich war 49 damals und begriff noch nicht, wie sehr das einen für eine Stelle disqualifizieren konnte. Kurz gesagt: Ich bekam nirgends eine Zusage, weder an dem Tag noch an einem anderen. Einer brachte es auf den Punkt: „Wir wollen ein junges Team haben.“ Ich war sprachlos, aber so langsam dämmerte mir einiges.
Schließlich ging ich zum Arbeitsamt. Dort lerne ich die „Amsel“ kennen, so nannte ich sie. Frau Amselfeld, eine etwas dickliche, ältere Frau, die immer explizit schlechter Laune zu sein schien. An uns Arbeitslosen konnte sie diese Laune ungestraft auslassen; alphabetisch wollte es der Zufall, dass sie für mich zuständig war. Zuvor saß ich in einem dieser langen Gänge zwischen gefühlt fünfhundert anderen, zog eine Nummer und wartete. Ding-Dong, eine Zahl leuchtete auf, und der Nächste durfte in eines der Zimmerchen. „Hurra, nur noch 499 vor mir.“
In der Zwischenzeit starrte man auf kahle, graue Wände, die in ein trübes Tageslicht getaucht waren. Reden mit anderen war selten; jeder trug sein Päckchen für sich und blieb stumm. Überall lagen Prospekte herum mit dem Titel „Das Arbeitsamt informiert“. Sie taten so, als ginge es lediglich um die Vermittlung einer Stelle und das Arbeitsamt wäre der kompetente Partner. Ich nahm später stets ein Buch mit, um nicht in Versuchung zu geraten, eine dieser Broschüren anzufassen.
Je länger ich dort gemeldet war, desto mehr wirkte alles wie Augenwischerei. Es erinnerte mich an George Orwells Roman 1984, in dem der Protagonist Winston Smith Tabellen erstellt, von Waren, die nicht existierten. Den Arbeitslosen unterstellt man Faulheit, gegenüber einer Arbeit, die es nicht gibt. „Fördern und fordern“ - ein Slogan, der jedem Pissoir als Klospruch guttun würde. Bei diesem Spiel verdienen nur die schlechtgelaunten Beamten ein ordentliches Monatsgehalt. Die Arbeitslosen bleiben auf der Strecke. Sie werden verwaltet und gegängelt. Der Behörde kann das egal sein, das Steuergeld für ihre Löhne ist ihnen sicher.
Als ich schließlich dran war, reichte ich meinen Antrag auf Arbeitslosengeld ein. Die Amsel riss ihn mir aus den Händen und überflog ihn.
„Sie waren Spediteur?“, fragte sie.
Ich nickte und fast wäre mir „Steht doch alles da drin!“ heraus gerutscht.
Sie sah mich über den Rand ihrer Brille an. „Und da finden Sie nichts? Speditionen gibt´s doch wie Sand am Meer!“
Ich nickte und erwiderte: „Stimmt, aber offenbar keine, die jemand in meinem Alter haben will.“
Sie sah mich abschätzend an: „Aber Sie sind verpflichtet, weiterzusuchen, auch in anderen Branchen.“
„Aber selbstverständlich!“, sagte ich, und verbarg, dass ich kaum noch daran glaubte, wirklich eine Arbeit zu finden - in welchem Gewerbe auch immer.
Sie wies mich darauf hin, dass das Arbeitslosengeld, falls mir welches zustehe, nur als Überbrückung diene; es dürfe keinesfalls Dauerzustand werden.
Teil 2
Am gleichen Abend saßen Jutta und ich im Wohnzimmer und aßen die Lasagne, die ich eingekauft und selbst zubereitet hatte.
„Und wenn du tatsächlich nichts mehr findest, was machen wir dann?“, fragte sie.
Ich zuckte mit den Schultern.
„Kann man von diesem Arbeitslosengeld überhaupt existieren?“
Ich wusste es nicht. „Bis man Bescheid bekommt, dauert es erst mal sechs Wochen“, antwortete ich.
Am schlimmsten war, dass ich bei der Bank einen größeren Kredit laufen hatte. Wir hatten gerade neue Möbel gekauft, ich hatte mit meiner Band eine CD aufgenommen und mir ein neues Motorrad geleistet - ohne zu ahnen, dass ich bald meinen Job verlieren würde. Jetzt war alles zusammen gekommen, der Teufel hing an der Wand, und mir wurde ganz eng zumute.
Die Möbel konnten wir nicht verkaufen, das Geld für die CD war auch verloren – aber das Motorrad, das konnte und musste weg. Schon der Gedanke daran, stach mich wie ein Messer; ich spürte die Schmerzen noch lange. Seit ich 16 war fuhr ich Zweiräder: erst ein Moped, mit achtzehn das erste Motorrad, dann weitere Maschinen und schließlich diese 1000er Kawasaki, von der hier die Rede war. Jutta arbeitete, wie gesagt, ganztags als Haushaltshilfe. Sie verdiente gut, aber nicht so viel, dass sie uns beide auf Dauer durchbringen konnte – und das wollte ich auch nicht. Sie legte regelmäßig Geld auf ein Sparkonto; aber das war ihr Geld. Ich hatte nichts: kein Sparkonto, keinen Bausparvertrag, nur ein ordentliches Minus. Negativermögen nannte ich das damals scherzhaft.
Jutta war zu der Zeit neununddreißig, zehn Jahre jünger als ich. Sie war einen Kopf kleiner, mit langen brünetten Haaren und einem Stupsnasengesicht. Am liebsten sah ich sie in Stiefeln und halblangem Rock. Vom Wesen her war sie meistens ausgeglichen; wenn ihr aber etwas gegen den Strich ging – zum Beispiel meine Arbeitlosigkeit - , konnte sie durchaus anders werden. Wir waren seit drei Jahren zusammen, und ich hatte vor, mit ihr für immer zusammenzubleiben. Wir lernten uns in einer Eisdiele kennen. Sie saß alleine, lutschte an einer Schokokugel, und ich saß am Nachbartisch, beobachtete sie und lächelte, als sie aufsah. Schließlich fasste ich Mut, setzte mich zu ihr und wir redeten.
Wir besaßen ein Auto, auf uns beide zugelassen. Zur Arbeit fuhr ich, wann immer es ging, mit der Kawa, sie nahm das Auto. Nun sah es so aus, als könnte ich meinen Anteil für Sprit, Steuer, Versicherung und Reparaturen nicht mehr aufbringen. Das Motorrad musste weg. Mein weiteres Pech war, dass mein Gehalt in der Spedition nur aus einem geringen Grundlohn bestand, der Rest waren Leistungsprämien. Diese Prämien zählten nicht zur Bemessungsgrundlage für das Arbeitslosengeld. Und das Wenige, das ich voraussichtlich bekommen würde, wurde durch die Bankrate noch weiter gemindert. Ich wagte gar nicht auszurechnen, was am Ende übrigblieb.
Die sechs Wochen bis zur Bewilligung verbrachte ich, entgegen aller schlechten Prognosen, weiter mit Bewerbungen und Telefonaten. Selten hörte man ein „Ja“. Wenn doch, brachte es meist nichts. Eine Autovermietung lud mich zu einem Vorstellungsgespräch ein. Zuerst fühlte ich mich wie an Weihnachten und Ostern zusammen, dann stellte sich heraus, dass sie fünf Euro brutto die Stunde zahlen wollten. Wie sollte man davon leben? Man müsste alles bei Aldi kaufen können: Billiges Essen gab es ja schon – was fehlte waren Telefon, Heizung, Strom und Wohnung mit Power-Flatrate. Vielleicht würde Aldi bald Autos verkaufen: Den Aldi Fünfhundert, wartungsfrei, ein Liter Sprit auf hundert Kilometer, Reparaturen gratis.
Ich bewarb mich als Automatenaufsteller, als Arbeitshilfe in einer katholischen Pfarrei, rief unzählige Firmen mit Stellen im Lager an, meldete mich beim Hausmeister-Service, bewarb mich als Fahrer bei einer Firma, die Sicherungsdateien einlagerte. Als Gärtner, Putzmann, Tellerwäscher - und vielleicht demnächst als Leichenwäscher. Auf jede Stelle bewarben sich Hunderte; wer über vierzig war, dessen Bewerbung wanderte schnell in den Papierkorb.
An ein Gespräch erinnerte ich mich noch: Es ging um eine Lagerstelle. Jemand hatte ein gutes Wort für mich eingelegt, so dass ich den Chef persönlich erreichen konnte. Ich musste in jener Woche zum dritten Mal anrufen.
„Ja, guten Tag, hier ist Karl-Heinz Semmel noch mal!“
„Semmel?“
„Ja, Sie wollten mir doch Bescheid geben, ob es mit der Stelle klappt. Der Herr Reinhard hat mich empfohlen – er ist ein Schwager, den sie als Lieferanten kennen.“
Ein Moment war Stille, ich hörte nur, wie der Chef atmete.
„Da müsste ich mal mit dem Vorarbeiter sprechen, ob wir jemanden brauchen.“
„Aber Sie wollten doch schon nach unserem ersten Telefonat nachfragen.“
Der Chef seufzte. „Stimmt, Sie haben schon mal angerufen. Tut mir leid, habe im Moment einfach zu viel um die Ohren.“
„Aber ich rufe jetzt schon zum dritten Mal an.“
Er ließ wieder eine Pause, dann fragte er: „Wie alt sind Sie noch mal?“
Bei dieser Frage bekam ich Pickel im Gesicht.
„Bin gerade hundertzwanzig geworden“, antwortete ich, „aber immer noch rüstig.“
Mein Gegenüber holte hörbar Luft. Ich ließ es nicht zu einer Antwort kommen und legte wortlos auf.
Teil 3
Der Tag X war gekommen. Ich hatte die Maschine schon ein paar Mal in der Zeitung angeboten, und jetzt hatte sich jemand gemeldet.
Er fuhr mit dem Bus vor, stieg aus, sah sich das Motorrad an und sagte: „Viertausend - und ich nehm´ sie gleich mit.“
Ich schüttle den Kopf. Vor zwei Jahren hatte ich sieben dafür bezahlt. Die Maschine war äußerlich in einwandfreiem Zustand, und wurde regelmäßig in der Werkstatt gewartet. „Fünfeinhalb! Keinen Heller weniger“, beharrte ich.
Er blickte mich an; ich merkte, wie er fieberhaft überlegte.
„Viereinhalb, mein letztes Wort!“
Ich schüttelte erneut den Kopf.
Später schob er die Maschine zum Bus und stellte sie davor ab. Er öffnete die hinteren Türen, legte eine Schiene an und wir luden die Kawa gemeinsam hinein. Ich sah zu, wie er sie mit einem dicken Seil an der Bordwand befestigte. Mein Herz fühlte sich an, als stecke es in der Unterhose; es rutschte weiter bis zu meinen Fußknöcheln. Der Typ schloss die Türen und gab mir zum Abschied die Hand. Am Ende hatten wir uns auf Vier-Acht geeinigt; er zählte mir das Geld sofort bar auf die Hand. Ich blieb auf der Straße stehen, sah dem Bus nach, bis er um die Ecke bog, wischte mir eine Träne aus dem Gesicht und ging hoch in meine Wohnung.
Eines Morgens trudelte der Bewilligungsbescheid vom Arbeitsamt ein. Auf der Treppe schon, riss ich den Brief auf und starrte auf die Zahl. „Mein Gott!“, sagte ich laut und setzte mich dann erst einmal im Wohnzimmer hin, um den Bescheid noch einmal zu lesen. Wenn ich das Jutta zeige, flippt sie völlig aus. Auf der anderen Seite hatte ich durch den Motorradverkauf jetzt etwas Kohle und sollte sie möglichst gewinnbringend investieren. Aber in was?
Mir fiel eine Bekannte ein, die selbständig allerlei Sachen verkaufte. Früher hatte ich sie manchmal an den Wochenenden auf Flohmärkte begleitet - aus Spaß, weil mir das Verkaufen alter Dinge gefiel. Vielleicht wäre jetzt ein guter Zeitpunkt, sie wieder aufzusuchen und die Sache ins Rollen zu bringen.
Zwei Tage später zeigte sie mir stolz ihre Garage. „Ich mache nur noch selten Flohmärkte“, erklärte sie. „Hab mich auf Haushaltsgeräte spezialisiert. Waschmaschinen, Herde, Kühlschränke, Küchenschränke. Das läuft immer und bringt gutes Geld.“
Ich nickte und ging an einer Reihe blitzblank geputzter, funktionstüchtig wirkender Geräte vorbei. Hinten in der Ecke stand ein teils zerlegter Küchenschrank, an dem sie offenbar gerade arbeitete. Die eine Hälfte lag auseinander gebaut auf dem Boden, daneben Putzzeug, Lackdosen, Pinsel und verschiedene Schraubenschlüssel.
Sie sah mich an: „Willst du was kaufen?“
Ich schüttelte den Kopf.
„Und was führt dich zu mir? Hast dich ja schon ne Weile nicht mehr blicken lassen.“
Ich nickte und sagte: „Ich suche einen Nebenverdienst.“
Sie sah mich erstaunt an: „Wie, nichts mehr mit Spedition?“
Ich verneinte und erzählte ihr, dass man mich wegen Arbeitsmangel entlassen hatte, dass ich Stütze beantragt habe
und mich regelmäßig bewerbe, aber vergeblich.
„Ah verstehe! Und jetzt willst du bei mir einsteigen?“
„Würde das denn gehen?“
Sie legte die Stirn in Falten und schüttelte bedauernd den Kopf.
„Das hier ist nicht so einfach, wie es aussieht. Und es wirft nicht genug ab, dass zwei davon leben könnten.“
„Muss nicht“, antwortete ich, „ich krieg ja noch Stütze – soll wirklich nur ein Nebenverdienst sein. Du könntest mich anlernen, ich bin fix im Kapieren.“
Sie gab mir keine endgültige Antwort, auch dann nicht, als ich ihr das Geld in Aussicht stellte, das ich investieren könnte: zweitausend Euro.
Abends geriet ich mit Jutta in Streit, als sie von der Arbeit heimkam.
Zu meiner neuesten Idee sagte sie: „Fang doch nicht mit so was an, davon kann man doch nicht leben.“
„Wieso nicht?“, entgegnete ich. „Zusammen mit der Stütze reicht es.“
Sie sah mich stirnrunzelnd an: „Das musst du dem Arbeitsamt melden, dann ziehen sie dir so und so viel ab.“
Da war zweifellos etwas dran. Andererseits ging es um meine Existenz, und das Amt musste ja nicht alles wissen.
In der gleichen Woche fuhr ich zur Bank. Sie hatten mir geschrieben, mein Konto sei weit überzogen - als ob ich das nicht wüsste - und angesichts meiner Arbeitslosigkeit könne man das nicht dulden. Nicht zuletzt, weil Arbeitslosengeld nicht pfändbar sei. Der zuständige Sachbearbeiter führte mich in ein Hinterzimmer, setzte sich und zog ein vorbereitetes schriftliches Angebot aus der Schublade. „Am besten legen wir die alten Kreditschulden und die Girokonto-Schulden zusammen“, schlug er vor. Auf den ersten Blick klang das vernünftig. „Dazu müssen wir den alten Kreditvertrag auflösen und einen neuen aufsetzen.“ Er legte ein Blanko-Formular vor mich hin.
„Lesen Sie sich das Angebot durch, dann können wir alles gleich erledigen.“
Ich studierte die Zahlen und die Endsumme, die sich aus dem neuen Vertrag ergeben sollte. Mir wurde ein wenig flau. Der Sachbearbeiter spannte bereits das Formular in die Schreibmaschine, während ich noch rechnete. Sein Bauernfängergrinsen entging mir nicht.
„Kann man das Geld vom überzogenen Konto nicht einfach dem alten Kredit zurechnen?“, fragte ich.
Er sah mich unverständlich an. „Das geht natürlich nicht!“
Ich wollte Zeit gewinnen und zog das Lesen künstlich in die Länge. Die Zahlen, die über mein künftiges Schicksal entschieden, konnte ich nur vage im Kopf überschlagen. Nach einer Weile sagte ich: „Ich nehme das mit nach Hause und lese es in Ruhe.“
Er sah mich an, als hätte ich in der Kirche das Kreuz heruntergerissen. Widerwillig zog er das Formular aus der Maschine.
„Wie Sie wollen, Herr Semmel. Aber zögern Sie nicht zu lange, die Sache duldet keinen Aufschub.“
Ich steckte das Angebot in die Jackentasche, gab ihm die Hand und versprach, mich zu melden.
Zuhause ließ ich den Taschenrechner glühen und stellte fest, dass ich tief in die Tasche greifen müsste, um diesen neuen Deal zu stemmen. Die Zinsen des alten Kredits – mit einer Laufzeit von fünf Jahren - sollte ich fast in voller Höhe abdrücken, obwohl der Vertrag erst zwei Jahre lief. Hinzu kam eine nicht geringe Bearbeitungsprovision und die Zinsen für den neuen Vertrag, der über sieben Jahre laufen sollte. Langsam wurde mir klar: Die Bank verdiente am alten Kredit nahezu das volle Geld, obwohl sie das Darlehen nicht einmal halb so lange gewährt hatte, wie vertraglich vorgesehen. „Tsweinebande!“, hätte ein Onkel von mir gesagt, der ein wenig lispelte. Das merkwürdige Grinsen des Sachbearbeiters konnte ich mir jetzt erklären.
Am nächsten Tag erst rief ich bei der Bank an und verlangte den Sachbearbeiter. Hätte ich am Tag zuvor gleich angerufen, als die volle Wut noch in mir steckte, hätte man mir vermutlich wegen unflätigen Ausdrücken und zu hoher Lautstärke Hausverbot erteilt.
„Aber Herr Semmel...“, begann er am Telefon. „Wie soll das denn werden mit ihren Bankschulden? Wir können ja nicht einmal mehr ihre Daueraufträge erledigen.“
Meine Hand krampfte sich fester um den Hörer.
„Hören Sie“, erwidere ich, „wenn Miete, Strom und Telefon nicht mehr überwiesen werden, lande ich auf der Straße. Und die Rückzahlung der Kreditschulden können Sie dann getrost in den Kamin schreiben.“ Er sog merklich die Luft ein, das war zu hören.
„So schnell geht das nicht mit der Straße. Sie zahlen weiter regelmäßig Ihre Kreditrate und versuchen nach und nach ihr Girokonto auszugleichen. Können wir uns darauf einigen?“
„Können wir“, antwortete ich und wischte mir den Schweiß von der Stirn. Vom Geld für das Motorrad erwähnte ich nichts.
Das kam auf kein Konto; das brauchte ich und wollte es nicht in einem Fass ohne Boden versacken lassen.
Teil 4
„Wir fahren zuerst in die Lenaustraße“, sagte Hannelore. Ich nickte und bog nach rechts ab. Wir waren mit ihrem Bus unterwegs, ich fuhr. Hanne saß neben mir und hatte die Seite einer Kleinanzeigen-Zeitung aufgeschlagen, mehrere Anzeigen waren angekreuzt. Die Zeitung hatte sie schon um halb fünf an einer Tankstelle in der Nähe ihrer Wohnung gekauft. Wir mussten sogar noch zehn Minuten auf den Fahrer warten, der sie auslieferte. Jetzt war es kurz nach sieben. Hanne hat ab sechs bereits Leute angerufen, die kostenlose Haushaltsgeräte und Küchen abzugeben hatten. „Manche werden stinkig“, erzählte sie mir zwischen zwei Telefonaten. „Mosern einen an; von wegen, ob man eigentlich wisse, wie viel Uhr es sei.“
An diesem Tag geriet sie jedoch nur an Frühaufsteher. „Man muss die Leute erwischen“, erklärte sie, „bevor sie zur Arbeit gehen.
Ruft man später an, sind die kostenlosen Sachen sämtlich weg.“
Sie faltete die Zeitung zusammen und legte sie vorne auf die Konsole. Dann holte sie Tabak und Papers aus der Jackentasche und drehte sich eine.
„Willste auch?“ Ich verneinte; das Rauchen hatte ich mir abgewöhnt, von einem gelegentlichen Joint einmal abgesehen.
„Mach das Seitenfenster auf“, bat ich sie und sie tat es.
Ich fragte: „Was haben wir denn in der Lenaustraße?“
„Einbauküche! Fünf Jahre alt, aber noch gut in Schuss, wie der Mann am Telefon meinte.“
„Prima!“, jubelte ich.
Hanne zog an der Zigarette und sah mich von der Seite an. „Abwarten, mein Lieber! Manche wollen nur ihren Mist entsorgen.“
Ich nickte und schwieg. In diesem Job war ich der Lehrling, und außerdem war ich heilfroh, dass Hanne es sich anders überlegt und mich angerufen hatte. „Wir probieren es einfach mal“, sagte sie. „Aber freu dich nicht zu früh – wenn die Sache nicht genug abwirft, mach ich das wieder alleine.“
In der Lenaustraße gab es weit und breit keinen Parkplatz, so dass ich in zweiter Reihe stehen blieb. Wir stiegen aus und klingelten. Es dauerte eine Weile, bis der Summer endlich ging – vermutlich war der Typ gerade beim Zähneputzen oder Rasieren. Wir drückten die Tür auf und liefen hoch in den zweiten Stock. Altbau. Es würde nicht einfach sein, die Küche da runter zu bugsieren, überlegte ich. Hanne klingelte oben an der Wohnungstür und ein Mann öffnete, zwar schon in Hosen, ansonsten aber noch im Unterhemd. Mit einem Handtuch wischte er sich den restlichen Rasierschaum ab und sagte: „Kommen Sie rein, ist noch alles aufgebaut.“
Er lief voraus in die Küche, wir folgten. Auf den ersten Blick sah die Sache - für mich jedenfalls - gut aus. Hanne öffnete als erstes die Tür unter der Spüle und prüfte innen die Wände. Billiges Press-Spahn, wie ich später von ihr erfuhr, und aufgequollen. Die Scharniere der Schranktüren waren ausgeleiert. Eine Tür vom Oberschrank fiel regelrecht herunter, als Hanne sie öffnete. Der Lack insgesamt war schon ein gutes Stück von taufrisch entfernt; so etwas verkaufte sich nicht. Auf der Arbeitsplatte waren deutliche Risse und Abschürfungen zu sehen. Der Mann wirkte einigermaßen konsterniert, als Hanne sagte: „Ne, tut mir leid, nicht das, was ich suche.“
„Aber sie ist doch umsonst“, entrüstete er sich, „wer wird denn da noch Ansprüche stellen?“
„Tut mir leid!“, entgegnet Hanne.
Wir waren bereits auf dem Weg zur Tür.
Unten stand eine Politesse neben unserem Bus und hatte ein digitales Eingabegerät in der Hand.
„Wir fahren sofort weg!“, rief ich ihr von weitem zu. Sie sah sich gerade unser Nummernschild an.
Ich lächelte sie freundlich an, als wir bei ihr waren. „Gleich haben wir uns in Luft aufgelöst“, sagte ich, „als wären wir nie da gewesen.“
Sie musterte mich mit Stoneface – dann huschte doch die Andeutung eines Lächelns über ihr Gesicht. Schließlich machte sie eine Handbewegung,
dass wir verschwinden sollten.
In der Schmidtstraße sahen wir uns einen Herd an, der ebenfalls kostenlos war. Hanne befand ihn für gut und ich lief eilig runter zum Bus, um die Sackkarre zu holen. Wir bedanken uns, brachten ihn auf die Schippe und hinaus auf den Gang. Dann holperten wir damit über die Stufen. „Langsam!“, gab Hanne Anweisung. Sie lief vor mir her und hielt das Gerät fest, damit es nicht überkippte. Unten stellten wir das Ding genau vor dem Bus ab. Hanne legte eine Decke auf die Ladepritsche, wir hoben zu zweit hoch, kippten und schoben den Herd hinein. Dann kamen die Türen hinten zu und wir fuhren weiter.
Eine Gefrierkombi holten wir noch ab, die auch in Ordnung war. Die musste aber aufrecht transportiert werden, wegen der Kühlflüssigkeit. Hanne zurrte sie mit einer Kordel an der Seitenwand fest. Dann fuhren wir in die Hafenstraße, um eine weitere Küche anzusehen. Sie war nicht kostenlos, sollte dreihundert kosten. Hanne befand sie für gut, nur der Preis gefiel ihr nicht. Eine Weile ging es zu wie auf einem Basar, als sie mit der Frau verhandelte. Dann kostete die Küche plötzlich nur noch zweihundert. Ich bezahlte von meinem Geld; ich hatte ja zugesagt, mit zweitausend einzusteigen.
Wir bauten sie an Ort und Stelle auseinander - wobei Hanne mir zeigte, wie man das am schnellsten und effektivsten machte. Zuerst wurden die Herdplatte und das Spülbecken abmontiert, dann die gesamte Arbeitsplatte. Schließlich kam der Herd heraus und der Dunstabzug wurde demontiert. Danach hängten wir die Oberschränke ab und schraubten sie auseinander, dann die Unterschränke. Die leichten Teile trugen wir per Hand nach unten; die schweren Sachen kamen auf die Sackkarre. Bis alles soweit war, verging eine gute Stunde.
Hanne saß wieder auf dem Beifahrersitz, als wir zurückfuhren. Sie hatte einen zufriedenen Gesichtsausdruck und drehte sich eine Zigarette. Dann zündete sie den Klimm-Stängel an und nahm einen tiefen ersten Zug. Sie machte das Seitenfenster auf und sagte: „Nicht schlecht, die Ausbeute.“
Ich nickte; auch ich war richtig froh. Vielleicht ein gutes Omen, wenn der erste Tag so lief - ein positiv in die Zukunft weisendes Zeichen. Ich hatte schon halb vergessen, dass ich arbeitslos war.
Wir fuhren direkt zu Hannes Garage und luden den Bus aus, der ordentlich voll geworden war. Nacheinander brachten wir die Geräte und Küchenschrankteile in den hintersten Winkel. Im vorderen Teil standen die verkaufsfertigen Stücke unter Neonlicht. Hinten konnte man einen Vorhang vorziehen, so dass die Werkstatt vor der Kundschaft verborgen blieb. Als wir fertig waren, war es schon etwas nach zwölf.
„Lass uns ne Pizza einfahren“, sagt Hanne. „Und danach fangen wir mit der Arbeit an.“
Ich war einverstanden. Die Pizzeria war nur einen Katzensprung entfernt. Die Pizza war ordentlich, wir tranken beide ein Bier dazu. Hanne rauchte in aller Ruhe noch eine Selbstgedrehte und erklärte dann mit einem Mal: „Pause beendet!“
Wir bezahlten, gingen zurück und stürzten uns kopfüber in die Arbeit. Zuerst bekam ich eine Einweisung, wie man richtig putzt. Erst einweichen mit Schwamm und warmem Putzwasser, in das sie Essigreiniger getan hatte. Dann ein zweiter Durchgang - die hartnäckigen Stellen bearbeitet man mit Ako-Pads und einem Schaber. Für die Chromteile hatte sie ein spezielles Mittel. Der Herd musste innen mit Backofenspray gereinigt werden, und der Kühlschrank wurde innen und außen vollständig gereinigt.
Abends erzählte ich Jutta ganz stolz von meinem ersten Tag.
Wir aßen Kartoffelsalat, Wiener Würstchen mit Senf und Brot und tranken Bier dazu.
„Was sagen die beim Arbeitsamt eigentlich?“, wollte sie wissen. „Haben die keine Arbeit für dich?“
Ich zuckte mit den Schultern. „Was sollen die schon haben und sagen?“
Auf Bewerbungen hatte ich kaum noch Lust; die Reaktionen kannte ich in- und auswendig.
Man kam sich nur blöd vor, fast fünfzig und nach deren Einschätzung zu alt.
„Willst du dich in dieser Übergangssituation einrichten?“, fragt Jutta und seufzte. „Wir können uns doch nichts mehr leisten, auf so einem Niveau.
Kein neues Auto mehr, das Motorrad ist bereits weg und den jährlichen Sommerurlaub können wir uns auch abschminken.“
Halb entrüstet sah sie mich an: „Darfst du überhaupt Urlaub machen, wenn du beim Arbeitsamt gemeldet bist?“
Ich maß sie mit einem Humphrey Bogart-Blick und erwiderte: „Jetzt leg´ mal ne Pause ein, Mädchen. Klar, darf ich das.
Außerdem hab´ ich noch die Kohle vom Motorradverkauf, das reicht doch für Urlaub.“
„Wird vermutlich unser letzter sein“, sagte sie.
Ich antwortete nicht und machte mir eine weitere Flasche Bier auf. Mein Gott, dachte ich und nippte daran. Geradewegs in die schlimmste Falle getappt, die einem diese Gesellschaft stellen konnte. Mit fast fünfzig den Job verlieren, das kommt einem Exitus gleich. Man findet nichts mehr, wird ins Räderwerk der staatlichen Verwaltungen eingesaugt und dreht sich sinnlos im Kreis. Ich verwarf den Gedanken. Immerhin konnte ich mit Hanne etwas dazuverdienen. Und ich hatte noch etwas Geld auf der Kante vom Motorradverkauf. Ganz so schwarz sah der Himmel nicht aus, obwohl dunkle Wolken aufgezogen waren. Wie lange das mit Jutta noch gut gehen würde - darüber wollte ich an diesem Abend lieber nicht nachdenken.
Teil 5
Es gab da einen Laden etwas außerhalb, in dem noch die alten Sachen gespielt wurden: Ten Years After, The Who, Santana, Rory Gallagher, Jimi Hendrix, die Stones und ähnliches. Der Wirt war selbst ein Freak und noch ein Stück älter als wir. Die Haare trug er immer noch über die Schultern, hatte einen beeindruckenden Bart, und ein deutlicher Bierbauch spannte sein Hemd. Er fuhr eine Harley und stand meist im Hemd mit aufgekrempelten Ärmeln und einer Lederweste hinterm Tresen.
„Hallo Charlie. Hallo Reiner“, begrüßte er uns.
„Hallo Wolfgang“, antworteten wir wie aus einem Mund.
„Bierchen?“
Wir nicken und setzen uns vor ihm an die Theke. Wolfgang besaß eine riesige Plattensammlung. Zehntausend Stück alleine hier im Thekenraum, die ganze Wand hinter ihm, hoch bis zur Decke mit Regalen voller Vinyl; und in seiner Wohnung sollten noch mehr stehen. CDs mochte er nicht; diese kleinen Silberlinge, wie er sie nannte, würde er niemals auflegen. Im Moment lief gerade Frank Zappa - die dritte Seite von Roxy & Elsewhere. Er zapfte uns zwei Bier, legte Bierdeckel auf den Tresen und stellte die Gläser darauf. Wir dankten mit knappem Nicken und hatten die Gläser sofort am Mund. Samstage sind zum Saufen da - das war früher, als es hier drin noch ziemlich wild zuging, ein geflügeltes Wort. Heute war es gemäßigter, aber noch immer sehr erträglich. Rap, Techno oder Pop spielte hier niemand. Entsprechend war das Publikum in unserem Alter; es kamen aber auch jüngere Leute, die der Atmosphäre etwas abgewinnen konnten.
Ich erzählte meinem Freund Reiner von meinem Job bei Hanne und von einer erfolgreich abgeschlossenen Arbeitswoche.
Er wollte wissen – wie fast jeder mit dem ich sprach, ob ich nicht wieder auf dem richtigen Arbeitsmarkt Fuß fassen wolle.
„Der richtige Arbeitsmarkt? Was soll das sein?“
Reiner sah mich verdutzt an: „Na, so ne richtige Arbeit, da draußen in der Welt.“
Er deutet mit ausgestrecktem Zeigefinger zur Tür.
„So mit morgens früh aufstehen und bis abends schuften, in ´ner offiziellen Firma, mit ´nem Chef und Mitarbeitern und ´ner Lohntüte am Monatsende?“
Ich trank einen Schluck, wischte mir den Schaum vom Mund und fügte hinzu: „Meinst du so etwas?“
Reiner nickte und sah mich an. „Ja, genau.“
„Weißt du, was ich langsam glaube?“, erwiderte ich.
Er schüttelte den Kopf.
„Dass es so eine Arbeit für mich nicht mehr geben wird. Mein Haltbarkeitsdatum ist überschritten - ich bin verdorben für diesen Markt.“
Reiner machte ein obszönes Geräusch mit dem Mund: „Blödsinn!“
Vielleicht sollte ich erwähnen, dass er zehn Jahre jünger war als ich, so wie Jutta, und mit dieser Frage noch nicht konfrontiert. Aber auch ihn konnte es treffen. Und wenn er seinen Job im entscheidenden Moment nicht halten konnte, drohte ihm die gleiche Falle: Erst ein bis zwei Jahre Arbeitslosengeld, dann Harz IV - eine direkte Fahrkarte aufs gesellschaftliche Abstellgleis. Besaß man Immobilien oder Erspartes, musste das erst verbraucht werden, bevor der Staat half. Dann hatte man nichts mehr. Ade, Altersruhe – dann konnte man weiter malochen, bis der Sankt Nimmerleinstag einen zur Beerdigung einlädt. Ich sagte zu Reiner nichts dergleichen; Samstag war schließlich zum Saufen da.
Wolfgang kam mit zwei weiteren Bieren zu uns, die wir bestellt hatten.
„Habt ihr Lust, bei uns zu spielen?“, fing er an. „In zwei Wochen treffen sich unsere Motorradfreunde. Wir stellen ein großes Zelt auf und bauen eine Bühne. Lichtanlage und PA werden von uns gestellt.“
Ich sah Reiner an. Er nickte und sagte zu Wolfgang: „Hört sich erst mal gut an.“
Reiner war Bassist in unserer Band. Ich spielte die Sologitarre und sang. Desweiteren gab es einen Keyboarder und einen Schlagzeuger.
Wir nannten uns Heart to Roll und waren in der Gegend bekannt genug, dass wir hin und wieder einen Gig ergattern konnten - so wie jetzt bei Wolfgang.
„Wie viele Leute kommen denn?“, fragte ich.
Wolfgang überlegte: „Wir rechnen mit drei bis fünfhundert.“
Reiner und ich machten große Augen.
„Drei Motorradclubs insgesamt, die sich die Kosten teilen“, fügte Wolfgang hinzu.
Er räusperte sich und sagte: „Sind auch viele andere Leute eingeladen, die kein Motorrad fahren, aber gut drauf sind.
Musik, wie ihr sie macht, wäre da genau richtig.“
Teil 6
Als ich in der Nacht nach Hause kam, brauchte ich eine ganze Weile, bis ich den Schlüssel ins Schloss gesteckt und die Tür geöffnet hatte. Ich ging ins Wohnzimmer und musste mich im Flur zweimal an der Wand festhalten, um nicht umzukippen. Im Wohnzimmer ging das Licht an, als ich unter der Tür stand; eine Frau saß dort. Ich sah auf die Uhr: 1:23.
„Was machst du denn noch hier?“
Jutta sah mich mit einem wenig wohlmeinenden Blick von oben bis unten an.
„Haste das bisschen Geld, das du verdient hast, gleich wieder versoffen?“
„Ich bin nicht betrunken“, lallte ich und hielt mich wieder irgendwo fest.
„Hab´ nur mit Reiner n paar Bierchen gekippt, auf meine erste Arbeitswoche bei Hanne.“
Jutta sah mich mit einem todesverheißenden Blick an.
„Und was ist in dieser Woche rumgekommen?“
„Meinst du an Geld?“
„Was denn sonst?“
Ich winkte ab und erklärte, die Sachen müssten erst verkauft werden, dann würde abgerechnet.
„Ein Drittel für mich, weil Hanne die Garage, den Bus und das Know-how hat.“
Es blieb bedrückend still im Raum, nur die Uhr tickte.
„Morgen treffen wir uns mit der Band“, sagte ich in diese Stille hinein. „Hab´ die Jungs schon angerufen.“
Ich ließ mich in den Sessel fallen, weil mir schwindlig wurde.
„Wolfgang macht eine große Feier mit seinen Jungs und sie wollen, dass wir …“
An der Stelle stand Jutta auf und ging aus dem Zimmer. An der Tür blieb sie stehen.
„Und was ist mit uns?“, sagte sie. „Ich hab´ gedacht, wir machen Morgen was zusammen; ist schließlich Wochenende.“
Ich wusste keine Antwort und starre sie nur an.
„Kotz mir bloß nicht auf den Teppich!“, sagte sie noch und verschwand ins Schlafzimmer.
Später, als ich mich aus den Klamotten gezwängt und die Zähne geputzt hatte, folge ich ihr ins Bett. Sie drehte sich von mir weg, als ich unter die Decke schlüpfte. Ich schmiegte mich trotzdem an sie und küsste ihren Nacken. Stimmt, dachte ich, den Sonntag hätte ich für uns frei halten sollen. Aber mit den Jungs von der Band hatte ich schon alles abgemacht. Wir hatten keine Wahl; wir mussten sofort mit den Proben beginnen, wenn wir in zwei Wochen spielen wollten.
Ich küsste ihr weiter den Nacken und fasste ihre Brüste an. Sie trug nur einen Slip. In meinem benebelten Kopf meinte ich, dass ich jetzt etwas Gutes tun sollte, wenn es morgen schon nicht klappen würde. Vorsichtig zog ich ihr den Slip nach unten, über den Po, über die Beine, an den Füßen vorbei, bis ich ihn in der Hand hielt. Dann drängte ich mich an sie; mein Glied hatte schon mitgekriegt was lief und war bereit.
Ich schob es zwischen ihre Pobacken und zwischen ihre Schenkel, ohne einzudringen. Aber sie reagierte nicht. Ich umfasse ihre Brüste mit beiden Händen und knetete sie sanft. Normalerweise wäre sie jetzt längst dabei gewesen. Doch diesmal blieb jede Reaktion aus. Als ich nachsah, ob sie eingeschlafen war, stieß sie mich mit dem Ellbogen zur Seite. Dann richtete sie sich auf, schnappte ihr Höschen und zog es demonstrativ wieder an. Sie sagte kein Wort, schaltete die Nachttischlampe ein und sah mich nur an – mit Blicken, die Blitze schleuderten. Schließlich löschte sie das Licht, legte sich unter die Decke und drehte sich wieder weg. Ich legte mich ebenfalls hin, drehte mich in die andere Richtung und versuchte zu schlafen. Doch unangenehme Gedanken hielten mich noch lange wach.
Teil 7
In der nächsten Woche musste ich bei Frau Frühstück antanzen. Sie hatte mir eine Einladung geschickt – mit dem freundlichen Vermerk, dass Kommen Pflicht sei, nach Paragraph sowieso … und dass andernfalls Geld gestrichen werde. Als ich in ihrem Zimmer saß, war sie nicht gleich da. Eine andere Frau hatte mich nach dem Klopfen hereingelassen. Sie bat mich Platz zu nehmen, setzte sich wieder an den Computer und schrieb weiter. Ich sah mich um, ein Amtszimmer aus dem Bilderbuch, in dem man den Schimmel meilenweit wiehern hörte. Die Wände waren depressiv beige, der Blick aus dem Fenster eignete sich auch nicht zu Freudensprüngen. Ansonsten nur Schränke und staubige, alphabetisch geordnete Akten.
Dann entdecke ich doch etwas: an einer Wand hing ein schönes Bild, abstrakt, ein wenig im Stil von Picasso. Ich betrachte es, bis Frau Frühstück ins Zimmer kam - der einzige Lichtblick, dieses Bild, in dieser ansonsten eher tristen Räumlichkeit.
„Ist das ´n echter Picasso?“ fragte ich spaßeshalber.
Sie sah das Bild an, dann mich, und erwiderte: „Wenn ich mir so ein Bild in echt leisten könnte, müsste ich wohl kaum hier sein und diese Arbeit tun.“
Dabei musterte sie mich von oben bis unten … und mit Subjekten wie Ihnen abgeben, durfte sie ja nicht sagen. Und ich durfte nicht sagen, dass sie ohne mich vermutlich gar keinen Job hätte.
Sie setzte sich und tippte mein Aktenzeichen ein. Dann blickte sie mich an und sagte: „Sie waren das letzte Mal vor sieben Wochen hier; das bedeutet, dass sie mir heute vierzehn Bewerbungen vorlegen. Ich nickte und kramte die Kopien aus der Tasche. Sie riss sie mir aus der Hand und begann mit feucht gemachtem Zeigefinger zu zählen.
„Das sind ja nur neun?“
Ich zucke mit den Schultern.
„Es waren nicht mehr Arbeitsangebote in der Zeitung“, sagte ich.
Sie sah mich an wie eine Schullehrerin.
„Vielleicht sollten Sie auch mal im Internet gucken, in der Jobbörse vom Arbeitsamt?“
„Tu ich doch!“
„Hier im Haus gibt es einen Raum, der extra dafür eingerichtet wurde.“
„Ist mir bekannt.“
„Waren Sie schon mal dort?“
„War ich.“
Sie legte die Bewerbungen beiseite und sah mich über den Rand ihrer Brille an.
„Hören Sie, Herr Semmel! Wenn Sie das nächste Mal nicht die vorgeschriebene Anzahl von Bewerbungen mitbringen, werde ich Ihnen einen Teil ihres Geldes streichen.“
Ich sagte okay, wäre der garstigen Krähe aber am liebsten mit dem nackten Arsch ins Gesicht gesprungen.
„Und was ist dabei heraus gekommen?“, unterbrach sie meine Gedanken.
„Keine Rückmeldung seitens irgendwelcher Arbeitgeber.“
„Sie haben also keine einzige Einladung zu einem Vorstellungsgespräch erhalten?“
„So ist es wohl!“
Sie griff nach einer meiner Bewerbungen und las sie. Dann ließ sie die Hand sinken, das Blatt segelte auf die Schreibtischplatte.
„Das wundert mich nicht. Sie müssen viel ausführlicher schildern, was sie gemacht haben, wie qualifiziert Sie sind - und vor allem, wie motiviert, eine neue Tätigkeit aufzunehmen.“
Sie räusperte sich.
„Heutzutage muss man sich auf die Hinterfüße stellen, wenn man etwas erreichen will!“
Ich nickte und sagte kleinlaut: „Man sollte in erster Linie das richtige Alter haben.“
Frau Frühstück starrte mich mit aufgerissenen Augen an.
„Wollen Sie damit sagen, dass …?“
„Genau das!“, antwortete ich, bevor sie den Satz beenden konnte.
Sie schwieg einen Moment und schien zu überlegen.
„Am besten wäre“, fuhr sie fort, „Sie zu einer Schulung zu schicken. Dort lernen Sie, wie man Bewerbungen und einen Lebenslauf richtig schreibt.“
Ich sagte nichts, dachte nur daran, dass ich in der Zeit nicht bei Hanne arbeiten konnte.
„Gehen Sie jetzt“, sagte sie. „Ich werde Ihnen das schriftlich zukommen lassen.“
Draußen dachte ich nur: Scheiße. Wenn ich Hanne sagte, dass ich drei oder vier Wochen ausfalle, würde sie mich bestimmt gleich wieder rauswerfen. Ich war gerade mal eine Woche bei ihr und fiel schon für längere Zeit aus. Ohne einen Nebenverdienst würde das Geld aber hinten und vorne nicht reichen. Ganz davon zu schweigen, was Jutta sagen würde, wenn ich plötzlich keine Kohle mehr hatte. Ich lief die Straße runter zur S-Bahn-Station, löste ein Ticket und setze mich auf eine der Bänke. Die Anzeige am Bildschirm meldete: fünfzehn Minuten Wartezeit.
Teil 8
Johann, der Keyboarder den wir Jo nannten; Adelbert, der Schlagzeuger, genannt Ade, und Reiner sahen mich an.
„Was machen wir denn jetzt?“, hatte Jo gefragt.
„Na, was schon? Jeder schnappt sich einen Arm oder ein Bein von dem Kerl und auf drei heben wir ihn da raus.“
Die anderen nickten, und wir taten, wie besprochen. Der Kerl war eine Riese, schwerer als ein Betonklotz und besoffen wie ein Schwein. Er hatte mit ein paar anderen auf einer Art Stange direkt vor uns gesessen; sie ließen eine Whiskyflasche hin und hergehen und hatten uns beim Aufbauen zugesehen. Sie gehörten zu der Motorradgruppe, die als erste angekommen war. Vereinzelt bauten noch andere Leute ihre Zelte auf, ansonsten war der Platz aber noch relativ leer. Als wir gerade unsere große Kabelkiste offen hatten und alles für den Auftritt bereit legen wollten, war der Kerl von der Stange gefallen, genau in unserer Kiste.
Wir brachten ihn ein Stück aus der Gefahrenzone, damit er uns nicht im Weg lag. Er war völlig benommen und nicht wachzukriegen. Schließlich übernahmen die whiskygetränkten Motorradkameraden, die mit ihm auf der Stange gesessen hatten, und kümmerten sich um ihn. Wir machten weiter. Eine PA- und Lichtanlage stand bereits, darum hatte sich Wolfgang, wie versprochen, gekümmert. Die Tontechniker richteten ihre Station am anderen Ende gegenüber der Bühne ein; dort stand ein riesiges Mischpult, das sie verkabelten. Wir bauten hinten auf der Bühne unsere Verstärker auf und nahmen sie mit Mikrophonen ab, damit der Sound später über die PA-Boxen nach vorne kommen konnte. Ada stellte sein Schlagzeug auf, Reiner und ich kümmerten uns um die Effektboards und packten dann die Instrumente aus. Jo wurde mit seinem Keyboard angeschlossen. Einer der Tontechniker bat ihn, das Instrument über die Line out-Buchse direkt in den Mixer zu führen. Er bekam eine extra Monitorbox, um sich zu hören. Wir verließen uns auf die Jungs. Wenn sie ihren Job verstanden - und sie sahen so aus - würden wir heute Abend ziemlich gut klingen. In den Clubs genossen wir den Luxus einer eigenen PA nicht; einen Mann am Mischpult konnten wir uns auch nicht leisten, zu wenig Gage. Da die Dimension jedoch wesentlich kleiner war, ging es auch ohne.
Wolfgang kam in voller Montur auf die Bühne, in Lederklamotten, Stiefeln und mit einem Harley-Davidson-Käppi.
„Hi Leute!“, rief er, als er seinen massigen Körper die Treppen hochwuchtete. Wir klatschen nacheinander gegen seine rechte Handfläche.
„Alles fit im Schritt?“, wollte er wissen.
Wir nickten. „Fit wie bei Brad Pitt“, antwortete Ada.
Er hatte sein Schlagzeug inzwischen aufgebaut, hielt die Stöcke in der Hand und machte ein paar Probeschläge auf Snare, Toms und Becken. Wolfgang hatte sich neben ihn gestellt und sah ihm fasziniert zu. Reiner stöpselte den Bass ein und spielte ein paar Läufe; ich nahm die Gitarre und legte mit einem improvisierten Solo los - spontane Sessions waren immer noch die besten, und man gewöhnte sich so an die Klangverhältnisse. Ein paar Zuhörer versammelten sich vor der Bühne, klatschen, als wir fertig waren. Wolfgang klatschte mit. „Wie es aussieht“, meinte er, „seid ihr gut drauf.“
Wir nickten. Er zog einen Zettel aus der Tasche und erklärte: „Ich habe hier ein paar Songs aufgeschrieben, die der eine oder andere heute Abend gerne hören würde.“
Ich nahm ihm das Stück Papier aus der Hand und las laut vor: „Satisfaction, Stairway to heaven, Magic bus, Hey Joe, Layla und natürlich Knocking on heavens door.“ Zeug, das wir größtenteils sowieso in unserem Programm hatten. Zum Glück, die Zuhörer wollte man ja nicht enttäuschen.
Teil 9
„Mit der Musik wird´s auch bald aus sein“, nahm Jutta den Gesprächsfaden wieder auf.
Ich sah sie von der Seite an und fragte: „Womit ist es denn sonst noch bald aus?“
Sie blickte mich einen Moment an, als würde sie darüber nachdenken. Dann räuspert sie sich, gab aber keine Antwort. Vielleicht wollte sie mir ankündigen, dass es mit uns bald zu Ende ist. Ganz der klassische Abstieg: Arbeitslos, kein Auto mehr, die Freundin haut ab und die Hobbies sind wegen Geldmangel nicht mehr möglich. Und dann kauft man sich vom letzten zusammengekratzten Geld den Revolver und setzt den Schlusspunkt?
„Warum sollte ich mit der Musik aufhören?“, fragte ich.
„Vielleicht, weil du kein Auto mehr hast und die anderen dein Zeug mit transportieren und dich anschließend jedes Mal nach Hause fahren müssen.“
Sie sah mich an: „Und deine teuren Gitarren, Verstärker und Effektracks – wenn da etwas kaputt geht, wie willst du die Reparaturen bezahlen?“
So ganz unrecht hatte sie nicht, aber ich hatte ja immerhin noch den Job bei Hanne; da verdiente ich genug, das hoffe ich wenigstens. Ich werde für diesen Fall etwas zur Seite legen, nahm ich mir vor. Und so oft spielten wir ja auch nicht, dass es die anderen störte, mich hinterher nach Hause zu kutschieren.
„Kennst du das?“, frage ich sie. „Verlier´ deine Träume und du verlierst dein Leben.“
Jutta sah mich mit großen Augen an. Dann sagte sie: „Träume können sich auch in Albträume verwandeln.“
Ich beschloss, darauf keine Antwort zu geben. Dass Jutta überhaupt gekommen war, wunderte mich. Sie mochte unsere Musik, das wusste ich. Aber wenn man mit seinem Freund getrennte Betten hatte, war es nicht mehr selbstverständlich, dass man seine Konzerte besuchte. Oder war sie nur gekommen, um mir zu sagen, dass es so etwas wie Musik – meine Träume - für mich bald nicht mehr geben würde?
Juttas Freundinnen kehrten zurück. Kaum standen sie bei uns, entschuldige ich mich, weil ich wieder auf die Bühne musste. Die Pause war längst vorbei. Ich hörte Ada bereits das Schlagzeug bearbeiten; höchste Eisenbahn. Jo und Reiner standen auch schon in Position, als ich die Bühne betrat. Sie straften mich mit Blicken. Man sollte das Publikum nicht zu lange warten lassen und die Musikerkollegen ebenso nicht. Hastig gurtete ich mir die Stratocaster um, schloss sie an den Verstärker an und trat ans Mikrofon.
„So, Leute! Wie ihr sehen könnt, geht es jetzt weiter.“
Im Publikum brandete freudiges Johlen auf. Die Reihen vorne waren jetzt noch dichter gefüllt als beim ersten Set. Ein paar Leute hielten Handys hoch und filmten. Ich stellte mich in Pose und lieferte ihnen Motive. Dann legten wir mit Summertime Blues in der Version von The Who los und hatten das Publikum sofort auf unserer Seite. Beim Gitarrensolo ahmte ich die ekstatischen Bewegungen von Pete Townsend nach und fegte wie ein Wirbelwind über die Bühne. Mit langen, flatternden Haaren, vorne schon recht schütter, wirbelte ich herum. Ich trug eine hautenge Lederhose, eine Wildlederfransenjacke und Cowboystiefel, als wäre ich zwanzig Jahre jünger. So fühlte ich mich auch. Um den Euphorie hochzuhalten, trumpften wir danach mit zwei Cream-Nummern auf: Strange Brew und Crossroads. Anschließend brachten wir zwei Stücke aus Wolfgangs Wunschliste. Er stand am Bühnenrand, Daumen hoch, und rief uns etwas Zustimmendes zu. Ein extra Applaus des Publikums erging schon bei der Ansage der Stücke, noch bevor wir damit los legten.
Jutta und ihre beiden Freundinnen standen wieder ganz vorne und tanzen in einer Gruppe von anderen Leuten. Überhaupt schien inzwischen alles zu tanzen. Manche Kerle hatten ihre Mädchen auf den Schultern; dort johlten sie und wedelten mit den Armen im Takt. Ganz vorne versuchten welche die Bühne zu stürmen, aber Wolfgangs Jungs passten auf und drängten sie zurück. Ich lächelte meine Freundin Jutta an, als sie zu mir hochsah; sie lächelte zurück. Vermutlich die einzige Situation, in der das noch möglich war. Vielleicht, dachte ich kurz darauf, sollte ich ihr besser die kalte Schulter zeigen und einen Flirt mit einer anderen beginnen – vor ihren Augen. Sie würde es sich dann vielleicht anders überlegen, einen „Rockstar“ wie mich in die Wüste zu schicken. Ich könnte ihr damit aber auch einen Grund liefern, mich endgültig abzuschießen.
Teil 10
Später, in der Pause, war Jutta nicht mehr da – ihre Freundinnen waren offenbar auch gegangen. Ich stand am Getränkestand und kam mit zwei Motorradfahrern ins Gespräch. Nicht über Musik, über Maschinen. Ich machte ihnen klar, dass ich bis vor Kurzem selbst Biker gewesen war. Sie fragten warum ich nicht mehr fuhr, und ich erzähle ihnen, dass ich arbeitslos geworden sei und keinen Job mehr finde. Der eine, schon über fünfzig, kannte das. Er hatte seinen Job auch verloren, war aber bei einem Onkel in dessen Firma untergekommen. Ich gratulierte ihm zu so viel Glück.
Im dritten Set gaben wir von A-Z Vollgas. Gleich zu Beginn spielten wir die restlichen Nummern von Wolfgangs Wunschliste und ernteten dafür schon im Vorfeld extra starken Applaus. Dann brachten wir zwei eigene Stücke: eine Rockballade mit deutschem Text und einen Boogie, der ordentlich abging. Die perfekte Überleitung zu Stücken wie Satisfaction, Smoke on the Water, Hey Joe und Layla, die danach kamen – genau das Repertoire, das man von einer Rockband unseres Kalibers erwartete. Als wir gegen ein Uhr nach der x-ten Zugabe das Konzert erfolgreich beendet hatten, war zum Glück Entspannung angesagt. Zum Schluss standen wir Musiker Arm in Arm vorne auf der Bühne und verbeugten uns, begleitet vom tosenden Applaus des Publikums. Danach gingen die Bühnenlichter für diesen Tag aus. Das Equipment blieb auf seinem Platz, weil wir am nächsten Morgen noch einmal spielen sollten; ein Rockfrühstück war geplant.
Wir Musiker hatten für heute erst mal Feierabend und mischten uns unter die Leute. Am Getränkestand kam ich mit einem Mädchen ins Gespräch, das mir etliche Komplimente machte, wie gut unsere Musik sei. Sie gefiel mir: langes Haar, schlank, hübsches Gesicht. Ob ich Chancen bei ihr hatte? Wir redeten die ganze Zeit, wie im Fieber. Ihren glänzenden Augen und meiner Euphorie nach zu urteilen, steckten wir mitten im heftigsten Flirt. Mein Herz hüpfte, und ich überlegte ernsthaft, ob ich es versuchen sollte. Sie trank nur Weißwein; ich hielt mit, obwohl ich lieber Bier trank. Sie war bestimmt zehn Jahre jünger als ich, wie Jutta. Verdammt, dachte ich, warum musste ich ausgerechnet jetzt an Jutta denken? Warum war sie überhaupt so schnell verschwunden? Ich schob die Gedanken beiseite und widmete mich wieder meiner Eroberung.
Ein Motorradfahrer gesellte sich eine Weile später zu uns und küsste das Mädchen, mit dem ich mich die ganze Zeit unterhalten hatte.
Mir blieb der Mund offen. „Darf ich dir meinen Freund vorstellen?“, sagte sie.
Ich schloss den Mund wieder und gab ihm die Hand, was sollte ich sonst tun? Er nahm seine Freundin in den Arm und sagte: „Lass´ uns gehen, meine Kumpels warten.“
Sie nickten mir zum Abschied zu und liefen los. Ich blieb zurück wie der berühmte begossene Pudel und starrte ihnen hinterher, bis sie aus meinem Blickfeld verschwunden waren. Rockstars bekamen eben auch nicht alles, was sie wollten.
Ich ließ den Rest Weißwein stehen und suchte nach den anderen. Auf dem Platz herrschte überall Halli-Galli. Etliche Leute waren noch auf den Beinen oder saßen um eines der Feuer, die überall loderten. Wahrscheinlich würden viele hier in den aufgebauten Zelten übernachten, um am Morgen gleich wieder vor Ort zu sein, wenn es Frühstück und Musik gab.
Hier und da erkannte mich jemand und rief mir einen Gruß zu. „Spielt ihr nochmal, Charlie?“, schrie einer mit offensichtlicher Schlagseite. „Morgen früh!“, brüllte ich zurück und ein paar Leute lachten. Sie saßen um ein Feuer, tranken und unterhielten sich. Einer hatte eine Gitarre und gab ein Lagerfeuerlied zum Besten. Ich winkte ihnen zu und lief weiter.
„He, Charlie!“, rief erneut jemand. Es war Reiner. Ich ging zu ihm, da standen auch Wolfgang, ein paar Motorradfahrer und die anderen Musiker. Sie hatten sich ebenfalls um ein Feuerchen versammelt. Wolfgang schob mir eine Flasche Bier rüber - genau das Richtige jetzt, nach all dem Wein. Ich machte sie mit dem Feuerzeug auf, stieß mit den anderen an und trank einen Schluck.
Zuletzt bearbeitet: