Einsamer Mund

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mehlwurm

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„Wusstest du, dass es im Japanischen ein extra Wort für die Sehnsucht gibt, etwas im Mund zu haben oder sich etwas in den Mund zu stecken?“, sagte Chiyo. Ich nickte. Das hatte ich schon irgendwann irgendwo gelesen. Chiyo beachtete mein Nicken nicht. „Kuchisabishii, das könnte man auch mit ‚einsamer Mund‘ übersetzen.“ Ich nickte und fühle mich einfältig dabei, was mir oft passierte, wenn ich mit Chiyo zusammen war. Ich saß an diesem Sonntagmorgen noch etwas verschlafen an ihrem Küchentisch und sah zu, wie sie unsere Kaffeetassen abwusch. Sie hatte die Angewohnheit, immer sofort alles abzuwaschen, denn an das, was erledigt ist, musste sie nicht mehr denken. „Das Denken spare ich mir für die wichtigen Dinge“, sagte sie immer. Ich beobachtete sie gerne beim Abwaschen. Alles schien einem inneren Rhythmus zu folgen, als würde das Geschirr nach Chiyos Melodie tanzen. Heute war das Ritual schnell vollendet. Erst die Tassen kurz mit Wasser ausspülen, dann die beiden Löffel und die beiden Tassen mit dem Schwamm dreimal einseifen und zuletzt mit sauberem Wasser nachspülen.

Chiyo trug heute ihr silbernes Kleid. Das hieß wohl, sie hatte Lust, etwas zu unternehmen, ein Abenteuer zu erleben, etwas Außergewöhnliches zu tun. Es lag in ihrer Natur, auf jedes Detail zu achten. „An den Details erkennst du das wahre Wesen eines Menschen“, war eine ihrer Lebensphilosophien. Blau wählte sie für einen gemütlichen Tag daheim auf dem Sofa. Schwarz, wenn sie die Alpträume wieder eingeholt hatten. Die grauen Tage waren die schlimmsten, aber die gab es zum Glück nur selten.

„Willst du heute mit mir verreisen?“, fragte sie mich, als sie die fertig getrockneten Tassen ins Regal stellte. „Heute… verreisen“, wiederholte ich und fühlte mich schon wieder einfältig. „Ja“, sagte sie und lachte. Wenn sie lachte, zeigte sie immer auch ihr oberes Zahnfleisch, als würde sie die Zähne fletschen. So hatte sie schon als Kind gelacht. Das hatten alle Erwachsenen immer niedlich gefunden. Später, da waren wir in der ersten oder zweiten Klasse Volksschule, wurde sie dafür gehänselt. Aber sie hatte dazu nur gelacht und ihre Zähne gezeigt. Und die Kinder hatten aufgehört, sie damit aufzuziehen. Es machte sowieso keinen Spaß, jemanden zu ärgern, der sich nicht ärgern ließ. Nur ich schämte mich im Stillen und schämte mich, dass ich mich schämte.

„Ich würde heute gerne etwas erleben. Irgendwohin fahren, ohne vorher das Ziel zu kennen oder etwas zu planen.“ Sie wusste, dass ich ihr sowieso keinen Wunsch abschlagen konnte, aber sie redete weiter. „Wir fahren einfach zum Bahnhof, kaufen uns ein Einfach-Raus-Ticket und nehmen den ersten Zug, der wegfährt.“ „Und wo willst du aussteigen?“, fragte ich, um mich noch misstrauisch zu geben. Ich liebte ihre Einfälle, aber ich wollte nicht den Eindruck vermitteln, sie könne frei über mich verfügen. „Wir werfen einen Würfel und steigen an der Station aus, die der Würfel anzeigt“. Ich nickte.

Ich war gerne am Bahnhof. Gerade in diesem anonymen Treiben konnte ich mich als Teil von etwas Größerem fühlen. Chiyo war ganz auf die Anzeigentafel konzentriert und schien den äußeren Trubel gar nicht wahrzunehmen. „In zehn Minuten fährt ein Zug nach Spielfeld-Straß, den nehmen wir.“ Ich nickte. „Gleis 4D bis F“, sagte sie noch und ging zielgerade zum angegebenen Bahnsteig. Weil ich wusste, dass sie am liebsten im Waggon direkt hinter dem Schaffner saß, folgte ich ihr ohne Eile.

Eine Frau rief nach ihrem Sohn: „Oskar! Oskar! Komm sofort her! Oskar!“ Ihre Stimme überschlug sich. Doch Oskar lief hinter einem Hund mit rot-weißem Fell her. „Wusstest du, dass diese Hunde ursprünglich aus Japan kommen?“, fragte Chiyo, als ich sie eingeholt hatte. Ich schüttelte meinen Kopf. Gemeinsam stiegen wir in den Zug ein und wählten den Platz in der äußeren linken Ecke.

Beide am Fenster, Chiyo mit Blick auf die Fahrerkabine, saßen wir einander gegenüber. Chiyo holte einen Würfel aus ihrer Handtasche hervor, einen großen Holzwürfel. „Den hat mir meine Oma zu meinem sechsten Geburtstag geschenkt“, sagte sie und würfelte. „Eine vier“. Ich wollte sie fragen, welche Oma ihr den Würfel geschenkt hatte. Die Zaun-Oma, die einmal, als sie schon älter und etwas wacklig auf den Beinen war, mit dem Fahrrad in unseren Zaun gefahren war und eine Latte herausgebrochen hatte oder die japanische Oma, die ich einmal gemeinsam mit Chiyo in den Schulferien besucht hatte. Aber Chiyo las aufmerksam den Zugfahrplan. „Die vierte Station ist der Flughafen“, sagte sie. Danach streckte sie die Beine von sich und schloss die Augen.

Sie öffnete sie erst wieder, als wir am Feldkirchner Bahnhof ankamen. „Da wären wir“, sagte sie, stand auf und stieg aus dem Zug, ohne sich noch einmal umzudrehen. „Durch die Unterführung, nach rechts, dann sind wir gleich beim Flughafen.“ Ich folgte ihr. Wie immer musste ich lächeln, als ich den Grazer Flughafen erblickte. Er wirkte sogar für ein Shopping Center zu klein. Auch als wir ihn betraten, wollte aufgrund der Ruhe keine Flughafen-Atmosphäre aufkommen. Da war am Bahnhof mehr losgewesen. Trotzdem widmete sich Chiyo dem Flughafen mit ganzer Aufmerksamkeit. „Schau, hier gibt es sogar Stadtpläne von Graz“, sagte sie und steckte sich einen ein. Danach schlenderten wir durch die Eingangshalle und betrachteten den Check-in. Eine Schlange aus fünf Männern, alle im Anzug, hatte sich vor einem Schalter gebildet. Der Flug ging nach Frankfurt.

Gerade als ich Chiyo darauf aufmerksam machen und sie an unsere gemeinsame Reise zu ihrem Vater, der seit einigen Jahren in Frankfurt lebte, erinnern wollte, rief sie voller Freude aus: „Komm, den nächsten Start können wir noch schaffen!“ Sie war schon halb auf der Treppe Richtung Aussichtsterrasse, als ich ihr folgte.

Nachdem das Flugzeug aus unserer Sicht verschwunden war, tranken wir noch einen Kaffee im Flughafen-Cafe. „Gar nicht übel“, sagte Chiyo und lächelte. Als wir zurück am Bahnhof waren, stellten wir fest, dass der nächste Zug nach Graz erst in einer dreiviertel Stunde fahren würde. „Dann fahren wir halt noch weiter Richtung Spielfeld“, sagte Chiyo. Ich nickte, bisher hatte der Tag mir Spaß gemacht.

Als der Zug im Bahnhof einfuhr, sagte Chiyo: „Eine Sechs“, und stieg ein. Während der Zugfahrt machte mich Chiyo auf jede Krähe aufmerksam, die sie erblickte. Ihre Wohnung war mit unzähligen Krähenfedern geschmückt. „Die Hüter der Unterwelt“, sagte sie und lächelte. Ich sah auf der Fahrt auch noch ein Entenpaar und mehrere Bussarde. Als ich sie Chiyo zeigte, lächelte sie und nickte. Dann blickte sie weiter nach Krähen. „27“, sagte sie beim Aussteigen. Und ich wusste, sie meinte die Anzahl der Krähen.

Chiyo zählte gerne. Wenn wir essen gingen, was selten vorkam, weil sie lieber selbst kochte, zählte sie immer die Speisen auf der Speisekarte. Und manchmal, wenn sie sich nicht entscheiden konnte, bat sie mich, eine Zahl zu sagen und bestellt dann dieses Gericht. Auch wenn sie nicht einschlafen konnte, zählte sie. Es schien sie zu beruhigen. Nur wenn sie ihr graues Kleid anhatte, zählte sie nicht. „Zählen macht keinen Sinn“, sagte sie dann. „Es bleibt doch alles unsicher.“

Doch heute war ein silberner Tag, und wir stiegen in Leibnitz aus dem Zug aus.

Abends lagen wir nebeneinander, wie wir das schon als kleine Kinder getan hatten, in der Hängematte, die sie auf ihrem Balkon befestigt hatte. „Morgen muss ich arbeiten“, sagte ich und wollte aufstehen. „Arbeiten kannst du jeden Tag.“ Ich blieb. Als ich schon fast eingeschlafen war, hörte ich Chiyo „Ich liebe dich, Sophie“ flüstern. Ich antwortete nicht und tat so, als würde ich schon schlafen. Eine Antwort hätte nur alles kompliziert gemacht. So konnte ich einfach die Wärme ihres Körpers genießen.

Morgens, als ich erwachte, war sie schon weg, und ich musste mich beeilen, rechtzeitig zur Arbeit zu kommen. Danach sahen wir uns mehrere Tage nicht. Das war nichts Ungewöhnliches. Manchmal trafen wir uns jeden Tag, dann wieder mehrere Tage nicht.

Am Donnerstagabend nach der Arbeit läutete ich bei Chiyo. Sie öffnete mir mit einem neuen blauen Kleid. „Ich koche gerade Nudeln. Willst du auch welche?“, sagte sie. Ich nickte und trat ein. Sie kaufte selten neue Kleider. Obwohl eigentlich nichts anders war als sonst, war ich verwirrt. Lag es am neuen Kleid? Erst konnte ich die Atmosphäre um Chiyo nicht einordnen. Als ich erkannte, dass es Distanz war, war ich noch verwirrter. Distanziert war sie noch nie gewesen. Nicht einmal an ihren grauen Tagen. Schweigend folgte ich ihr in die Küche. Verstohlen betrachtete ich ihr neues Kleid. Es war hinten mit einer weißen Schleife gebunden.

Als ich sie fragte, wie ihre letzten Tage waren, blieb sie unbestimmt, und sie fragte auch nicht, was bei mir los war. Eigentlich war auch nichts losgewesen. Ich hatte gearbeitet und danach zu Hause gelesen. Also schwieg auch ich.

Nachts träumte ich vom Meer. Tief und dunkel lag es vor mir. Auf dem Meer trieb ein kleines weißes Schiff. Als ich erwachte, war ich traurig. Ich stand auf, ging ins Bad und betrachtete mein Gesicht im Spiegel. Das hatte ich als Kind schon immer getan, wenn ich mich verloren gefühlt hatte. Ich hatte versucht, mich in meinem Spiegelbild wiederzufinden. Doch da war nichts. Leere Augen blickten mir entgegen. „Ich werde heute Abend ausgehen“, dachte ich und lächelte mir zu. „Wahrscheinlich brauche ich nur etwas Ablenkung, Spaß und einen Mann.“

In der Mittagspause sprach ich meine Kollegin Sabine an. „Gut, bis heute Abend um elf in der Postgarage.“ Eigentlich mochte ich keine Clubs, zu laut, zu stickig, zu viele Menschen. Aber ich tanzte gerne – und es war leicht, dort einen Mann kennenzulernen.

Als Robert, der mir schon beim ersten Blickkontakt aufgefallen war, mich fragte, ob ich noch mit zu ihm etwas trinken kommen wollte, wollte ich. Er hatte fast schwarze Haare, dunkle Haut und braune Augen. Er gefiel mir. Wir machten uns nicht mal mehr die Mühe, etwas zu trinken. Als er eingeschlafen war, hinterließ ich meine Nummer und ging. Nachts träume ich von Chiyo. Sie blickte mir aus meinem Spiegelbild entgegen.

Ob Chiyo je mit einem Mann ausging, wusste ich nicht. Zumindest sprach sie nicht darüber, und ich fragte nicht danach. Es schien eine graue Wolke darum zu schweben. Ich beließ es dabei.

Als ich zwei Tage später bei Chiyo war, und wir gemeinsam Eis aßen, rief Robert an. Er wolle mich am übernächsten Abend zum Essen zu sich nach Hause einladen. Ich fragte mich, ob er sich die Mühe machen würde zu kochen, und sagte zu. Chiyo fragte nicht, wer es war, und ich erzählte auch nicht von ihm. Es hätte sowieso nichts zum Erzählen gegeben. Den restlichen Abend redete ich mit Chiyo über die Bücher, die wir gerade lasen.

Ich war erstaunt, als ich in Roberts Wohnzimmer einen prall gefüllten Tisch vorfand. Zum Glück hatte ich davor doch ein Kleid gewählt – „elegant, aber nicht aufdringlich“, hatte es Chiyo kommentiert, als wir es gemeinsam eingekauft hatten –, denn auch er trug Jeans und ein perfekt geschnittenes Hemd. Es gab türkische Vorspeisen. „Meze“, wie er sagte. Im Bett ließen wir uns heute mehr Zeit. Ich verließ seine Wohnung, als er eingeschlafen war.

Dann hörte ich nichts mehr von ihm und, um ehrlich zu sein, dachte ich auch nicht an ihn, bis mir Chiyo von einer Dokumentation über die Türkei erzählte, die sie gestern gesehen hatte. Es ging um die Ausgrabungen in Çatalhöyük in Anatolien. „Ist das nicht erstaunlich?“, sagte Chiyo, und ich nickte. In Gedanken war ich noch bei Robert. Sollte ich ihn anrufen oder nicht? Immer wenn es um Männer ging, war ich unbeholfen. Ich konnte auch mit niemanden darüber reden. Chiyo interessierte das Thema nicht, und mit Sabine redete ich nicht über Gefühle. Meine anderen Arbeitskollegen waren alles Männer, was als Programmiererin auch nicht anders zu erwarten war. Als ein Arbeitskollege einmal Avancen gemacht hatte, mit mir auszugehen, entschied ich mich, es zu übersehen. Ich trennte gerne Berufs- und Privatleben. Und er war nicht mein Typ.

Während Chiyo weiter über die jungsteinzeitlichen Ausgrabungen in der Türkei sprach, nahm ich mir vor, Robert am nächsten Tag anzurufen. Dieses Mal gingen wir ins Kino, und morgens wachte ich neben ihm auf. Er lächelte und brachte mir den Kaffee ans Bett. Dort blieben wir dann auch den restlichen Tag.

Abends wollte ich eigentlich zu Chiyo gehen, hatte dann aber doch keine Lust. Lieber wollte ich am Sofa liegen und ein bisschen in meiner NEON blättern, die Chiyo als „Lektüre für Pseudo-Individualisten“ bezeichnete.

Am nächsten Tag wurde ich durch die Türklingel geweckt. Ich wunderte mich, wer mich am Sonntag um neun Uhr besuchen kommen sollte. Chiyo stand vor der Tür. Im silbernen Nachthemd. Ich hatte sie noch nie in diesem Nachthemd gesehen. Erst wusste ich nicht, was ich tun sollte, denn normalerweise besuchte ich sie in ihrer Wohnung, die direkt neben meiner lag. Das hatten wir zwar nie besprochen und eigentlich machte ich mir auch keine Gedanken darüber, aber es schien eine Art Gesetz zu sein, dass ich sie besuchte und nicht umgekehrt. Vielleicht auch nur, weil ihre Wohnung einen Balkon hatte und größer war, dachte ich, als ich sie hereinbat. Sie folgte mir ins Wohnzimmer, das auch mein Ess- und Arbeitszimmer war. Chiyo blieb im Raum stehen. Ich machte eine einladende Geste Richtung Sofa, und sie setzte sich, grazil wie immer.

Ich setzte mich ihr gegenüber und sah sie an. Sie schaute aus dem Fenster und schwieg. Als mir das Schweigen unangenehm wurde, fragte ich sie, ob sie einen Kaffee wolle. Sie lehnte ab und blickte weiter aus dem Fenster. „Ich werde meinen Job wechseln“, sagte sie endlich. Ich war erstaunt. Wir hatten zwar nie viel über ihren Job gesprochen, aber es schien mir immer so, als wäre sie, wenn nicht glücklich, so doch zumindest nicht unglücklich mit ihm. „Und was willst du stattdessen machen?“, fragte ich sie. „Ich werde zu meiner Mutter nach Japan fahren. Und dann sehe ich weiter.“ Sie blickte mich an. In Japan war sie schon seit Jahren nicht mehr gewesen. Mit ihrer Mutter, die, als Chiyo und ich noch Kinder waren, ohne Mann und Kind nach Japan zurückgekehrt war, hatte sie keinen engen Kontakt. Für mich ergab dies alles keinen Sinn. „Warum?“, fragte ich sie. „Weil hier auch Silber nur ein grelles Grau ist“, sagte sie.

Ich wollte sie fragen, ob dies denn in Japan anders sei. Ich wollte ihr sagen, dass auch dort die Einsamkeit ihres Mundes nicht gestillt werden würde. Ich wollte sagen, dass ich sie vermissen würde. Nein, ich wollte mich an sie klammern, sie schütteln und sie anschreien, dass ich mir ein Leben ohne sie nicht vorstellen konnte. Ich wollte bitten und betteln, dass sie blieb. Doch ich schwieg. Auch Chiyo sagte nichts mehr und ein sanftes Lächeln überzog ihr Gesicht.
 



 
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