Einunddreißigster Oktober

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lietzensee

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Einunddreißigster Oktober​

Es war wieder so weit. Er schob seinen Rollator über den gekiesten Weg. In den Bäumen hing die Nacht und aus der Ferne klang Gesang. Schon merkwürdig, dass dieses Fest für ihn nun Weihnachten als Höhepunkt des Jahres ablöste.
Als er den Stein erreicht hatte, musste er sich setzen und warten, bis der Puls in seinen Schläfen wieder sanfter klopfte. Durch die Büsche hindurch schallte mexikanische Musik. Er zündete eine Kerze an, stellte sie aufs Grab und blickte in ihrem Licht auf seine Armbanduhr. Dreiundzwanzig Uhr fünfundvierzig, an jedem anderen Tag würde er jetzt schon schlafen. Aber heute war der einunddreißigste Oktober. Aus dem Korb des Rollators nahm er einen Strauß rote Rosen.
"Guten Abend", eine Gestalt trat aus dem Schatten heraus und setzte sich neben ihn auf den Stein, "hast du dir frische Socken angezogen?"
"Ja", antwortete er, noch etwas befangen.
Sie lachte. Auch ohne Lippen konnte ihr Lachen ihn noch immer der Lüge überführen. "Na wechsle die Socken wenigstens einmal die Woche, Herbert."
Dann legten sie ihre Hände nah nebeneinander und blickten auf das Flackern der Kerze.
"Wie geht es dir?", fragte er.
Sie plauderte wie früher. Es war alles in Ordnung und für ihn kein Grund zur Sorge. Die Grabstelle war gut gewählt und der von ihm gekaufte Sarg zerfiel zu weichem Boden. Freilich, manchmal zwickte und zwackte es noch. Würmer, die zappeligen Gesellen, zupften Fleischreste von ihren Knochen. Doch damit würde es ja bald vorbei sein. Letztens hatte eine Wühlmaus ihr Schienbein verschoben. Das war ärgerlich, denn Unordnung hatte sie noch nie leiden können. Aber man gewöhnte sich an alles. Sie sah ihn an und das Kerzenlicht schien durch ihre Augen.
Nebenan war jetzt das Ehepaar Müller eingezogen, noch junge Leute, ein Autounfall. Sie waren nette Menschen und durchaus intelligent, aber leider auch anstrengend. Bohrte da ein Fleischkäfer oder eine Fliegenlarve? War er gerast oder hatte sie ihn beim Fahren abgelenkt? Ihre endlose Zeit verschwendeten sie mit endlosen Streitereien.
Aber, sagte sie, weil sie immer das Positive sah, so hatte sie Gesellschaft und langweilig konnte ihr gar nicht werden, weil er das Grab schön bepflanzt hatte. Es war hochinteressant, wenn im Oktober nur noch welke Blätter über der Erde raschelten, schimmerten die Wurzeln darunter noch immer in zartem Weiß. Sie flochten sich wie Seidenfäden durch die Erde und ...
Da drehte ihr Schädel sich nach seiner Uhr: "Bitte entschuldige, schon kurz vor Zwölf. Hier unten hat man halt weder Zeitgefühl, noch Armbanduhren. Erzähl noch, was es bei dir Neues gibt."
Er streckte seine Hand aus, wagte jedoch nicht, sie zu berühren. Vom Kinderfriedhof drang Lachen herüber. "Nicht viel", sagte er dann, "ich warte halt, bis ich zu dir kommen darf." Die Uhr schlug zwölf. Die Kerze erlosch und er schob seinen Rollator zurück nachhause.
 

Matula

Mitglied
Teils grauslich, teils komisch ! Und apropos "mexikanisch": für mich zu den roten Rosen bitte ein Totenschädel aus Marzipan mit schöner Verzierung !

Herzliche Grüße,
Matula
 
Hallo lietzensee,

eine schöne Halloween-Geschichte! Zum Gruseln finde ich sie eigentlich gar nicht.
Aber es ist schon komisch, wie wir Lebenden uns das vorstellen -als ob Tote sich noch für Socken oder Gezanke interessieren würden - ich habe auch schon in dieser Art gedacht... (also mir vorgestellt, dass sich zwei kurz nacheinander Verstorbene im Jenseits zanken würden, über völlig weltliche Sachen. Ich glaube nicht, dass es so ist.)

LG SilberneDelfine
 



 
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