Eis und Heiß

Ruedipferd

Mitglied
Unterm Regenbogen

„Bääh!“ Angewidert von seinem Spiegelbild steckte sich Toni die Zunge aus. Fürchterlich! Das bin nicht ich, dachte er verzweifelt, während er sich kerzengerade vor dem Spiegel lang nach oben streckte und den eigens in der Stadt gekauften Hüftgürtel in Brusthöhe vor sich hielt. Er musste die Brust so flach es ging abbinden. Keine noch so geringe Wölbung durfte ihn verraten. Wie immer in Momenten wie diesen, fühlte er sich hundeelend. Er spürte wie ihn die fremde Person im Spiegel herunterzog. Starr blickte sie auf ihn herab und die Welt um ihn herum fühlte sich unwirklich an. Der Spiegel konnte nichts dafür. Er gab nur wieder, was ihm vorgesetzt wurde. Und dieses zurückgeworfene Bild trug nicht zu Tonis Erheiterung bei. Zwischen seiner inneren und äußeren Realität lag so viel Irrationales, Unverständliches, dass er sich außerstande sah, die richtigen Worte dafür zu finden.

Der Sechzehnjährige seufzte laut auf, spreizte die Finger seiner rechten Hand und fuhr damit durch das dunkelblonde leicht gewellte kurze Haar. Sinnlich begann er mit beiden Händen Strähne für Strähne auseinander zu ziehen. Die Spitzen in der Mitte des Kopfes wurden aufrecht gestellt, die seitlich davon befindlichen übereinander gelegt. Etwas Gel sollte seine widerspenstigen Haare bändigen, was aber nur mit dem Mittelschopf gelang. An den Seiten gab seine Naturkrause immer wieder nach und er konnte einige kleine Ringellöckchen nicht verhindern. Es war nicht sein Haar, welches ihm Sorge bereitete, denn es passte eigentlich zu seinem durchtrainiertem schlanken Körper, wie er selbst zugeben musste. Die Stupsnase, umgeben von ein paar kecken vorwitzigen Sommersprossen, die sich stets zu Frühjahrsbeginn rasant vermehrten und ein sinnlicher Mund mit nicht zu großen Lippen, verliehen ihm einen frechen Gesichtsausdruck. Nur die weichen Züge ließen ihn zu seinem Leidwesen etwas mädchenhaft erscheinen.

Eine geheimnisvolle Aura, für den Betrachter interessant und spannend, umgab die junge Person, deren freundlicher und vertrauenerweckender Blick faszinierte. Menschen, die ihn nicht kannten, begannen beim Anblick seiner Erscheinung zu überlegen: Ist das nun ein Junge oder ein Mädchen? Es war ihm bewusst. Sollen sie doch, dachte er. Sie war also wieder da, die Melancholie, die ihn in das tiefe Loch stürzen wird, das er seit geraumer Zeit als ständigen Begleiter neben sich erdulden musste. Die kommenden Stunden, welche, wie üblich seiner depressiven Phase folgten, waren somit vorprogrammiert. Er wird zu nichts mehr Lust haben und der Nachmittag endet stumm und trist auf dem Bett. Soweit darf ich es nicht kommen lassen. Vor allem nicht heute. Tonis Gedanken begannen sich aufzulehnen. Zum einen, gegen die von ihm eigens für sich selbst provozierte menschliche Erniedrigung, welche ihm stets das sichere Gefühl gab Scheiße zu sein und zum anderen gegen den, der ihm dieses missliche Empfinden bescherte. Das war er natürlich selbst.

Er begann sich Mut zu zusprechen. Wie lange willst du dich noch verstecken? Steh endlich zu dir. Die Stimme in seinem Kopf hörte sich eindringlich und klar an. Es klang wie ein Machtwort. Er musste dieser Aufforderung jetzt tatsächlich folgen, denn sonst wird er über kurz oder lang verrückt werden. Toni konnte so nicht weiter machen. Auch wenn die Eltern und sein Umfeld in der Schule nichts von dem, was ihn seit er denken konnte, bedrückte, erfahren durften. Denn niemand wird ihn verstehen, weder seine Eltern, noch sonst irgendjemand in der Familie. Es war dieser entsetzliche Eindruck falsch zu sein. Er wähnte sich im falschen Körper gefangen, oder doch nicht? Gehörten zum Körper nicht auch die Haare, die Beine und nicht nur allein das Geschlecht? Wie konnte man die vertrackte Situation, in der er sich befand, überhaupt einigermaßen verständlich beschreiben? Er rang mit sich, suchte verzweifelt nach Erklärungen. Laut Geburtsurkunde war Toni ein Mädchen und hieß Tanja. Was für ein Name! Nicht, dass er grundsätzlich etwas dagegen gehabt hätte, aber im speziellen Fall war Tanja wirklich fehl am Platze, also völlig daneben.

Toni war ein Junge. Gab es überhaupt Männer, die Tanja hießen? Seine Gedanken flogen davon, wie so oft, wenn er seinen Tagträumen folgte. Sicher, es gab schwule Männer, die sich wie Frauen benahmen und sich entsprechend nannten oder eben genau solche, die wie er, litten: Männer, die von Geburt Mädchen waren. Falsch, oder war er im Grunde ein Mädchen, das aber in Wirklichkeit ein Mann war? Eigentlich war er auch das noch nicht, sondern allenthalben ein Junge. Gut, da sollte er mit Sechzehn ehrlich zu sich sein. Er hatte im Internet recherchiert, sich alles zu dem Thema, was er dort finden konnte, durchgelesen. Transsexuell nannten sie sein Problem im Netz. Es schien so, als sei er mit dem falschen Geschlecht geboren worden. Aber wie sollte er das seinen Eltern erklären? Die hatten sich ein Mädchen gewünscht. Toni wähnte sich gewaltig in der Zwickmühle.

Er liebte seine Eltern. Sie waren verständnisvoll und förderten ihn. Es lief eigentlich alles gut. Sie erfüllten ihrem einzigen Kind die meisten materiellen Wünsche. Das war allerdings nicht so schwer, denn seine Mutter verdiente als Krankenschwester dazu und sein Vater arbeitete als Dozent für Geschichte an der Hochschule. Er hatte gerade habilitiert und sollte einen Lehrstuhl als Professor an der Uni Hamburg übernehmen. Die Eltern sprachen von nichts anderem, als von der bevorstehenden Beförderung, wegen der sie auch von Bayern nach Norddeutschland umgezogen waren. ‚Wie soll ich denen klar machen, das ihre heißgeliebte Tochter als Kerl leben will, ja leben muss? ‘ Tonis Gedanken kreisten ununterbrochen weiter. Es ging ständig nur um diese eine Sache. Bis jetzt hatte er die Schule raushalten können, aber er war nun nach den Ferien in die Elfte gekommen. Das Abi rückte näher. Natürlich wünschten sich Vater und Mutter das Abitur für ihn und eigentlich hatte er mit dem Lernstoff auch keine nennenswerten Schwierigkeiten. Wenn bloß dieser schreckliche Mädchenkörper nicht wäre! Toni hasste seine weiblichen Attribute, wie er seine kleinen Brüste zu nennen pflegte. Ein Junge hatte keinen Busen. Ein Junge besaß einen Schwanz. Punkt. Und ich? Toni sah sein nacktes Oberteil im Spiegel verächtlich an.

Entschlossen legte er sich den engen Hüftgürtel, den er vor ein paar Tagen heimlich in der Stadt gekauft hatte, um. Im Internet konnte er sich das passende Modell anschauen und alle Daten dazu aufschreiben. Im Sanitätshaus brauchte er die Verkäuferin gar nicht zu fragen. Als er sich umblickte, fielen ihm die Hüftgürtel griffbereit ins Auge. Geschickt hatte er sich einen in Größe M aus dem Stapel heraus gezogen und bezahlt. Die Verkäuferin nahm das Geld und gab zwei Euro Wechselgeld zurück. Damit gehörte der Gürtel ihm. Es war eigentlich ganz easy gewesen. Trotzdem hatte er Schiss gehabt. Toni bekam immer Schiss, wenn er sich etwas kaufte, das seinen eigenen Vorstellungen entsprach. Die Sachen für Tanja besorgte schon seit langer Zeit seine Mutter. Gottseidank hatte die seinen Geschmack inzwischen kapiert. Dunkle T-Shirts, Sweatshirts und Hosen. Am liebsten Jeans. An dir ist wirklich ein Junge verloren gegangen, meinte sie immer kopfschüttelnd und Toni ergänzte dann in Gedanken: Ja, Mutter. Genau das, ist auch mein Problem!

Er zog den Gürtel strammer um die Brust. Die war plötzlich ganz flach geworden. Der Klettverschluss an der Seite hielt. Gelungen, fand er spontan und seine Laune begann sich schlagartig zu bessern, während ihm ein kleiner freudiger Schauer ein wohliges Gefühl bereitete. T-Shirt drüber. Jetzt den dünnen schwarzen Rollkragenpulli und dann noch den dicken Sweater mit Kapuze. Das war‘s. Schnell die neuen Unterhosen an. Die gab‘s obendrauf, weil er noch etwas Geld übrig gehabt hatte. Toni grinste. Die Mädchen aus seiner Klassenstufe gaben viel für Klamotten und Schminke aus. Er holte sich stattdessen heimlich ein paar Knabenunterhosen. Mit traurigem Blick besah er sich den Eingriff. Schön wäre es gewesen, wenn da schon etwas drin stecken würde, etwas, das zu einem richtigen Jungen gehört. Schade, aber es gab keinen Penis in seinem Leben. Toni schaute sich suchend im Zimmer um. Wo war die Socke? Aha, ans Bettende gerutscht. Ein Paar schwarze Socken lag dort eingerollt am Fußende. Also, Unterhose auf und rein damit. Ein zwölf- bis dreizehnjähriger Junge mit kurzen blonden Haaren blickte ihm im Spiegel entgegen. Vorne flach wie ein Brett, aber in der Unterhose eine dicke Beule.

Das bin ich. Endlich. So kann ich auf die Straße gehen. Ach lieber Gott, kannst du nicht machen, dass das echt wird? Kann ich nicht einen Unfall haben, im Krankenhaus aufwachen und erfahren, dass man männliche Organe in meinem Bauch gefunden hat? Die Ärzte erklären meinen Eltern, dass ich in Wahrheit ein Junge bin und operiert werden muss. Dann schlaf ich ein und wache aus diesem Albtraum endlich auf. Ich bin ein Junge und habe diese fürchterlichen Mädchenjahre nur geträumt.

Wobei, es war nicht alles furchtbar. Da übertrieb er etwas. Toni ließ positive Erinnerungen an sein bisheriges Leben zu. Die vielen Reisen in fremde Länder, weil ihm Vater und Mutter die Welt zeigen wollten, hatten ihm schon sehr gefallen. Und zu Hause in München erhielt er als Kind teure Eislaufstunden. Nun, Leistungstraining wird er ohnehin nicht mehr haben. Toni vermisste vieles, was ihm in seiner alten Umgebung so vertraut gewesen war. An seinem neuen Wohnort gab es gottseidank eine Eishalle, die ihn für einige liebgewordene Gewohnheiten entschädigen wird. Und eine wichtige Neuerung lag dadurch im Bereich des Möglichen: Toni wollte nicht mehr als Mädchen eislaufen. Er war ein Junge und die Eisbahn soll für ihn der erste Ort sein, an dem er seinen Rollenwechsel vollziehen wird. Es kannte ihn noch niemand in der Gemeinde am Rande Hamburgs. Im Sommer waren sie hergezogen und nun zeigte der Kalender Oktober. Ideal für einen Neuanfang. Die Halle startete vor drei Tagen in die Saison. Aber da hatte er keine Zeit. Jetzt noch die dünne schwarze Leggings. Die musste sein, es war kalt auf dem Eis. Die lange Sporthose drüber. Fertig.

Das Sockenknäul zeichnete sich sichtbar ab. Die enge Hose beulte, aber sie saß fest. Toni musste sich gut bewegen können. Er dehnte sich im Schritt. Es war nicht weit, bis zur Eishalle. Ungefähr zehn Minuten zu Fuß. Er könnte sich jetzt schon etwas warm machen. Er schwang mit ausgebreiteten Armen von einem Knie aufs nächste. Immer darauf bedacht sich gerade zuhalten, Kopf hoch, Bauch rein, nach vorne schauen. Eiskunstläufer dürfen hochnäsig sein. Seine Körperspannung sah perfekt aus. Die Trainerstunden machten sich bezahlt. Toni hatte früher an Wettbewerben teilgenommen und war oft erfolgreich gewesen. Doch seine Mutter und der Trainer wollten ihn in kleine bunte Röckchen stecken und Toni fühlte sich so unwohl darin. Mit langen Hosen konnte er viel kraftvoller laufen, aber Mädchen trugen nun mal Röckchen mit Glitzer. Irgendwann schämte sich Toni und wollte nicht mehr an Wettbewerben teilnehmen. Die Eltern fanden, dass er dann keinen Einzeltrainer mehr brauchte und Toni nahm nur noch zum Spaß am Vereinstraining teil. Sein Blick fiel erneut in den Spiegel. Er stimmte der Person darin zu. Ja, so sah ein richtiger Junge aus. Schnell zog er seine schwarze Jacke über, die Schlittschuhe wurden in die Schoner geschoben und in die dreieckige Schlittschuhtasche gesteckt. Leise öffnete er seine Zimmertür. Horchte. Die Mutter schien oben im Elternschlafzimmer zu liegen. Sie hatte Nachtschicht gehabt. Toni hörte ihre regelmäßigen tiefen Atemzüge. Es war jetzt halb drei Uhr, in einer halben Stunde begann das Nachmittagseis. Vorsichtig schlich er sich zur hinteren Tür und schielte auf dem Weg dorthin sicherheitshalber ins Wohnzimmer. Vergewisserte sich, dass ihm das leise Schnarchen den Schlaf des Vaters verriet. Jetzt oder nie.

Schnell schloss er die Wohnungstür auf. Ein kühler frischer Wind empfing ihn, ließ ihn leicht frösteln. Etwas mulmig war ihm schon zu Mute. Wird ihn jemand ansprechen? Was sollte er sagen, wenn er nach seinem Geschlecht gefragt wurde? Oder, war das unwahrscheinlich? Aber wenn ihn jemand aus der neuen Schule erkannte? Toni versuchte sich zu beruhigen. Die hatten hier ein Kurswahlsystem, Klassenverbände, wie in Bayern, gab es nicht. In jeder Stunde trafen sich andere Schüler im jeweiligen Unterricht. Toni war ohnehin bemüht, keine Freundschaften aufzubauen. Das brachte nichts. Die Mädchen erschienen ihm unpassend und für die Jungs war er ein Mädchen. Er wollte ihnen Kumpel sein und in seinen Träumen schmuste er sogar mit Jungen. Transsexuell und Homosexuell, ich bin ein feines Früchtchen, dachte er. Großvater Bernd hatte erst neulich bei Mutters Geburtstag über Schwuchteln hergezogen. Was er wohl über mich sagen wird? Toni ging gedankenverloren weiter. An eine Beziehung zu einem Mädchen zu denken, kam ihm nicht in den Sinn. Er war schließlich keine Lesbe. Erschrocken blickte er auf, ein kleiner Junge auf dem Fahrrad hätte ihn fast umgefahren.

Toni sah nach vorn. Da, die Kurve. Dann erschien bereits die große Eishalle vor ihm. Die war anscheinend noch nicht auf. Etliche Leute standen herum und warteten geduldig auf den Einlass. Toni stellte sich etwas abseits an einen Zaun. Er schaute zur Seite. Hinter ihm befand sich der Kindergarten. Wie in einem Gefängnis kam ihm der Zaun vor, der den Spielbereich von der Straße trennte. Na ja, musste vielleicht auch sein, wegen der Sicherheit der Kleinen, dachte er. Die Schlange vor der Kasse begann sich plötzlich zu bewegen. Er trat in die Reihe, zog sein Geld aus der Hosentasche heraus. Es gab Jahreskarten und er brauchte seinen Namen nicht drauf zuschreiben. Für vierzig Euro konnte er die ganze Saison aufs Eis. Ein älterer Junge schob ihn ruppig zur Seite, nachdem er bezahlt hatte und die neue Karte etwas umständlich in die Jackentasche steckte. Er stand ihm wohl im Weg. Und wieder rempelte ihn ein anderer Jugendlicher an.

Toni betrat ungerührt den Vorraum, in dem sich auch die Ausleihe für die Schlittschuhe und der Schleifbetrieb befanden. Zwei Treppenstufen führten nach unten. Links gab es einen Kiosk, dahinter ging es weiter zu den Toiletten. Vor ihm lag die große Eisfläche, gerade war frisches Eis gemacht worden, das im Sonnenlicht hell glitzerte. Er wählte die Tribüne zu seiner Linken und suchte sich einen Platz am Gang. Dann zog er seine Jacke aus und holte seine Schlittschuhe hervor. Einige Minuten später war er fertig angezogen. Schwarze Handschuhe mit Noppen gaben ihm die notwendige Sicherheit, sich auch nach einem Sturz gut abstützen zu können. Das Aufstehen war mit den Noppen, die sich ins Eis krallten, kein Problem. Seine schwarzen Schlittschuhe steckten noch in Plastikschonern. Toni trat zufrieden lächelnd vor die Bande und ließ die Arme kreisen. Er wechselte wieder von einem Bein aufs andere. Streckte sie hoch aus und dehnte sich. Das Aufwärmprogramm war ihm seit Kinderzeiten ins Blut übergegangen. Viele Leute liefen noch nicht auf dem Eis.

Ein kleines Mädchen fiel ihm sofort auf. Sie trug ein hübsches grünes glitzerndes Kleidchen, grad so wie er früher und lief schnell und mit perfekter Haltung in eine Pirouette ein. Eine Frau stand neben ihr und gab Anweisungen. Toni musste schmunzeln. Ja, so ähnlich hatte auch er die Trainingsstunden erlebt. Etwas wehmütig dachte er an die Zeit, als er genauso alt war und sich auf Wettkämpfe vorbereitete. Er wäre jetzt vielleicht ziemlich weit oben, kam ihm in den Sinn. Er hätte es schaffen können. Mit neun Jahren sprang er bereits alles doppelt. Wenn ich weiter gemacht hätte, wäre ich jetzt vielleicht bei den deutschen Meisterschaften. Er seufzte leise. Aber es ging nicht. Er hätte als Mädchen antreten müssen und das war nicht drin. Toni ließ einen kleinen Jungen auf die Bahn springen, zog seine Schoner ab und nahm sie in die Hand, als er sich aufs Eis stellte. Er fand schnell eine Stelle am Eishockeynetz, wo er die Schoner hineinstecken konnte. Glücklich lächelnd ließ er seinen Gefühlen und Gedanken ihren Lauf. Es war herrlich nach der langen Winterpause wieder auf dem Eis zu stehen.

Kraftvoll stieß er sich ab. Innenbögen, Außenbögen und das Wechseln der Kanten auf einem Bein waren kein Problem. Er hatte absolut nichts verlernt. Alles gelang sicher und flott im Tempo. Das kleine Mädchen lächelte ihn an, während sie einen Salchow sprang. Ja, es war wie eine Sucht. Wenn man einmal das Eis gekostet hatte, kam man nie wieder davon los. Auch Erwachsenen ging es oft so. Eiskunstlauf erforderte strenge Disziplin und Einsatz. Nur Übung machte den Meister, das konnte man bei diesem Sport wörtlich nehmen. Wer verbissen und unermüdlich trainiert, wird Übungen schaffen, von denen er bisher nur träumen konnte. Die Belohnung für die harte Arbeit war groß. Und es musste nicht die Teilnahme am Wettbewerb sein oder eine Platzierung. Es reicht, wenn man nach zwei Stunden abgekämpft und müde Schluss macht. Vielleicht das eine oder andere Erfolgserlebnis verbuchen konnte. Toni war in seinem Element und wieder ganz der Alte. Ein Flieger in alle Richtungen, auf Rückwärts gedreht und dann Rückwärts übersetzen, das linke Bein vor, mit Rechts Schwung holen. Das Spielbein in die Höhe zur Waagepirouette. Das Eis füllte sich langsam mit Publikum. Die beiden Kunstläufer waren nun nicht mehr allein. Zwei junge Mädchen schauten Toni interessiert zu. Sie liefen sehr gut. Kleine Kinder schoben Seehunde übers Eis. Toni war so vertieft in seine Übungen, dass er fast ein kleines Mädchen im Schneeanzug übersehen hätte. Huch, er lachte.

Vom Seehund überfahren! Hat grad noch gefehlt. Das Kind lachte ebenfalls und schob mit stolzem Blick seinen orangefarbenen Spielkameraden weiter. Toni suchte sich einen freien Platz und sprang ab. Der Toeloop war nur einfach. Den Salchow als nächstes, dann den Rittberger und einen Flip. Er war stolz auf sich. Kinder und Erwachsene liefen nun alle durcheinander. Es wurde zu eng auf der Eisfläche. Den Lutz und den Axel riskiere ich in diesem Getümmel nicht, dachte er und übte einige Schrittfolgen. An der Ecke, wo er seine Schoner abgelegt hatte, war das Eis noch gut. Dann bleibt’s eben bei Doppeldreiern und Pirouetten. Toni lächelte und stellte sich pustend zum Ausruhen an die Bande. „Warst du im Verein?“ Ein älterer Mann stoppte neben ihm. „Das sieht richtig gut aus. Aber es wird jetzt zu voll. Vormittags ist weniger los, wenn nicht gerade Schulklassen da sind.“ „Da muss ich leider in die Schule, aber wenn man gleich um drei Uhr schnell macht, kann man noch einiges üben und ich denke, später, gegen sechs Uhr, wird es auch weniger. Dann ist nur das Eis schlechter“, antwortete Toni. „Die bereiten gegen 17 Uhr das Eis noch einmal auf. Wo kommst du her? Du hörst dich süddeutsch an?“, fragte der Mann im Sportanzug, der auf dem Kopf eine blaue Mütze trug und leichte Schrittfolgen und Pirouetten gelaufen hatte. Sein Alter war für den Jungen schwer zu schätzen.

Toni lachte. „Wir sind grad im Sommer aus München hergezogen, da gab es an allen Ecken Eisbahnen. Ich bin froh, dass diese jetzt schon auf hat. Es ist schön hier.“ Der Mann nickte Toni freundlich zu. „Dann viel Spaß, mein Junge.“ Hui, Tonis Backen nahmen eine gesunde rote Farbe an, die nicht auf die Kälte in der Eishalle zurückzuführen war. Erst das Lob für seine läuferischen Fähigkeiten und dann das! Etwas verlegen war er schon, aber sehr glücklich. Es hatte also geklappt. Man hielt ihn für einen Jungen. Jauchzend warf er die Arme nach oben über den Kopf. Dann drehte er auf einem Bein ganz schnell herum, sprang aufs andere und drehte weiter. Ich bin ein Junge, hurra! Das Glück stand ihm ins Gesicht geschrieben. Einige kurze Gespräche mit anderen Eisläufern lenkten ihn ab und er merkte nicht, wie die Zeit verging.

Ein bekanntes Gefühl signalisierte ihm, dass er vielleicht die Toilette aufsuchen sollte. Er nahm seine Schoner in die Hand und strebte dem Ausgang zu. Augenblicklich erstarrte er. Ach herrje, was mach ich denn nun? Auf die gewohnte Mädchentoilette als Junge? Nein, das ging natürlich nicht und auf das Jungsklo? Das wäre verständlicherweise die logische Folge seines männlichen Outfits gewesen. Doch konnte er das wagen? Die aufkommende Angst schnürte ihm die Kehle zu und gleichzeitig wollte zwischen seinen Beinen etwas raus. Er musste schnell handeln und sich entscheiden. Nach Hause schaffte er es nicht mehr, so viel war sicher. Er zog die Schoner über und machte sich zielstrebig auf den Weg zu den Toiletten. Angekommen drückte er die Klinke herunter und stand mit Herzklopfen im Waschraum der Herrentoilette. Ein dunkelblonder Junge, den er spontan auf dreizehn bis vierzehn Jahre schätzte, drehte sich vom Waschbecken um und starrte ihn erschrocken an. Man konnte eine Stecknadel fallen hören. Toni fühlte sich ertappt. Aber seine Blase forderte ihn auf, weiter in den Toilettenraum zu gehen.

Der andere nahm sich Papier, wischte sich fahrig die Hände trocken und verließ fluchtartig, wie es Toni schien, den Raum. Links und rechts hingen Becken, die der natürlich nicht gebrauchen konnte. Er musste in die Kabine. Gerade noch rechtzeitig. Vorsichtig öffnete er nach vollbrachter Tat wieder die Tür. Niemand da. Uff, das war noch einmal gut gegangen, in jeglicher Hinsicht. Schnell wusch er seine Hände und riss, wie sein Vorgänger etwas Papier zum abtrocknen ab. Tür auf und raus. Toni atmete durch, als er wieder im Getümmel stand. Hey, das war doch gar nicht so schlimm gewesen. Solange Kabinen da sind und die gibt es auch bei den Männern fast überall, hast du nichts zu befürchten. Keiner rechnet damit, dass ein Mädchen so mir nichts dir nichts aufs Jungsklo geht. Da merkt niemand etwas. Das musst du oft wiederholen. Damit solltest du auch sicherer im Auftreten werden. Toni fühlte sich nach diesen Gedanken wohler. Warum der Junge am Waschbecken so perplex und erschrocken reagierte, konnte er sich allerdings nicht erklären. Er sah auf die Stadion Uhr. Es war schon 17 Uhr. Die Zeit verging wie im Flug.

„Bitte die Eisbahn verlassen, die Eismaschine kommt!“, dröhnte es aus dem Lautsprecher. Der Mann im Sportanzug hatte also recht gehabt. Toni ging zu seinen Sachen, nahm einen Schluck aus der Wasserflasche. Mit einigen Kindern stellte er sich danach an die Bande und verfolgte die Spuren der schweren Eismaschine. Die unzähligen Rillen und der überschüssige künstliche Schnee, welcher sich durch die vielen Besucher gebildet hatte, verschwanden und eine glatte klare Eisfläche kam zum Vorschein. Toni beschloss bis sechs Uhr zu bleiben und das schöne Eis auszunutzen. Wie vorhergesagt, lichteten sich die Läuferreihen. Die geliehenen Schlittschuhe mussten wieder abgegeben werden. Toni grinste. Der Tag war super gelaufen. Er hatte seine Feuertaufe als Junge erfolgreich bestanden. Die Rückmeldungen von anderen Besuchern zu seinem gefühlten Geschlecht gaben ihm Sicherheit und Auftrieb. Sogar die Toilette hatte er geschafft. Als das Eis wieder frei gegeben wurde, sprang er als erster schnell drauf und setzte zum Axel an. Einige Besucher klatschten. Er hatte Platz genug. Gleich nochmal das Ganze, aber doppelt. Es reichte zum doppelten Toeloop und als er weiterhin freie Bahn hatte, kamen ein doppelter Lutz mit Euler und ein doppelter Flip hinterher. Er strahlte. Lief immer weiter. „Bitte das Eis verlassen, wir schließen gleich!“, sagte eine Männerstimme aus dem Lautsprecher. Toni hatte gar nicht mehr bemerkt, wie es langsam Abend geworden war. Müde und abgekämpft, zog er sich um.

„Eh, das war geil. Bist du im Verein gewesen?“, hörte er eine hohe Stimme neben sich fragen. Der Junge aus der Toilette blickte ihn freundlich an. Merkwürdig, dachte Toni. Der spricht noch so hoch, aber eigentlich müsste der doch älter sein. „Ja, als kleines Kind in Bayern. Das verlernt man nicht. Wie heißt du?“, fragte er zurück. Etwas an dem Jungen irritierte und faszinierte ihn zur selben Zeit. Er schien jedenfalls nett zu sein. „Ich bin Ole“, antwortete der andere und blickte verschämt auf den Boden. „Schöner Name, norddeutsch, ich heiße Toni!“ Beide lächelten. „Kommst du morgen wieder?“, fragte Ole. Toni nickte. Ja, das wollte er. Zeit war genug da und er würde seine Jahreskarte ausnutzen. Es gab nichts Schöneres als eislaufen. „Dann bis morgen, ich muss zum Bus“, meinte sein Gegenüber, als sie vor der Eishalle standen und schien genauso glücklich über den neuen Kontakt wie Toni zu sein. „Bist super gesprungen, klasse!“ Ein junger Mann schlug Toni freundschaftlich auf die Schulter. „Danke“, und als der sich zu Ole umwandte, sah er ihn schon zur Bushaltestelle laufen. Auch Toni musste sich beeilen, wenn er rechtzeitig zum Abendessen zu Hause sein wollte.

Als er vor der Tür die Schuhe auszog, öffnete ihm bereits seine Mutter Anneliese. „Kind, wie siehst du denn nur aus?“, rief sie sichtlich entsetzt und schüttelte den Kopf. „So läuft doch kein junges Mädchen herum. Zieh dir bitte etwas Ordentliches an, Tanja. Du weißt, dass Vater Wert auf gepflegtes Äußeres legt.“ Tadelnd wandte sie ihren Blick ab. Ja, so konnte es gehen. Eben noch himmelhochjauchzend über den Wolken und in der nächsten Sekunde erhielt man einen Dämpfer, dass es nur so brummte. Toni schlich auf sein Zimmer. Und doch, der Nachmittag hätte nicht schöner sein können. Er zog seine Pullover und Hosen aus. Sorgfältig verstaute er seine Jungsklamotten im Bettkasten. Er hielt peinlich Ordnung und machte auch selbst rein, damit die Mutter gar nicht erst auf die Idee kommen konnte, in seinem Zimmer herumzuwühlen um womöglich Sachen, die ihr nicht gefielen, weg zu werfen. Doch wohin mit dem Brustgürtel? Toni hatte den Karton bereits in der Stadt ausgepackt und dort in der blauen Tonne entsorgt. Jetzt musste er ein sicheres Versteck für seine neue Errungenschaft finden. Dem Bettkasten traute er nicht. Er blickte sich suchend um.

Zwischen dem Kopfende seines Bettes und der Wand befand sich eine schmale Spalte, auf die er sich ein Brett gelegt hatte. Sein Wecker und zwei kleine Matchboxautos aus frühen Kindertagen standen darauf, zusammen mit Pluto, seinem Stofftier. Pluto war schon ziemlich abgewetzt, aber Toni konnte den treuen Begleiter seiner ersten Lebensjahre nicht wegwerfen. So saß Pluto in der Ecke und die dunklen Knopfaugen des Pudels schienen zu lachen. Natürlich, nimm‘ das Brett zur Seite und packe den Gürtel in einer Tüte darunter. Mutter wird nie das Zimmer ausräumen, solange immer alles sauber ausschaut. Toni freute sich über seinen tollen Einfall. Jetzt musste er sich nur noch etwas zum Anziehen suchen, das seinen Vater nicht irritieren konnte, aber andererseits auch Toni in seiner männlichen Rolle bestätigte. Die neue dunkelblaue Jeans durfte er tragen und die karierte Bluse dazu. Leider war sie aus der Mädchenabteilung, aber das Karomuster erinnerte an ein Jungenhemd. Zufrieden sah Toni in den Spiegel. Okay, wenn Vater trotzdem etwas auszusetzen hat, war es nicht zu ändern.

Er öffnete die Zimmertür und ging geradewegs in die Küche um seiner Mutter zu helfen, wie immer. Sie sagte nichts. Der Vater sprach beim Essen über die Schule und fragte beiläufig, was Toni am Nachmittag gemacht hatte. Der antwortete wahrheitsgemäß. „Ich war in der Eishalle, hab mir auch gleich eine Jahreskarte gekauft. Denkt euch, ich konnte noch alles und bin zweifach gesprungen. Als nach fünf Uhr nicht mehr so viele Leute da waren und wir frisches Eis hatten, klappte sogar der Axel auf Anhieb doppelt. Ich bin morgen wieder verabredet. Ach so, die Mathearbeit war eine zwei plus und Erdkunde eine Eins“, beeilte er sich zu sagen. Der Vater nickte. „Das Abitur ist wichtig für dich, Tanja. Gerade als Mädchen brauchst du einen Beruf, der dir ein festes Einkommen sichert, damit du nie von einem Mann abhängig wirst.“ „Ja, Vater“, Toni kannte die alte Leier. Und schmunzelte. Hach, Mädchen. Wenn Vater bloß wüsste, als was ich in der Eishalle war! Nach dem Essen ging er auf sein Zimmer, nachdem er der Mutter, wie immer, beim Abräumen geholfen hatte. Im Internet las er sich wieder durch alle Webseiten, die über Transsexualität berichteten.

Es gab viele Vereine und Gruppen in beide Richtungen, also, die wie er waren, von Frau zu Mann, aber es gab natürlich auch den umgekehrten Weg. Frauen, die in einem Männerkörper steckten. Auf den Seiten fand Toni alles, was er suchte. Dort hatte er auch die Info über den Hüftgürtel erhalten, um erfolgreich die Brust abzubinden. Für das Geschlecht gab es sogenannte Packer. Sie sahen einem echten Glied täuschend ähnlich und wurden in die Unterhose gelegt. Toni beschloss, dass er so ein Teil unbedingt als nächstes besorgen musste. Aber da gab es ein Problem. Er war erst Sechzehn und besaß noch nicht die Erlaubnis im Internet etwas zu kaufen. Außerdem hätte er das Päckchen abfangen müssen, damit seine Mutter nichts merkt. Irgendwie musste er einen Weg finden, um an die Ware zu kommen. Da fiel sein Blick auf eine Werbung auf der Website. In Hamburg gab es Geschäfte, in denen man Dildos und Sexartikel kaufen konnte. Möglicherweise wäre das eine Option. Er schrieb sich die Anschrift in sein Notizbuch. Der Laden befand sich in Altona, in der Nähe der Reeperbahn.

Aber das war kein Problem. Toni hatte öfter Freistunden und der Zug fuhr gegenüber der Schule ab. Einige seiner Schulkameraden nutzten die freien Stunden bis zum Nachmittag um sich in Hamburg herumzutreiben. Da konnte er getrost mitfahren und würde wieder rechtzeitig zurück sein. Herrlich, wie weit bist du heute gekommen. Du kannst stolz auf dich sein, Junge! , lobte er sich in Gedanken. Auf dem Forum konnte man sich anmelden und mit anderen chatten. Toni war vorsichtig mit Internetbekanntschaften. In Hamburg gab es diverse Selbsthilfegruppen. Die erregten seine Aufmerksamkeit. Im Augenblick konnte er abends noch nicht weg, aber das wird er schon hinbekommen. Vielleicht fand sich eine Schulkameradin, die in Hamburg lebte und die er besuchen konnte. Irgendwann würden ihm die Eltern auch eine Übernachtung bei ihr erlauben. Toni war guter Dinge. Er kam seinem Ziel näher. Als die Mutter gegen neun Uhr Schlafenszeit anmahnte, schaltete ihr heimlicher Sohn hoffnungsvoll und sichtlich zufrieden seinen PC aus.


Toni startet durch

Am anderen Morgen kreisten seine Gedanken sofort um ein besseres Jungenoutfit. Er überlegte, einen zweiten, etwas schmaleren Hüftgürtel zu kaufen, den er in der Schule um die Brust binden konnte. Geld besaß er noch genug und Zeit hatte er auch, denn die letzte Stunde fiel aus. In Jeans und Sweater ging er in die Küche. Seine Mutter hatte bereits das Haus zur Frühschicht verlassen, so dass er sich sein Frühstück selbst zusammenstellen musste. Die Kaffeemaschine lief. Er hörte, wie sich sein Vater im Badezimmer rasierte. Toni schaltete den Wasserkocher ein um sich einen Tee aufzubrühen. Er deckte, während das Wasser heiß wurde, den Tisch für den Vater und sich selbst. Toni verhielt sich daheim so unauffällig wie möglich. Ein Mädchen ist brav und tut, was es soll. Es war ein Klischee, aber in diesem besonderen Fall recht hilfreich. „Guten Morgen, Tochter, was hab ich das gut!“ Der Vater hauchte ihm einen Kuss auf die Wange. „Guten Morgen, Dad. Möchtest du Schwarzbrot oder Toast?“ „Ich nehme zwei Scheiben Toast, danke.“ Toni begann geschäftiges Treiben, indem er sich Brot zum Mitnehmen schmierte und wieder aufstand um das Wasser für den Tee zu holen. Sein Vater sah ihn aus den Augenwinkeln an. Etwas irritierte den fünfzigjährigen Lehrer immer wieder an seiner Tochter.

Sie benahm sich nicht wie die Mädchen und jungen Frauen, die er aus der Schule und von der Uni kannte, sie trug nie Kleider und interessierte sich absolut nicht für Kleidung, Mode, Schminke. Er war schon lange im „Bildungsgeschäft“ und kannte sich mit den Unterschieden der Geschlechter aus. Anfangs unterrichtete er Deutsch und Geschichte an einem Gymnasium, bis er sich für einen Lehrstuhl an der Uni entschied. Nach einigen Jahren als wissenschaftlicher Assistent an der Münchner Universität, hatte es in Hamburg mit einer Professur geklappt. Der Preis war der Umzug in den hohen Norden, der ihn und die gesamte Familie vor eine besondere Herausforderung stellte. Sprache und Kultur unterschieden sich. Aber das würden sie bewältigen, dachte er. Tanja machte ihm Sorgen. Ihre Schulleistungen boten selten Anlass zur Klage. Tanja war eine brave Tochter. Klaus Obermöller dachte nach. Zu brav, schoss es ihm durch den Kopf. Verheimlichte sie ihm etwas? „Tanja, du weißt, dass du mit allen Sorgen zu mir und Mama kommen kannst. Wir sind immer für dich da, wenn du ein Problem hast.“ Oh je, Toni spürte Gefahr. Wenn der Vater auf diese Tour kam, war Vorsicht geboten. Nur nichts verraten, hieß jetzt die Devise.

„Natürlich, Dad, deshalb habe ich euch ja auch so lieb. Ich treffe mich nach der Schule noch mit ein paar Mitschülern zum Mathelernen. Um zwei Uhr bin ich zuhause, wir haben sonst heute nicht viel auf. Neben Mathe steht nur Geschichte auf dem Programm. Ach so, Kunst auch noch. Ich werde dann gleich nach der Mittagsstunde in die Eisbahn verschwinden. Oh, ich muss los. Wünsch dir einen schönen Tag.“ Er sprang auf, stellte sein Geschirr in den Spüler. Küsste seinem Vater auf die Wange und verschwand, ehe der antworten konnte. „Bye, Dad.“ Mit der Jacke in der Hand beeilte sich Toni die Wohnung zu verlassen. Uff, alles gutgegangen. Die Windjacke zog er rasch vor der Haustür an. Es war kurz vor halb acht Uhr und er musste schneller gehen, um den Bus zu erreichen. Seine Gedanken flogen in die Großstadt Hamburg, in das Geschäft, in dem er heute Mittag einen etwas schmaleren Gürtel zum Abbinden seines Busens kaufen wollte. Den konnte er in der Schule tragen, er fiel weniger auf, als der breite. Das nächste war der Gliedersatz. Toni schmiedete Pläne und freute sich. Der Bus hielt. In den nächsten Stunden forderte die Schule seine volle Aufmerksamkeit. Doch so pünktlich wie er begonnen hatte, endete auch der Unterricht. Toni beeilte sich.

Der Metronom nach Hamburg stand auf dem Bahnhof bereit. Die Fahrkarte hatte er sich in der zehn Uhr Pause geholt. Er war aufgeregt. Als er wenig später zunächst das Orthopädiefachgeschäft betrat, wusste er, wohin er sich zu wenden hatte. Diesmal kaufte er zielsicher ein. Und wieder nahm er vor der Tür die Ware aus der Packung, suchte sich einen Mülleimer und entsorgte verräterische Hüllen. Es war ein Uhr durch. Die S- Bahn hielt auf dem Rückweg zum Hauptbahnhof an der Reeperbahn. Toni dachte nicht mehr nach, folgte einer inneren Eingebung und stieg aus. Als er die Rolltreppe hinter sich gelassen hatte und sich auf der Straße befand, umfing ihn pulsierendes Leben. Menschen eilten an ihm vorbei, er suchte sich einen sicheren Standplatz in einer Ladenecke, um nicht umgerannt zu werden. Plötzlich entdeckten seine Augen auf der anderen Straßenseite das Sexartikelgeschäft aus dem Internet. Wieder runter in den S-Bahntunnel und geradeaus rüber. Er fühlte keine Angst und sein Auftreten war selbstbewusst. Mit wachen Blicken musterte er die Regale, ging unbehelligt durch den Laden.

Er lächelte, denn er hatte rasch gefunden, wonach er suchte. Sein Herz begann zu rasen. Er hatte solange von diesem Moment geträumt und nun war es so einfach gewesen. Viel Zeit blieb ihm nicht. Ein anderer Junge stand neben ihm, besah sich die künstlichen Glieder. Er öffnete eine der Schachteln und nickte mit dem Kopf. Der Junge verschwand in Richtung Kasse. Toni sah auf den Preis. Whow. Sein Geld reichte. Auch er griff sich die Packung mit dem Gliedersatz. Dabei glühten seine Wangen vor Erregung. Die Verkäuferin lächelte ihn verstohlen an. „Ich gebe Ihnen einen Katalog mit, wir haben eine große Auswahl an Artikeln, die von Transsexuellen gerne gekauft werden. Viele junge Männer aus der Selbsthilfegruppe sind Kunden bei uns.“ Toni hielt einen Moment später eine Tüte in der Hand, bedankte sich mit hochrotem Kopf und verließ das Geschäft starr und ungelenkig wie ein Roboter. ‚Ich muss nach Hause‘, dachte er. Die Tüte steckte er in der S-Bahn in seine Schultasche.

Mit ängstlichem Blick ging er eine gute Stunde später die heimische Hofeinfahrt hinauf. Er hatte sich etwas verspätet. Niemand öffnete die Haustür. Er schloss sich selbst auf. Alles war ruhig im Haus, die Eltern schienen fort zu sein. Gottseidank, sie werden also nichts merken. Schnell lief er in sein Zimmer. Er musste sich beeilen. Die Eishalle hatte bereits geöffnet und Ole wird sicher auf ihn warten. Spuren verwischen, umziehen und den Packer ausprobieren. Es war ein anderes Gefühl mit dem Gliedersatz in der Unterhose, als mit dem Sockenknäul. Ein glücklicher Toni betrat um halb vier Uhr die Eishalle. „Da bist du ja, ich dachte, du kommst nicht mehr“, hörte er die vertraute Stimme neben sich. Ole lachte ihn an. „Ich war nach der Schule noch einkaufen, sorry. Aber es geht schnell. Warmlaufen kann ich mich auch auf dem Eis.“ Mechanisch zog sich Toni um und die beiden Jungen knuften und schubsten sich auf die Eisfläche. Toni hatte sich noch nie so leicht und happy gefühlt. Es war wie ein Befreiungsschlag für seine Seele. Er tobte mit Ole herum, übte konzentriert seine Schrittfolgen und erntete ein paar böse Blicke der Eismeister, weil er zu wild lief und dabei andere Besucher gefährdete. Mit Ole spazierte er ungeniert zur Toilette, wunderte sich allerdings, dass dieser genau wie er in einer Kabine verschwand. Als Toni rauskam, stand ein kleiner Junge an einem der zahlreichen Becken. Toni sah ihn aus den Augenwinkeln etwas neidisch an. Ja, der kleine Kerl hat mehr Glück gehabt, als du, sagte die Stimme in seinem Kopf. Ihm wurde seine Andersartigkeit wieder bewusst. Ole erschien.

„Was hast du?“, fragte er. „Nichts“, antwortete Toni. Es war erneut etwas Melancholie in seine Seele eingezogen. Und die war nicht nur für andere Menschen sichtbar, sie erweckte in Ole ebenfalls besondere Gefühle, welche dieser abgrundtief hasste. Auch Ole musste mit einem Problem leben, doch darüber reden wollte er genauso wenig wie Toni. „Komm, ich gebe Pommes und Cola aus“, versuchte er sich auf andere Gedanken zu bringen. Das Angebot zeigte Wirkung. Toni lachte ihn an, legte ihm den Arm freundschaftlich auf die Schulter und folgte seinem Freund. Wer die beiden sah, schloss auf zwei Jungen, die sich einerseits ihres Lebens erfreuten, lustig und aufgedreht den Augenblick genossen und doch in kurzen Augenblicken dem Betrachter Rätsel aufgaben. Da war etwas, was sie auf merkwürdige Weise verband, eine Ähnlichkeit, begründet in ihrem Schicksal, unsichtbar verstrickt, verwoben und verworren, nicht greifbar, in der Tiefe ihrer beider Seelen verborgen.

Sie bemerkten es selbst, jeder für sich, in jeweils eigener Art und Weise und sie nahmen es hin. Einfach so. Warum sollten sie sich Gedanken über etwas machen, dass sie nicht ändern konnten. Es gab ihnen die Sicherheit, die ihnen im Umgang mit anderen Menschen häufig fehlte. Sie waren einander Halt und Kraft. Doch über ihre Probleme reden, konnten sie nicht. Die Wochen vergingen. Ole besuchte die Oberstufe der Gesamtschule, Toni das Gymnasium. An ihrer Schule verabredeten sie sich nie. Warum, wussten sie nicht. Es war in ihrer zarten Beziehung einfach tabu. Dann kam der Tag, an dem sie zusammen ins Kino gingen. Sie saßen in der Dunkelheit eng nebeneinander und jeder fühlte das Herz des anderen schlagen. Eine Tüte Chips lag auf Tonis Schoß. Ole griff danach, berührte dabei zufällig Tonis Hand und strich gedankenverloren über dessen Hosenlatz. Erschrocken hielt er inne, wagte es nicht, seine Hand abrupt wegzuziehen. Auch Toni verharrte in Starre, begann zu zittern und legte im Überschwang der Gefühle seine Hand in die Oles. So saßen sie mehrere Minuten und trauten sich nicht, einander loszulassen. Plötzlich ging das Licht an, es war Pause. Mit einer zärtlichen Geste schoben sie ihre Finger auseinander.

Ole suchte zuerst die Toilette auf, in Tonis Bauch begann es derweil zu kribbeln. Er stellte sich vor, in Oles Armen zu liegen, von ihm geküsst zu werden. Hatte er sich verliebt? Die Antwort konnte nur Ja heißen. Als Ole zurückkam, sahen sie einander in die Augen und die spiegelten ihnen die tiefen Gefühle füreinander wider. Toni verschwand und kämpfte mit den Tränen, so sehr wurde er von Glück überwältigt. Aber hatte dieses überhaupt eine Chance? Ole war ein normaler Junge und wie würde er reagieren, wenn er erfuhr, dass Toni Transsexuell war? Ole durfte die Wahrheit nicht erfahren. Zu groß erschien die Angst, ihn verlieren zu können. Und Ole? Der freute sich einerseits über die wahnsinnigen Gefühle, die ihm seine Liebesfähigkeit bestätigten. Doch es gab ein Problem bei ihm. Von alledem durfte Toni nichts wissen, denn das würde ihn möglicherweise verschrecken. So schwieg er und blieb mit seinen Ängsten allein. Toni erging es nicht anders. Beide bedauerten ihre Zurückhaltung insgeheim und doch, irgendwie fanden sie die Situation trotzdem nicht so schlimm. Nach dem Kino tranken sie eine Cola, schlenderten zum Busbahnhof. Zwei Jungen, Kumpel, wie es schien und doch waren sie mehr. Ihre Berührungen und Raufereien erschienen Außenstehenden, die sie beobachteten, derb. Die beiden sahen jedoch Liebkosungen und einen zaghaften Ausdruck von…Liebe in ihrem Toben. Toni konnte es nicht lassen. Er lockte den Freund auf den nahegelegenen Parkplatz hinter einen Baum. Es war dunkel, niemand konnte sie sehen.

„Weißt du, wie es Schwule machen?“, fragte er Ole unvermittelt. Der schüttelte den Kopf. Toni schlang die Arme um den Hals des anderen und küsste ihn auf den Mund. „Komm her, du kleine Schwuchtel“, hauchte Ole daraufhin und zog Tonis Kopf fest an sich. Eng umschlungen versanken die zwei und tranken von ihrer ersten großen Liebe. „Okay, dann wäre das jedenfalls geklärt“, meinte Ole, bedeckte Tonis Gesicht und Augen weiter mit Küssen. „Ja, ich liebe dich auch. Dein Bus kommt gleich. Ich bin froh, dass es raus ist. Es hat mich sehr belastet“, antwortete er. „Mich auch, und ich liebe dich ebenfalls. Mach‘s gut. Wir sehen uns morgen auf dem Eis“, sagte Toni. Sie waren sich einig und das reichte. Beide gingen sie abrupt zur Tagesordnung über. Einen Moment später traten zwei junge Burschen aus dem Buschwerk auf die Straße hinaus, als wenn nichts gewesen wäre. Sie hatten sich ihre Liebe gestanden. Doch wird es beim Küssen bleiben? Zu kompliziert und fragil war ihre junge Beziehung. Jeder sah den anderen als etwas ganz Besonderes an, etwas Wunderbares. Ein unergründlicher Zauber erfüllte ihr Leben und zwei neu geborene Seelen flogen immer höher in den Himmel. Der Ausspruch: Im siebenten Himmel sein und auf Wolken zu schweben, schien wahr. Tonis Bus hielt, er schlug die Hand an Oles und drückte dessen Arm. Kumpelhaft, wie es Jungen zu tun pflegten. Toni lag noch lange wach, an jenem Abend, der sein Leben so komplett verändert hatte. Er genoss den Augenblick dieser Verliebtheit, der ihm das intensive Gefühl von Realität gab, wie er es noch nie zuvor erlebt hatte. Alle Bedenken, Sorgen und Ängste verschwanden dahinter. Seine Seele fuhr Achterbahn in den Himmel hinauf.

Ole war der nachdenklichere Typ. Er hatte im Internet gesurft, um etwas über sein Problem zu erfahren. Anders als Toni suchte er Hilfe im Gespräch mit Gleichgesinnten und war auf eine Gruppe gestoßen, welche sich regelmäßig in Hamburg traf. Wie sollte es mit ihm und Toni weitergehen? , fragte er sich verunsichert. Irgendwann würde er mit der Wahrheit herausrücken müssen. Er wollte sich Rat holen. Eine Verabredung mit dem Gruppenleiter schien die richtige Lösung zu sein. Zwei Tage später sollte er sich in Hamburg vor dem Lokal mit einem älteren Mann treffen. Danach durfte er entscheiden, ob er zu den anderen mit hinein gehen wollte. Er konnte deshalb am kommenden Freitag nicht zur Eishalle. Aber da wird ihm schon etwas einfallen, dachte er.

*

Toni trainierte so hart und ausdauernd, wie er es aus seiner Vereinszeit kannte. Ole hatte keine Zeit. Eine Verabredung mit einem Bekannten, wie er erzählte. Toni fragte sich, welcher Art das Treffen der beiden wohl sein konnte. So sehr er auch grübelte, er fand keine plausible Lösung. Oles Verhalten erschien ihm merkwürdig und brachte eine geheimnisvolle Unruhe in sein Leben. Gedanken begannen zu kreisen und wollten nicht mehr aus Tonis Kopf weichen. Ob Ole einen Freund hatte? Eifersucht flackerte auf. Was, wenn sich seine Befürchtung bewahrheitete? Ein furchtbarer Schmerz zerriss seine Brust. Das Gefühl wurde so stark, dass es ihn vom Eis ablenkte. Fast wäre er bei einer harmlosen Schrittkombination der Länge nach gestürzt. Er beschloss für heute sein Training zu beenden. Es hatte keinen Sinn mehr, weiterzumachen. Toni zog sich um, verließ die Eishalle und stand nach einer halben Stunde ziemlich unschlüssig vor dem Eingang. Was sollte er tun? Was konnte er tun? Seine Hand fuhr wie von selbst in die Jackentasche zu seinem Handy. Er nahm es heraus, wählte Oles Nummer.

„Wo bist du?“, schrieb er in die SMS. Die Antwort kam prompt. „Noch zuhause, in einer Stunde fahre ich.“ „Können wir uns nicht kurz sehen?“ Es dauerte. Unruhig trat Toni von einem Bein aufs andere. „Gut, in einer viertel Stunde am Bahnhof!“ Erleichtert nahm er seine Tasche und lief zum Bus. „Sitze im Bus, ca. zwanzig Minuten!“, schrieb er zurück. „Okay“, Smily. Schon von weitem sah Toni den Freund an der Haltestelle warten. Sein Herz frohlockte. Sie lagen sich kurz in den Armen. „Lass uns einen Burger essen“, schlug Toni vor. „Wie war dein Training, heute?“, fragte Ole. Tonis eben noch so glückliche Miene verdüsterte sich. „Ging so.“ Na, sehr gesprächig ist der nicht, dachte sein Gegenüber und sprach seinen spontanen Gedanken aus. „Ach, hab irgendwie einen Durchhänger. Kannst du nicht hierbleiben und deinen Termin absagen?“ Ole stutzte, überlegte kurz. Er hatte das Treffen lange vorher geplant und viele offene Fragen. Toni würde auch ohne ihn klarkommen und mitnehmen konnte er ihn nicht. Das war ebenfalls eines seiner Probleme, denn irgendwann müsste der Freund Oles Geheimnis erfahren. Wie wird er reagieren? Wird es ihrer Freundschaft schaden, sie sogar beenden? Toni blickte ängstlich zu Ole. Der schüttelte den Kopf. „Na gut“, meinte Toni traurig. „Dann geh zu ihm, wenn ich dir so wenig bedeute.“ Die letzten Worte waren sehr leise gesprochen worden. Jedoch, Ole hatte sie gehört und verstand nicht. „Was meinst du?“ Angst legte sich in seine Stimme. „Och, nichts weiter. Aber wenn du einen anderen Freund hast, sag es, ist besser für uns.“ Ole sperrte erschrocken den Mund auf und starrte Toni an. „Bist du etwa eifersüchtig?“ Die Antwort musste warten.

Der Mann am Tresen händigte den beiden Jungen zwei Cola und zwei Hamburger aus. Toni bezahlte alles, nahm das Tablett und schob Ole zu einem freien Tisch im Lokal in der Bahnhofshalle. „Nee, eigentlich nicht, aber ich mache mir Gedanken, was du wohl treibst!“, versuchte er die Situation zu seinen Gunsten zu retten. Besser man spielte den Ball gleich zurück, dachte er. Ole lächelte entspannt. „Ich kann dich beruhigen. Du bist der einzige Freund in meinem Leben. Aber ich muss etwas klären, damit unsere Freundschaft in der Zukunft Bestand hat. Dazu treffe ich heute jemanden, der sich mit meinem besonderen Problem auskennt und mir einen Rat geben soll. Wir beide werden bald über uns sprechen müssen. Kannst du noch einen Tag warten?“ Ole sah Toni offen und ehrlich in die Augen. Verschämt blickte dieser nach unten. Er war sich des Fehlers bewusst. Wie Schuppen fiel die Wahrheit von seinen Augen. Eifersucht und wahre Liebe gehörten nicht zusammen. Wer Eifersucht zuließ, liebte nicht aufrichtig. Toni kämpfte kurzzeitig mit den Tränen, verzog die Mundwinkel. Sie saßen im Bahnhof, um sie herum liefen Menschen. Das war nicht der geeignete Ort um Gefühlen freien Lauf zu lassen. Toni atmete durch. Er hatte verstanden und gelernt. Liebe heißt Vertrauen. Wer wirklich liebt, weiß, dass der Partner nie das Vertrauen des anderen missbrauchen wird. Auch wenn eine Trennung unausweichlich ist, werden sie rechtzeitig darüber sprechen. Toni hob den Kopf, blickte dem Freund ebenso klar in die Augen. „Entschuldige. Ich glaube, ich muss noch viel lernen. Ich liebe dich, Ole. Aber, was immer es ist, ich werde es aushalten. Lass uns jetzt essen und dann fährst du zu deinem Termin.“ Auch in Oles Augen begannen nach dieser Antwort Tränen zu schimmern. Er hielt sich ebenfalls gefasst zurück. „Morgen weiß ich mehr. Vielleicht brauche ich mich danach nicht weiter zu verstecken.“ Toni nickte, setzte sein Glas an den Mund und trank. Das Essen begann ihm zu schmecken.

Wenig später standen zwei junge Männer von ihren Stühlen auf. Es war in den vorangegangenen Minuten etwas mit ihnen geschehen, das fühlten sie deutlich. Sie hatten für ihre Liebe einen Teil ihrer Kindheit aufgegeben. Verständnisfähigkeit und Reife waren an die Stelle von rücksichtslosem Egoismus getreten. Kinder müssen sich egoistisch verhalten, um alles zu bekommen, was sie zum Erwachsen werden brauchen. Erwachsene sind in sich gefestigt und können sich zurücknehmen. Die Fähigkeit eigene Bedürfnisse aufschieben zu können, um einem anderen zu helfen, macht einen Erwachsenen aus. Nicht nur das Essen hatte ihre Körper gestärkt, auch zwei gekräftigte Seelen, die den Zauber der bedingungslosen Liebe erfahren durften, verließen zufrieden die Bahnhofshalle. Toni winkte Ole hinterher, als dessen Zug abfuhr. Ohne Groll und Angst im Bauch wartete er auf seinen Bus. Am Abend surfte er wieder im Internet. Die Selbsthilfegruppe fiel ihm ein. Er las sich die Berichte der Website durch. Ob das etwas für ihn war? Peter Petersen hieß der Leiter der Gruppe. Toni grinste. Norddeutscher Name und nicht sehr einfallsreich. Eine Jugendgruppe gab es anscheinend nicht. Vielleicht sollte er diesen Petersen einmal anrufen. Fragen kostet bekanntlich nichts und vielleicht hat der eine Idee. So wie Ole ein Problem mit sich herumschleppte, so musste sich auch Toni etwas ausdenken.

Möglicherweise war der Zeitpunkt gekommen, um sich Hilfe zu holen. Irgendwann musste er es seinen Eltern sagen. Toni verstand plötzlich, dass es um sein eigenes Leben ging und er selbst die wichtigen Entscheidungen dazu treffen musste. Und wenn sich dadurch unliebsame Veränderungen einstellen, sind die ein Teil seines Lebens und er wird einen Weg finden, damit umzugehen. Unter Kontakt fand er die Mailadresse. Seine Gedanken verwirrten ihn. Was sollte er schreiben? Einfach die Wahrheit, fiel ihm ein. „Hallo Peter, ich bin sechzehn Jahre alt und Frau zu Mann transsexuell. Auf der Eisbahn bin ich erfolgreich als Junge aufgetreten, habe auch einen Freund gefunden, der aber nichts von mir weiß. Meine Eltern wissen auch nichts. Kannst du mir helfen?“ Enter. Toni zog sich aus, duschte und als er im Bett lag, wusste er, er hatte das Richtige getan. Vielleicht werden seine Eltern gar nicht so panisch reagieren. Als Professor und Krankenschwester müssten sie eigentlich tolerant und aufgeschlossen sein. Einzig Onkel Bernd wird sicher die Nase rümpfen. Aber dem kann man es nie recht machen. Das sagte auch Tonis Mutter. Hauptsache Ole hält zu mir, dachte Toni an diesem bedeutungsvollen Abend. Langsam fielen ihm die Augen zu.

Am nächsten Nachmittag lief er mit einem mulmigen Gefühl zur Eishalle. Als wenn er es befürchtet hatte, wartete er vergebens auf seinen Freund. Ole erschien nicht. Toni trainierte nur wenig, blickte immer wieder zum Eingang. Aber seine Hoffnung, Ole zu erblicken, erfüllte sich nicht. Er zog sich die Schlittschuhe aus, nahm sein Handy. „Was ist los? Warum kommst du nicht?“, schrieb er voller Angst auf sein Display. „Ich brauche noch Zeit. Ich melde mich wieder bei dir.“ Toni starrte auf die wenigen Worte. Tränen schossen in seine Augen. Es ist vorbei, dachte er und alle, aber auch alle Erkenntnisse des letzten Abends im Bahnhof waren vergessen. Liebe war nur ein Wort. Er packte seine Sachen. Das Gesprächsangebot Peter Petersens in seinem E-Mail Briefkasten konnte Toni nicht aufmuntern. Er schrieb zurück und verabredete sich für übernächsten Freitag um 17 Uhr vor dem Hamburger Lokal, das der Gruppe als Treffpunkt diente. Toni schlief am Abend erschöpft ein. Er konnte seine immer wiederkehrenden Weinkrämpfe gerade noch vor seiner Mutter verbergen. Aber sich selbst belügen, war nicht möglich. Der vermeintliche Verlust Oles hatte ihn zutiefst erschüttert und hilflos zurückgelassen. Am nächsten Morgen verrieten ihn seine verweinten Augen. Die Mutter hatte dienstfrei, strich ihm wortlos übers Haar.

„Wenn du reden willst, ich bin immer für dich da“, sagte sie und gab ihrem Mann ein Zeichen, er möge sich heraushalten. Die Tochter litt an Liebeskummer und sie als Mutter hatte es sofort erkannt. Das war nun Frauensache. Toni bemerkte die Fehldeutung seiner Mutter und kurzzeitig munterte sie ihn dadurch wieder auf. Es amüsierte ihn. Mutter hatte recht und doch wieder nicht. Im Schulbus schlich sich die Melancholie erneut ein und er musste sich durch den Schulalltag schleppen. Auch heute fehlte Ole in der Eishalle. Stattdessen kam die Trainerin des kleinen Mädchens auf ihn zu und fragte nach seiner eisläuferischen Vorgeschichte. Toni antwortete zögerlich. Er lief nicht mehr wettbewerbsmäßig. Sie fragte, ob er Lust hätte, einigen Kindern beim lernen zu helfen. Sie wollte ihm die Aufgaben vorgeben. Er könnte ihr assistieren. Spontan sagte er zu. Das Vertrauen der älteren Frau in ihn und die erwartungsvollen Augen der drei fünf- und sechsjährigen Mädchen gaben ihm sein angeschlagenes Selbstbewusstsein zurück. Fröhlich berichtete er am Abend der Mutter davon.

„Ich freue mich für dich. Dann waren die teuren Trainerstunden vielleicht doch nicht umsonst“, meinte sie. „Und, Tanja, kein Mann ist es wert, dass man sich die Augen ausheult. Das Leben geht weiter. Der Richtige wird auch für dich schon kommen.“ Fast hätte Toni aufgelacht. Wieder hatte die Mutter Recht und Unrecht zur selben Zeit. Trotzdem, was für Mädchen gilt, gilt auch für Männer. Warum nicht auch für schwule Transmänner? „Ist schon okay, Mama. Ich soll nächste Woche Freitag zu einer Freundin nach Hamburg kommen. Wir treffen uns um fünf Uhr am Dom. Darf ich? Ich fahre spätestens mit dem neun Uhr Zug heim und samstags ist kein Unterricht.“ „Natürlich, der Hamburger Dom ist zwar nicht so groß wie unser Oktoberfest, aber er soll sehr schön sein. Amüsiert euch gut.“ Toni atmete durch. Das war also geklärt. Er hatte Zeit genug für das Gespräch und den Dom gab es tatsächlich. Vielleicht konnte er ihn auf einen Sprung besuchen.

Schade, er dachte an Ole und fing automatisch zu schlucken an. Wie schön wäre es gewesen, wenn sie beide den Dom hätten unsicher machen können. In der Nähe lag die Eisbahn von Planten und Blomen. Toni versuchte verzweifelt den Gedanken an den Freund aus seinem Kopf zu schütteln. Aber es wollte ihm nur kurzzeitig gelingen. Ole hatte sich noch nicht wieder gemeldet. Es war ok. Toni dachte bei sich, dass er ein Gespräch über das Ende ihrer Beziehung wohl nicht überleben wird. Die Zeit heilt alle Wunden. Es war besser so. Er freute sich auf den Termin am Freitag. Ole war seine erste große Liebe gewesen und gleichzeitig die erste Enttäuschung geworden. Oles Name geisterte weiterhin als kleines Teufelchen in Tonis Gehirn umher, aber der Schmerz in seiner Brust ließ langsam nach. Die Wochen vergingen schnell. Für den Freitag musste er die Trainingsstunde mit den Kindern absagen. Er hatte die Kleinen inzwischen in sein Herz geschlossen und die Trainerin hielt große Stücke auf ihn. Kurz vor 17 Uhr stand er am Fleet, vor dem Lokal.

Peter Petersen war selbst Frau zu Mann transsexuell und wusste, mit welchen Problemen es die Betroffenen zu tun bekamen. Gerade für Jugendliche war es schwer, die Eltern einzuweihen. Unermüdlich führte er Gespräche und versuchte die Mauer aus Angst und unnötigen Vorurteilen in den Köpfen der Menschen zu durchbrechen. Anders als in anderen Gruppen, trafen sich bei ihm beide Geschlechter. Es gab Männer, die mit weiblichem Geschlecht geboren waren und Frauen, die sich mit einem Männerkörper herumschleppen mussten. Nicht alle Erwachsenen, die in die Gruppe kamen, wollten sich operieren lassen. Viele lebten am Tage ihr biologisches Geschlecht aus und zogen sich am Abend für die Gruppe um. Gerade das männliche Geschlecht zeigte sich sehr erfinderisch. Homosexuelle kamen zu den Treffen, damit der Partner sich als Frau ausleben konnte. Peter schätzte die Erfahrung und das Verständnis, welches viele seiner Mitglieder mitbrachten. Wer ganz am Anfang stand, brauchte besonders Hilfe. In der Regel kamen Erwachsene. Doch durch das Internet stießen häufig schon Jugendliche auf die Gruppe. Peter vereinbarte grundsätzlich zuerst private Treffen mit den Minderjährigen und setzte sich mit ihnen in ein nahegelegenes Cafe. Meistens wussten die Eltern nichts von den Gefühlen ihrer Kinder und somit entbehrten diese auch der Zustimmung ihrer Erziehungsberechtigten zu einem solchen Gespräch. Andererseits arbeitete Peter für die Stadt als Sozialarbeiter. Keine staatliche Stelle durfte einem Kind oder Jugendlichen Hilfe verwehren.

Neugierig wartete der fünfzigjährige studierte Soziologe auf seinen Gast. Es war der zweite transsexuelle Junge innerhalb von drei Wochen, der sich bei ihm gemeldet hatte. Toni musterte schon von weitem den durchtrainierten dunkelblonden Mann, der lässig in Jeans und blauer Blousonjacke auf und ab ging. Petersen machte einen vertrauenswürdigen Eindruck. Er streckte Toni die Hand aus. „Hallo, du bist Toni? Ich bin Peter. Lass uns da drüben ins Cafe gehen. Die Jugendlichen treffe ich anfangs immer an öffentlichen unverfänglichen Orten mit Publikum. Ich muss mir ein Bild von dir und deiner Lebenssituation machen.“ Toni erwiderte den kräftigen Händedruck. „Ja, ist o.k. Ich bin selbst froh, dass ich endlich den Mut gefunden habe, Rat zu suchen. Im Internet kann man sich einiges anlesen und Informationen holen. Aber es ist immer besser mit jemandem zu reden, der alles kennt und selbst durchgemacht hat.“ Das Cafe bestach im Sommer durch seine herrliche Lage am Fleet. Doch jetzt im Winter war nur drinnen geöffnet. Trotzdem konnte sich das Ambiente sehen lassen. Peter ließ seinem jungen Gast den Vortritt und folgte ihm zu einem kleinen Tisch in der rechten Ecke mit Blick aufs Wasser. Die Bedienung kam. „Für mich ein Kännchen Cafe und du?“, fragte er. „Eine Cola, bitte“, antwortete Toni. „Du weißt, dass ich Sozialarbeiter hier in Hamburg bin und selbst mein Geschlecht vor zwanzig Jahren gewechselt habe?“, fragte Peter. Er wollte Vertrauen herstellen und Toni das Gefühl geben, auf Verständnis und Kompetenz zu treffen. Der verstand den Wink sofort. „Ja, ich habe mir alles im Internet durchgelesen. Am besten, ich erzähle gleich von mir.“ Peter nickte. „Schieß los.“

Toni begann zunächst mit seinem Lebenslauf und erzählte über seine Eltern. Es folgten seine komischen Gefühle und der Wunsch im anderen Geschlecht leben zu wollen. Schon als ganz kleines Kind wollte er lieber ein Junge sein. Die Mutter hatte seine Wünsche als Spiel angesehen und ihm auch Jungenkleidung und Spielsachen für Jungs gekauft. Irgendwann ließ sie es. Toni hatte damals ein Streitgespräch seiner Eltern mitbekommen, in dem sich der Vater beschwerte und meinte, seine Frau sollte dem Treiben ein Ende bereiten. Tanja wäre ein Mädchen und sollte auch so behandelt werden. „Verstehst du nun, was ich fühle?“, fragte Toni. Sein Gegenüber lächelte. „Natürlich, ich ahnte es von Anfang an. Es ging mir ähnlich und ich erlebe oft Jugendliche wie dich. Allerdings leben die häufig in weit schlimmeren Konstellationen. Dein Problem bekommen wir schnell in den Griff. Wenn du möchtest, spreche ich mit deinen Eltern. Wenn Lehrer und Krankenschwester nicht toleranzfähig sind, wer soll es sonst sein? Mach dir keine zu großen Sorgen. Wir sollten uns aber bald treffen. Es ist wichtig, dass sich deine Eltern nicht hintergangen fühlen und du offen mit ihnen reden kannst. Sie können dich nur unterstützen, wenn sie wissen, was mit dir los ist. Und ich möchte, dass du andere Jugendliche aus der Selbsthilfegruppe kennenlernst. Ihr müsst Erfahrungen, Wissen und Gefühle austauschen. Es wird dir helfen, zu wissen, dass du nicht allein mit deinem Problem bist. Auch deine Eltern finden auf diese Weise Ansprechpartner.“

Toni hatte aufmerksam zugehört. Seine anfängliche Unruhe legte sich. Peter war ein Mensch, zu dem er sofort Vertrauen fassen konnte. Erleichtert trank er seine Cola. Dankbarkeit war in seinen Augen zu lesen, was Peter freute. Oft machten sich gerade die jungen Leute viel zu viele Gedanken über ihr Comingout. „Weißt du, Transsexualität wird inzwischen offen in der Bevölkerung diskutiert. Wirkliche Ablehnung erfahren nur noch wenige. Das sind meistens erwachsene Männer, die ihre weiblichen Empfindungen erst im fortgeschrittenen Alter ihren Ehefrauen und Kindern outen. Wenn die Partnerin nie etwas von den heimlichen Gefühlen des Mannes ahnt, reagiert sie manchmal aus Angst vor gesellschaftlichen Repressalien sehr heftig. Ich habe schon in vielen Fällen vermitteln können. Früher gab es etliche Ressentiments gegenüber transsexuellen Menschen. Aber die Gesellschaft ist in den letzten Jahren sehr viel offener geworden. Heute kommen schon Kinder und Jugendliche zu uns. Da ist es wichtig, so schnell wie möglich die Eltern mit ins Boot zu holen. Es gibt medizinische Möglichkeiten, Kindern zu helfen, ohne bereits eine endgültige Entscheidung der Geschlechtszugehörigkeit herbeizuführen.“

Toni hatte davon gelesen und erzählte es Peter. „Die Spritzen, die die Pubertät heraus zögern, kommen leider zu spät für mich. Mein Körper ist voll entwickelt. Ich habe mir für die Brust einen Hüftgürtel gekauft, um sie abzubinden. Deshalb sieht es bei mir vorne flach aus. Und in der Unterhose trage ich einen künstlichen Gliedersatz. Das Schlimmste ist die Regel. Sie ist sehr schmerzhaft. Ich wäre froh, wenn ich sie nicht mehr bekäme.“ Peter nickte verständnisvoll. Er sah auf die Uhr. „Das Treffen beginnt. Willst du mit rüber kommen? Du brauchst dich nicht vorstellen. Wir haben aber einen Ehrenkodex, der besagt, dass alles, was in der Gruppe besprochen wird, auch dort bleibt. Vor allem über die Mitglieder darf ohne deren Zustimmung nichts nach außen dringen. Es beißt also keiner. Über deine Eltern sprechen wir später. Ich hab da eine Idee“, meinte Peter. Toni überlegte. Eigentlich war er hergefahren, um andere Transsexuelle zu treffen und sich Informationen über sein Problem zu verschaffen. Das Gespräch mit Peter war hervorragend verlaufen. Also konnte er gleich mit ihm gehen. Er atmete aus. „Ja, das tue ich. Ich bin sehr gespannt auf die anderen.“ „Gut, trink aus. Es ist nämlich jemand Neues in deinem Alter da. Ich habe ihn vor zwei Wochen getroffen. Ihr werdet gut zueinander passen.“

 
Zuletzt bearbeitet:



 
Oben Unten