Eis und Heiß (Teil 2)

Ruedipferd

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Zu Teil 1

Comingout

Einen Augenblick später betraten Peter und Toni das Lokal. Peter schob seinen jungen Gast zielstrebig zu einem langen Tisch, welcher sich in einer Fensternische befand. Als Toni über die Köpfe der zwölf Anwesenden blickte, erstarrte er. In der Fensterbank stand ein Kaktus. Ein mittelgroßer grüner Kaktus mit zur Seite ausladenden Armen und unzähligen kleinen Stacheln darauf. Er steckte in einem ebenfalls grünen Übertopf. Toni konnte seine Augen nicht von der relativ unscheinbaren Pflanze in ihrem hübschen Friesentopf abwenden, denn genau vor dem Kaktus saß jemand, den er nur zu gut kannte. Sollte er auf der Stelle kehrt machen, verschwinden? In seinem Kopf schwirrten Gedanken umher. Er durfte nicht hier sein. Wie sah das aus? Wie nachspionieren! Warum bin ich nicht als Maus auf die Welt gekommen? , fragte sich Toni. Doch es war zu spät. Der andere hatte ihn entdeckt.

Was wollte Ole in einer Selbsthilfegruppe für Transsexuelle? Tonis Schrecken konnte nicht größer sein. Und Ole? Der starrte zurück. Angst kroch an ihm hoch, schnürte ihm die Kehle zu. Peter bemerkte nichts von den Qualen der beiden jüngsten Besucher. Er begrüßte seine Freundin Janine wie üblich mit einem Kuss, zog die Jacke aus und setzte sich neben sie. Toni stand noch immer vor dem Tisch und starrte Ole an. Inzwischen waren seine Augen auf die des anderen getroffen. „Was ist los? Such dir einen freien Platz!“, forderte ihn Peter auf. „Wir haben wieder einen jungen Gast und ich bitte euch, ihm Zeit zu lassen. Was gibt es Neues, Clarissa? Hat sich die Krankenkasse endlich gemeldet?“ Peter glaubte, Toni wäre schüchtern und wollte ihn der Aufmerksamkeit der anderen entziehen. Die hatten verstanden und taten so, als wäre Toni gar nicht da. Der Platz neben Ole war frei. Die beiden ließen sich nicht aus den Augen. Fahrig ging Toni um den Tisch herum, starrte sprachlos den Freund an. Der starrte zurück. Toni setzte sich. Es kam ihnen beiden wie eine Ewigkeit vor. Während sich alle anderen Peter zu wandten und sich in angeregte Gespräche vertieften, verfolgte eine der jungen Frauen am Tisch die beiden Jungen, die nicht wussten, wie sie sich verhalten sollten, mit ihren Augen. Die Situation schien vertrackt und grotesk zugleich. Ole erholte sich als erster.

„Spionierst du mir etwa nach?“, fragte er und seine Stimme hörte sich verärgert an. Das konnte Toni nicht auf sich sitzen lassen. Er erwachte aus seiner Lethargie. „Nein, natürlich nicht. Aber was machst du hier? Das sind Transsexuelle!“ Die Worte klangen vorwurfsvoll und abwertend, was gar nicht beabsichtigt gewesen war. Die junge Frau, die bisher amüsiert das kleine Schauspiel an ihrer Seite beobachtet hatte, konnte nun nicht mehr an sich halten. „Was heißt denn hier Transsexuelle? Das klingt aus deinem Mund ja wie eine Diskriminierung. Mäßige dich mal, Bürschchen!“ Ihre Empörung war nicht gespielt. „Äh, nein, so war das doch nicht gemeint. Ich bin ja selbst so. Aber, … ich verstehe nicht, was mein Freund hier macht“, stammelte Toni schuldbewusst. Und setzte nach: „Du bist doch noch mein Freund, oder?“ Ole, welcher verschämt nach unten geblickt hatte, hob den Kopf. „ Ja, ja, natürlich. Aber, was willst du! hier?“
Tonis Wangen hatten derweil einen rötlichen Schimmer angenommen. „Ich habe im Internet nach Selbsthilfegruppen geschaut und fand Peters Mailadresse. Es ist das erste Mal, dass ich hier bin.“ Peter Petersen sah interessiert über den Tisch, als er seinen Namen hörte. „Was ist mit euch beiden? Kennt ihr euch? “, fragte er mit ruhiger Stimme. Toni atmete hörbar aus. „Das kann man wohl sagen. Wir haben uns auf der Eisbahn vor ein paar Wochen kennen gelernt. Ich dachte, er wäre ein völlig normaler Junge. Und dann war es plötzlich aus!“ Jetzt war die Verlegenheit bei Ole. „Nein, es ist nicht aus. Im Gegenteil. Aber ich hatte Angst, dass du Schluss machst, wenn du die Wahrheit über mich erfährst. Bitte, Toni, glaube mir. Ich liebe dich doch!“ Die letzten Worte waren kaum hörbar, aber sie verfehlten ihr Ziel nicht.

Jetzt hatten sie die Aufmerksamkeit der anderen am Tisch erregt. Alle blickten zu den beiden. Eva, deren kleiner Aufmupfer auf fruchtbaren Boden gefallen war, schmunzelte. „Das ist ja niedlich. Ihr sprecht wie ein altes Ehepaar. Ihr seid also zusammen?“ Es war weniger eine Frage, als eine Feststellung. Eva zählte eins zu eins zusammen. Und das taten die anderen auch. „Transsexualität ist weder ansteckend noch gefährlich für andere!“, ließ sich Peter vernehmen. „Aber so einen Fall hatten wir hier noch nicht.“ Eine der Frauen am Tisch ergriff das Wort. „Also, ich würde sagen, wir stellen uns einander erst einmal vor. Ich bin Roswitha, fünfunddreißig Jahre jung und fühle mich seit frühester Kindheit nicht als Junge. Inzwischen habe ich beim Amtsgericht meine Anträge auf Vornamens-und Personenstandänderung eingereicht, mir zwei Gutachter gesucht und bei jedem bereits Termine gehabt. Zeitgleich bin ich bei einer Gynäkologin in Behandlung und erhalte weibliche Hormone. Ich möchte so bald als möglich operiert werden und bin dabei, einen passenden Chirurgen zu finden.“

Nach und nach begannen die „Alteingesessenen“ von sich zu erzählen. Als der letzte fertig war, bedankte sich Peter bei seiner Gruppe. Nun war es an der Zeit für Toni und Ole, etwas zu sagen. Während der Vorträge hatten sie einander unter dem Tisch an die Hand genommen. Sie sahen sich verliebt an. Den beiden stand die Erleichterung ins Gesicht geschrieben. Toni begann, erzählte von seinen komischen Gefühlen während der frühen Kindheit, welche sich wie ein roter Faden durch sein Leben zogen. „Das Hauptproblem sind meine Eltern. Die wissen noch nichts. Ich will sie nicht verletzen. Sie haben sich ja ein Mädchen gewünscht.“ Roswitha hatte aufmerksam zugehört. „Ich denke, dein Problem bist du selbst. Deine Eltern sind nicht bildungsfern. Sie wollen garantiert, dass du glücklich bist. Du solltest es ihnen bald erzählen. Peter ist Sozialarbeiter und arbeitet auch mit dem Jugendamt zusammen. Er kann dir helfen.“ Sie blickte zu Ole. „Das wird bei dir ähnlich sein, oder?“ Ole nickte. Die Überleitung war geglückt. Er hatte Angst vor dem Outing gehabt, aber dank Roswithas freundlicher Art und Direktheit, konnte er frei und ungezwungen sprechen.

„Meine Eltern sind konservativ und sehr religiös. Alles, was nicht der Norm entspricht, lehnen sie ab. Und ich gehöre mit meinen Gefühlen nicht zu ihrer Norm. Mein Vater ist leitender Beamter beim Bauamt. Meine Mutter ehemalige russische Tänzerin. Sie trainiert jetzt junge Mädchen an der Ballettschule. Wenn meine Eltern herausfinden, dass ich trans bin, zerstöre ich womöglich ihre heile Welt.“ Es war bei Oles Worten sehr ruhig am Tisch geworden. Peter brach die betretene Stille. „Ole, auch für dich gilt, was Roswitha gerade anmerkte: Deine Eltern sind nicht bildungsfern und sie stehen mitten im Leben.“ Ole nickte verhalten. „Ich bin tatsächlich gerne bereit, mit euren Eltern zu sprechen. Aber ihr solltet vorher den Anfang gemacht und sie vorbereitet haben. Ihr seid, was ihr seid. In kurzer Zeit habt ihr euer Abitur und erreicht die Volljährigkeit. Ihr entscheidet selbst, was richtig für euch ist. Wenn eure Eltern euch nicht verlieren wollen, bleibt ihnen nichts anderes übrig, als sich mit euch zu arrangieren. Niemand muss sich wegen seiner transsexuellen Problematik schämen. Es ist wichtig, dass ihr regelmäßig hierher kommt. Hier könnt ihr euch informieren und erleben, was bei einem Geschlechtswechsel zu beachten ist. Hier könnt ihr euch ausprobieren und mit allen sprechen, die schon weiter sind.“ Janine, die seit einigen Jahren eng mit Peter befreundet ist und ihn gerade bei Neuzugängen gerne unterstützt, meinte, Informationen und Kontakte zu transsexuellen Männern, die bereits durch sind, wären für die beiden unerlässlich.

„Es ist nicht allein das Outing. Ihr müsst wissen, was ihr wollt und euer Leben planen. Für die gerichtliche Vornamens-und Personenstandänderung müssen Anträge ans Amtsgericht gestellt werden, dazu könnt ihr die beiden Gutachter selbst benennen. Das setzt natürlich voraus, dass ihr sie bereits kennen gelernt habt und mit ihnen zurechtkommt. Ein Psychotherapeut muss euch eure Diagnose bescheinigen, damit ihr zum Endokrinologen gehen könnt. Da sind Blutuntersuchungen notwendig und mit dem Attest dürft ihr euch Hormone vom Arzt geben lassen. Auch das ist eine Wissenschaft für sich. Solange ihr noch minderjährig seid, müssen eure Eltern ihr Einverständnis geben. Nun ja, und dann steht ihr vor der Frage, was wird wann und in welchen Schritten wo operiert. Eventuell gibt es hinsichtlich der für euch geeignetsten Operationsmethode kleine Diskussionen und Probleme mit der jeweiligen Krankenversicherung. Ihr wollt ja sicher nach dem Abi studieren und nicht zu lange mit der OP warten. Also, es gibt einiges für euch zu tun.“

Den beiden Neuen war bei den vielen Informationen bereits schwindelig geworden. Oh je, da kam wirklich einige Arbeit auf sie zu. Peter lachte und beruhigte. „Bleibt ganz cool. Rom ist auch nicht an einem Tag erbaut worden. Immer der Reihe nach. Wobei es im Laufe der Zeit auch mehrere parallel laufende Schritte geben wird. Ihr wachst hinein und ich denke, wenn euch eure Eltern irgendwann unterstützen, habt ihr bald alles hinter euch. “ Toni überlegte. „Was sollen wir als erstes tun, Peter?“ „Runter kommen und in aller Ruhe darüber nachdenken, wie ihr es euren Eltern erklären wollt. Ihr seid beide Siebzehn, oder du, Toni, bist du nicht sogar erst Sechzehn?“ „Ich werde Ende des Jahres im Dezember siebzehn Jahre alt.“ Peter nickte. „Dann dürft ihr ohne die Erlaubnis eurer Eltern nicht herkommen. Es ist unsere vorderste Aufgabe sie mit ins Boot zu holen. Danach rate ich als erstes einen Psychotherapeuten aufzusuchen.“ Ole und Toni blickten sich verliebt in die Augen. Ein junger Mann stand auf und ging zu ihnen. Eva lächelte und rückte einen Platz weiter. „Ich habe schon darauf gewartet, dass du dich der beiden endlich annimmst, Stefan“, sagte sie. Der Angesprochene setzte sich neben Toni.

„Ja, ich bin Stefan und bekomme seit einem halben Jahr Hormone. Man hört es sicher. Im Augenblick suche ich alle in Frage kommenden Chirurgen auf, denn ich möchte möglichst schnell operiert werden und meinen Schwanz haben. Männer gehen ihren Weg ziemlich geradlinig in die Angleichung. Wobei ich zuerst meine Brust operieren lassen muss, denn sie ist sehr stark. Da muss ein Facharzt ran. Einen Termin habe ich im März im Marienkrankenhaus. Das ging mit dem medizinischen Dienst recht unproblematisch. Allerdings will ich die große OP einzeitig machen lassen und der Arzt kommt aus dem Ausland, hat in Berlin Belegbetten. Er rechnet privat ab. Die OP ist ziemlich teuer. Ich habe noch einige Diskussionen mit meiner Krankenkasse vor mir. Aber die Ergebnisse sind hervorragend, die Komplikationsrate gering und man ist schnell wieder arbeitsfähig. Ein halbes Jahr später werden aus den Schamlippen die Hoden gebaut und eine Pumpe eingesetzt, damit mein bestes Stück stehen kann. Ich bin gottlob nicht allein. Mark und Frank gehören ebenfalls zum Transmann- Kreis der Gruppe, aber sie sind heute nicht hier. Die sind beide unterschiedlich weit und ich rate euch, euch uns anzuschließen. Ihr braucht unsere Fehler aus Unwissenheit nicht wiederholen und wir werden euch auf eurem Weg helfen. Natürlich nur, wenn ihr wollt!“

Ole und Toni hatten mit großen Augen zugehört. Beide nickten fast zur selben Zeit. „Ja, gerne. Das ist super nett. Wir haben hinsichtlich OP und Hormone überhaupt keinen Plan. Aber Janine hat recht. Wir wollen nach dem Abi studieren und uns nicht mehr mit unseren Geschlechtsproblemen auseinander setzen müssen“, erklärte Toni. Ihm fiel eine schwere Last von der Seele. Hier war er richtig. Hier gehörte er hin. Die Freude über die Anteilnahme der anderen erhellte seine Miene, beflügelte ihn und bewegte ihn zutiefst. Ole legte wie selbstverständlich den Arm um ihn. Auch seine Gefühle katapultierten ihn geradewegs in den Himmel zu den Sternen hinauf. Einen Moment lang waren alle Sorgen um die Eltern und das Comingout vergessen. Die Freude und Dankbarkeit lösten auch bei Ole Entspannung und beruhigende Gefühle aus. Stefan lächelte verständnisvoll. Es ging fast allen so, die viele Jahre mit ihrem Problem alleingelassen leben mussten und nun von einer Sekunde zur nächsten Zuwendung und Hilfsbereitschaft erlebten. Im falschen Körper war man als Transident eigentlich nicht. Zum Körper gehören noch mehr Teile als nur das Geschlecht. Aber man war mit dem falschen biologischen oder somatischen Geschlecht geboren worden. Einige störte das nicht. Sie arrangierten sich, lebten mal als Mann und mal als Frau. Oder sie sahen sich als androgyn an, also irgendetwas in der Mitte zwischen Frau und Mann. Wiederum andere fanden ihren eigenen Lebensstil, brauchten oder wollten keine Operationen oder Hormone.

In den westlichen Ländern konnte jeder so sein und nahezu so leben, wie er wollte. Obwohl es in den oft prüde wirkenden angelsächsischen Staaten für Transgender, Schwule und Lesben zeitweilig schwieriger wurde, je nachdem, wie konservativ sich die jeweilige Regierung anstellte. Probleme haben Homosexuelle in den muslimischen Ländern, denn oft steht dort die Todesstrafe auf Homosexualität. Man erlaubt aber den Männern, sich zur Frau operieren zu lassen. Für die Betroffenen ist dies eine Katastrophe, denn sie sind keine Frauen und deshalb auch nicht transsexuell. Obendrein verlieren sie nach der OP ihre gesellschaftlichen Rechte als Mann. Für junge Muslime bleibt im Grunde nur die Flucht in westliche tolerantere Staaten, wie Deutschland. Ähnlich ergeht es Betroffenen in Russland oder Polen. Auch dort erfahren Homosexuelle und Transidenten Ablehnung und Hass, was gerade für christlich geprägte Länder unverständlich ist. Hatte Christus nicht Nächstenliebe und die Gleichheit aller Menschen gepredigt? Viel schien aus der Bibel bei den Bürgern Polens nicht hängen geblieben zu sein. Stefan betrachtete nicht nur das heuchlerische Verhalten und die falsche Auslegung der Bibel seitens katholischer und orthodoxer Priester als Ärgernis, sondern es betrübte ihn, dass es auch in den als demokratisch bezeichneten Staaten etliche Leute mit dem „Transgendern“ übertrieben. Sie sorgten damit für viel zu viel Unübersichtlichkeit, schürten mit zu schrillen Auftritten Ängste in der Bevölkerung, was den wirklich unter ihrer Geschlechtsproblematik leidenden Transsexuellen mehr schadete als nützlich war.

„Es ist wohl jetzt das Wichtigste, unsere Eltern zu informieren, was meinst du?“, unterbrach Toni die Gedanken Stefans. „Ja, das denke ich auch. Wenn eure Eltern Bescheid wissen, gebe ich euch die Anschrift einer Psychologin. Die braucht eure Krankenkassenkarte und muss feststellen, ob ihr Trans seid. Es gibt da geistige Erkrankungen, die sie ausschließen muss. Wenn ihr es wollt und alles okay ist, schreibt sie euch ein Attest für die Krankenkasse, welches ihr dem Endokrinologen vorlegen könnt. Der wird Blut abnehmen und euch irgendwann in der Folge die ersten männlichen Hormone verabreichen. Ihr müsst entscheiden, wann ihr euch operieren lassen wollt. Wenn ihr Hormone erhaltet, müssen die Eierstöcke innerhalb einiger Jahre raus, sonst können sich Tumore bilden. Danach seid ihr auf Testo angewiesen. Eure Papiere müssen umgeschrieben werden. Dazu braucht ihr den Beschluss vom Amtsgericht. Das ist ein Kapitel für sich. Ihr müsst zwei Gutachten erbringen, die euch die Transsexualität bescheinigen. Das kostet alles Geld und ihr braucht die Hilfe eurer Eltern in jedem Fall dafür.“

„Sollen wir mit der Tür ins Haus fallen, sagen, hallo Mum, hallo Dad, ich bin Trans und muss operiert werden?“ Stefan lachte auf. „Toni, ich mag dich! Du hast den Nagel auf den Kopf getroffen. Wenn deine alten Herrschaften so gestrickt sind und diese Art von dir kennen, kannst du es so machen. Aber ich rate zu mehr Einfühlungsvermögen. Eltern denken oft, sie haben bei der Erziehung etwas falsch gemacht oder ihre Gene sind schuld. Das ist Quatsch. Peter wird ihnen alles einfühlend erklären. Als Sozialarbeiter und studierter Soziologe wird er bei deinem Vater auf Akzeptanz stoßen. Der ist Prof? Oder?“ Toni nickte. „Für Geschichte, er wird umdenken müssen und sich von Cäsar und Kleopatra verabschieden.“ Peter, der interessiert und schmunzelnd zugehört hatte, stand ebenfalls auf und kam auf die drei zu. „Ich gebe euch eine Broschüre mit. Die ist kurz gehalten und erklärt alles Wesentliche zum Thema. Gebt euren Eltern das Heft und bittet sie, es zu lesen. Danach möchtet ihr mit ihnen darüber sprechen. Es ist wichtig für die Schule, könnt ihr sagen. Damit habt ihr nicht einmal gelogen. Alles Weitere wird euch einfallen. Erzählt von der Gruppe und von mir. Ich bin gerne bereit mit ihnen zu reden und nehme ihnen auch Vorbehalte und Ängste.“ Ole und Toni sahen einander an. Puh, das war eine gute Idee. Janine schob zwei grüne Heftchen über den Tisch. Junge oder Mädchen?, stand in weißer Schrift auf grünem Untergrund. Für alle Eltern, die plötzlich umdenken müssen.

„Was kostet das?“, fragte Ole. „Ein freundliches Lächeln“, antwortete Janine. „Die Broschüren wurden von der Bundesregierung gedruckt und sollen Eltern helfen, die Problematik besser zu verstehen“, erklärte Peter. Toni sah auf seine Armbanduhr. Es war zehn Uhr durch. Auf den Dom würden sie es nicht mehr schaffen. Er zeigte sie Ole. „Wir sollten los, unser Zug fährt in einer halben Stunde. Wann ist das nächste Treffen hier?“ Janine antwortete: „In drei Wochen, bis dahin solltet ihr mit euren Eltern gesprochen haben.“ „Ihr könnt mich jederzeit per Mail kontaktieren. Meine Handynummer ist auch auf meiner Homepage zu finden“, erklärte Peter. „Gut, dann sagen wir ganz herzlichen Dank und freuen uns aufs Wiedersehen.“ Die beiden standen auf und winkten den anderen zu. „Tschüss, ihr Helden “, rief ihnen Eva hinterher. Die zwei hatten noch einiges vor sich, dass wussten alle am Tisch, die ihnen nachsahen. Janine runzelte die Stirn. „Was hast du?“, fragte Peter. „Ich weiß nicht, ob es ratsam ist, wenn die beiden bei der Psychologin und vor allem bei den Gutachtern von ihrem Verhältnis sprechen. Es könnte der Eindruck entstehen, sie wollten sich nicht als Lesben outen. Zumindest unser Freund Dr. Alfons Tamensky könnte sich in diese Richtung ereifern.“ „Ja, sicher, aber ich hatte nicht vor, ihn den beiden als Gutachter vorzuschlagen. Alfons ist so ziemlich der Letzte, den ich empfehle“, bemerkte Stefan etwas abfällig. Janine atmete hörbar aus. „Dann ist ja gut. Wir werden hören, wen Dr. Stefan Körber empfiehlt.“ Am Tisch brach Gelächter aus.

Dr. Tamensky arbeitete für das Gesundheitsamt und war bei den Patienten nicht besonders beliebt. Er pflegte seine transsexuellen Klienten oft vor den Kopf zu schlagen und stellte ihnen negative Gutachten in Aussicht, wenn sie sich seinen Ideen widersetzten. Die Begutachtung bei ihm zog sich oft über viele Jahre hinweg, weil er für seine eigenen Vorträge und Expertisen Forschungsergebnisse suchte. In der Zwischenzeit hatten die Stammtischbesucher in der Hansestadt gottlob Ausweichmöglichkeiten gefunden. Es gab einige freundliche Ärzte im Klinikum und in der Psychiatrie, die sich mit der Thematik sehr gut auskannten. Ole und Toni waren in der Gruppe in besten Händen. Nun kam es nur darauf an, wie schnell sie ihre Eltern informieren konnten und natürlich auf deren Reaktion.

Toni und Ole hatten es nicht weit zum Hauptbahnhof. Sie gingen Hand in Hand über den Zebrastreifen. Nach außen galten sie als schwules Jungenpaar. Niemand nahm von ihnen Notiz. Nur ein älterer Mann, der mit roter Nase auf dem Boden saß und ziemlich abgerissen erschien, sprach die beiden an. Toni hatte gerade seine Seltersflasche in einem Zug geleert. „Hey, Kumpel, tust du ein gutes Werk und überlässt mir das Pfand?“ Toni blickte nach unten. Mitgefühl und Wärme durchfluteten sein Herz. „Klar!“ Er gab dem Alten die Flasche, zog sein Portemonnaie heraus und steckte ihm zwei Euro zu. Ole hatte auch einige Geldstücke in der Hand. Der Mann strahlte. „Alles Gute und Gottes Segen für euch!“ Die beiden nickten. Das konnten sie auch gut gebrauchen. Da waren sie sich einig. „Treffen wir uns morgen in der Eisbahn?“, unterbrach Toni die Stille. Ole sah ihn an. „Natürlich, ich bin um halb elf Uhr da. Hab noch Hausaufgaben zu machen und ich glaube, ich lege meinen Eltern das Heft auf den Frühstückstisch. Sie stehen spät auf und können sich damit befassen, wenn ich weg bin.“ „Das könnte ich auch tun, ich schreib ihnen noch einen Zettel und verabrede mich für den Abend mit ihnen. Am besten, ich ermutige sie zu einem Glas Wein. Die beiden genießen abends oft eine Flasche Rotwein und kuscheln auf der Couch.“ Ole konnte sich das Grinsen nicht verkneifen. „In dem Alter kuscheln die noch? Das habe ich bei meinen alten Herrschaften noch nie gesehen!“ „Doch“, antwortete Toni, während sie in den Zug einstiegen. „Die benehmen sich manchmal wie die Teenager.“

Im Zug schlug Ole die Broschüre auf. Toni tat es ihm neugierig gleich. Die beiden waren so in ihre Lektüre vertieft, dass sie fast den Ausstieg verpasst hätten. Ein älterer Junge stieß Toni an. „Eh, Tanja, nicht lesen, aufpassen! Wir sind da!“ Toni schreckte auf. Auch Ole schloss sein Heft. Einen Augenblick standen sie an der Tür. Als der Zug hielt stiegen sie aus und gingen zum Busbahnhof. Ole lächelte. „Aha, Tanja. Eigentlich ein hübscher Name für ein Mädchen!“ Toni sah ihn bitterböse von der Seite an. „Und wie heißt du?“, knurrte er. „Olga“, antwortete sein Freund leise. „Auch nett!“ Toni legte spöttisch grinsend seinen Arm um Oles Schulter. „Danke, aber Ole klingt und passt besser. Lass uns das andere schnell vergessen. Der Abend war toll und ich hoffe, wir finden in unseren Eltern rasch Helfer.“ Oles Bus kam. „Bis morgen, Ole!“ Er stieg ein, zeigte seine Monatskarte vor. „Bis morgen, Toni. Und viel Erfolg.“ Auch Toni brauchte nicht lange warten. Einen Moment später saß er im Bus und betrachtete sein Handy. Schreck lass nach! Es war fast halb zwölf Uhr. Hoffentlich schimpften seine Eltern nicht, dachte er ängstlich.

Die saßen noch im Wohnzimmer und tranken den letzten Rest aus der Weinflasche, als Toni die Tür aufschloss. Er zog sich rasch die Schuhe aus und begrüßte sie mit mulmigem Gefühl. „Hallo Mum, hallo Dad, entschuldigt, ich hab den 9 Uhr Zug verpasst.“ „Keine Ursache, mein Schatz. Wir haben uns so etwas schon gedacht. Wie war es auf dem Dom? Wo sind die Zuckerstangen? Papa und ich warten schon den ganzen Abend darauf?“ Toni lächelte erleichtert. Daran hatte er natürlich nicht gedacht. „Ich hab leider keine dabei, denn ich hatte keine Zeit mehr für den Dom. Ich muss mit euch reden.“ Klaus und Anneliese Obermöller sahen sich überrascht an. „Ja, immer, mein Kind. Das hatte ich dir doch vor einigen Tagen schon beim Frühstück gesagt. Tanja, wir sind deine Eltern. Gibt es etwas, das wir wissen müssen? Wir beißen nicht und schimpfen auch nicht. Komm, setz dich und dann raus mit der Sprache.“ Klaus Obermöller holte ein Glas und schenkte seiner Tochter Cola ein. Irgendetwas hatte das Mädel, das spürte er deutlich und erfuhr gerade vor einer Stunde im Gespräch mit seiner Frau Bestätigung. Liebeskummer, Probleme mit den neuen Mitschülern, dem Umzug, die neue Umgebung? Spürte seine Tanja am Ende Heimweh? Die beiden rätselten bereits den ganzen Abend. Da lag etwas in der Luft mit ihrem Kind, welches sie nicht fassen konnten. Sie atmeten beide erleichtert aus. Tanja hatte den Weg von selbst zu ihnen gefunden. Darauf konnten und durften sie stolz sein. Es gab oft Kinder, die ihren Eltern während der Pubertät nicht mehr vertrauten. Bei ihrer Tochter schien die Erziehung geklappt zu haben.

Toni nahm dankbar das Glas. Er hatte Durst. Ihm war jetzt alles egal. Der Abend war blendend gelaufen. Die Selbsthilfegruppe hatte ihm Mut gemacht und Zuversicht gegeben. Alles wird gut werden. Ole und dessen Liebe komplettierten sein Glück. Er legte die Broschüre auf den Wohnzimmertisch. Klaus Obermöller blickte neugierig auf den Titel und erstarrte. Auch Anneliese wusste sofort, was das Heftchen der Bundesregierung für Sexualaufklärung zu bedeuten hatte. Vor ihrem geistigen Auge lief augenblicklich Tanjas Kindheit ab. Ein Junge! Tanja war kein Mädchen, an ihr war auch kein Junge verloren gegangen. Sie war einer. Ihre Tochter war ein Sohn. Die examinierte Krankenschwester fing spontan an zu weinen. Ihr Mann hatte sich schnell gefangen und seine eigenen Schlüsse gezogen. An der Uni Hamburg gab es mehrere transsexuelle Studenten und Studentinnen. Als Professor und Dozent wusste er über deren Probleme Bescheid. Und nun hatte es auch ihn persönlich getroffen. Seine Tochter war keine Tochter.

Er dachte an ihre Kinderzeit und wie froh er über die Geburt seines Mädchens gewesen war. Da kam einiges auf die Familie zu. Er deutete die Tränen seiner Frau allerdings falsch. „Liebling, ich bitte dich. Du bist Krankenschwester und nicht von gestern. Ebenso wenig wie ich. Transsexualität ist weder ansteckend, noch etwas, für das man sich schämen muss. Es kommt in allen Gesellschaftsschichten vor und in Deutschland ist das nur halb so wild. Außerdem leben wir jetzt im weltoffenen Hamburg. Aber selbst in München hätten wir keine Probleme gehabt. Tanja, erzähl, Kind.“ Anneliese nahm sich ein Taschentuch und wischte sich die Augen ab. Toni starrte seine Eltern an. Hatten die etwa schon begriffen, um was es ging? Seine Wangen glühten. „Ich war in Hamburg, das stimmt. Aber ich hatte einen Termin mit einem Sozialarbeiter, der mich zum Treffen in eine Selbsthilfegruppe für Transsexuelle mitnahm.“ Toni begann langsam und leise zu erzählen. Seine Gefühle aus der Kindheit kamen zur Sprache. Seine Mutter nickte, immer wieder liefen Tränen über ihr Gesicht. Toni berichtete vom Umzug, von der Eisbahn und von Ole. Er schloss mit den Ereignissen vor wenigen Stunden in der Selbsthilfegruppe.

„Peter Petersen ist Sozialarbeiter und leitet die Gruppe. Die Leute sind unterschiedlich weit mit ihrer Angleichung. Es heißt Geschlechtsangleichung und nicht Umwandlung, weil Körper und Seele bei der Geburt nicht stimmten. Es gibt viele Möglichkeiten, Transidentität auszuleben. Er will gerne mit euch sprechen und euch etwaige Ängste nehmen. Ich brauche eure Erlaubnis, wenn ich einen Psychologen aufsuchen will und auch für die Gruppentreffen brauche ich euer Einverständnis.“ Klaus breitete seine Arme aus. „Komm mal her, mein Mädchen. Ich liebe dich. Angst habe ich keine, ich bin nicht von gestern und in meinen Vorlesungen gibt es zwei Mann zu Frau Transsexuelle. Ich bin Lehrer und wäre ein ganz schlechter, wenn ich mit dieser Problematik nicht umgehen könnte.“ Anneliese schluchzte. „Und ich bin anscheinend eine total bescheuerte Mutter. Ich hätte das als Krankenschwester erkennen müssen. Ach, Schatz, wie hast du gelitten.“ Toni konnte vor so viel Zuwendung nicht an sich halten. Er heulte plötzlich wie ein Schlosshund. In wenigen Sekunden brachen die vergangenen sechzehn Jahre im falschen Geschlecht aus ihm heraus, entluden sich Zwang, Angst und Unsicherheit, die ihn während seiner gesamten Kindheit und Jugend gequält hatten. „Danke, ich hatte solche Angst davor, es euch zu sagen, weil ich euch nicht enttäuschen wollte“, erklärte er weinend. Der Vater löste sich, stand auf und nahm eine Flasche Obstler aus dem Schrank. Er sah seine Frau an und schenkte gleich zwei Gläser ein. Anneliese konnte jetzt ebenfalls einen Schnaps auf den Schrecken gebrauchen, war er sich sicher. Er hatte recht. Sie nahm das Glas und trank es in einem Zug leer, um sich danach fürchterlich zu schütteln. Klaus genoss seinen doppelten sichtlich. Das tat gut. Wie ging es jetzt weiter? Er stellte seiner Tochter die Frage.

„Ich weiß noch nicht. Ich muss erst mit Ole darüber reden. Aber in drei Wochen ist wieder Gruppentreffen und es wäre schön, wenn wenigstens einer von euch mitkäme. Vielleicht kann Peter uns vorher besuchen. Er weiß so viel. Ich muss zum Psychologen und zur Krankenkasse. Die Geburtsurkunde muss umgeschrieben werden, dazu sind Gutachten für das Amtsgericht nötig.“ Anneliese stutzte. „Wieso, was hat denn deine Geburtsurkunde damit zu tun?“ „Na, ich bin sechzehn Jahre alt, werde Siebzehn und brauche einen Personalausweis für Erwachsene. Darauf stehen der Mädchenname und das Geschlecht. Ohne Geburtsurkunde kann man das nicht ändern, ist eigentlich logisch“, klärte Toni seine Mutter auf. Die schien immer noch etwas begriffsstutzig. „Warum willst du deinen Namen ändern, Tanja ist doch hübsch? Papa und ich haben uns damals so viel Mühe damit gegeben, dir einen schönen Namen auszusuchen und du heißt Tanja Maria Sophie Charlotte, nach deinen beiden Omas. Die wären aber sehr enttäuscht, wenn sich daran etwas ändert.“

Klaus hatte wortlos zugehört und seine Blicke hingen gebannt an Toni. Er versuchte klar zu denken und das Bild in seinem Kopf einzuordnen. Die beiden Studentinnen in seiner Vorlesung kamen weiblich gekleidet in die Uni und sprachen beide mit einer dunkleren Stimme als es die anderen Frauen taten. Sie sahen herber aus und Klaus musste sich mit Beginn des neuen Semesters von diesen Äußerlichkeiten lösen. Sie waren Frauen, obwohl sie noch nicht operiert waren. Beide benutzten die Damentoilette und sie wurden mit Frau angesprochen. Charlene und Sandra, Obermöller schüttelte den Kopf. Mit kühlem Sachverstand hatte er die Situation analysiert. Das war kein Mädchen mehr vor ihm. Da saß ein männlicher Jugendlicher, ein Junge, zu dem der Name Tanja nicht passte. Als ihn die Erkenntnis traf, kullerten dem gestandenen Mann, den nichts so leicht erschüttern konnte, Tränen über die Wangen.

Toni sah seinen Vater noch nie weinen. Doch, er erinnerte sich. Einmal, als Opa Georg starb, da weinte Papa auf dem Friedhof. Aber das war schon so lange her. Er schlang erschrocken die Arme um seinen Vater. Toni fühlte sich schuldig. Oh je, was hatte er nur angerichtet? Es war Mitternacht vorbei und seine ganze Familie saß im Wohnzimmer und heulte. „Es ist gut, mein Junge“, sagte Klaus und schob die Arme seines Sohnes zur Seite. Mit einer Tochter schmuste der Vater, mit dem Sohn nicht. So einfach war das. Annelieses Augen vergrößerten sich stetig, während sie die Reaktion ihres Mannes betrachtete. Langsam wurde auch ihr die Tragweite des Augenblicks bewusst. Ihre kleine Tanja war soeben hier im Wohnzimmer auf der Couch vor ihren Augen gestorben. So schien es ihr. Ihr Mädchen lebte nicht mehr. Dort saß ein Junge. Ein fremder Junge, von dem sie bisher noch nie etwas gehört hatte. Wer war er? Wie hieß er? Aber er war wohl trotzdem ihr Kind? Sie hatte ihn vor sechzehn Jahren geboren. Sechzehn Jahre, die auf einmal alle verschwunden sind. Ihre Tanja lebte nur noch in der Erinnerung. Und sie konnte sich noch nicht einmal von ihr verabschieden! Anneliese wimmerte fassungslos.

Toni nahm nun seine Mutter in die Arme, küsste sie. „Es ist gut, Mama, ich bin bei dir, nichts kann uns mehr trennen. Du bist in Sicherheit!“ Er erschrak. Was hatte er gesagt? Natürlich war seine Mutter in Sicherheit, dafür sorgte schon der Vater. Er drehte sich zu Klaus. Die beiden sahen einander in die Augen. Etwas vollkommen Neues war im Begriff zu entstehen. Ich bin doch sein Mädchen, warum sieht er mich so komisch an? , dachte Toni. Mädchen? „Papa?“ „Da kommt einiges auf uns zu, Anneliese. Und auch für dich wird sich eine Menge ändern, mein Sohn. Wir müssen uns komplett neu orientieren. Du bekommst einen anderen Namen und ein neues Leben!“ Toni blickte von einem Elternteil zum anderen. Er hatte sich Toni genannt, weil das an Tanja erinnerte, zumindest blieben seine Initialen erhalten. Toni hatte ihn all die Jahre über treu begleitet. Der Name war so etwas wie ein Freund für ihn geworden, aber er hatte ihn nur mit Ole geteilt. Und in der Gruppe, mit Peter und den anderen. Das hier aber war anders. Hier saßen seine Eltern, die nun statt einer Tochter einen Sohn bekamen. Das muss entsetzlich für sie sein, schoss es Toni durch den Kopf. Und wie heiße ich denn nun wirklich? Darf ich mich Toni nennen, will ich mich so nennen? Es ist nichts Heimliches mehr. Der neue Name wird in der Geburtsurkunde stehen und ich werde als Junge leben. In Tonis Kopf ratterten die Gedanken.

Klaus genehmigte sich noch einen Schnaps und sah belustigt zu seinem künftigen Sohn. Anneliese wehrte ab, bevor er sie fragen konnte. Ein Glas von dem schrecklichen Zeug reichte ihr. „Das Leben verlangt einer Frau etwas anderes ab, als einem Mann. Daran ändert sich auch bei Transsexuellen nichts. So, wie ich die beiden Frauen in meiner Vorlesung als Frauen behandle, behandle ich die jungen Männer entsprechend anders. Wir werden das Schmusen einstellen. Dafür hast du jetzt deine Mutter. Die Nacht wird wohl heute etwas länger. Wann wirst du Siebzehn? In zwei Monaten? Wir werden uns an ein neues Wir-Gefühl gewöhnen müssen. Ein Vater schmust mit seinem Sohn nur, solange der ein Kleinkind ist. Später spielen sie Fußball oder Eishockey zusammen und es kommt der Tag, an dem der Vater mit seinem Sohn das erste Bier trinkt.“ Klaus wollte aufstehen und besann sich. „Geh mal in die Küche und hole zwei Flaschen Pils. Gläser sind im Schrank. Du hast jüngere Beine!“ Toni tat völlig verstört, was der Vater wollte. Ihm dämmerte es. Ob sich Ole eigentlich bewusst war, was sie als Männer erwartete? Als die Flaschen auf dem Tisch standen, öffnete Klaus die seine und reichte den Öffner an Toni weiter, schenkte sich ein und sagte: „Prost, mein Sohn! Das wird natürlich nicht jeden Tag passieren, du wirst offiziell weiter Cola trinken, zumindest bist du Achtzehn bist. Danach kann ich dir nichts mehr vorschreiben. Aber heute zur Feier der Nacht, werden wir unsere Beziehung neu definieren. Hast du dir einen passenden Vornamen ausgesucht oder haben deine alten Eltern ein Mitspracherecht?“ Toni hatte gottlob schon heimlich Bier getrunken. Es schmeckte ihm und wenn sie es zum Dom geschafft hätten, wäre dort mit Ole eines fällig gewesen.

Er erwiderte, noch etwas unsicher in seiner neuen Rolle: „Prost, Papa. Es ist nicht das erste Bier für mich, aber das erste mit dir. Und ich muss mich in der Tat daran gewöhnen, nicht mehr deine Tochter zu sein. Es ist ein Unterschied von etwas zu träumen und in Gedanken durchzuspielen, als es in der Realität zu erleben. Ich hatte mir den Namen Toni gegeben, weil die Initialen blieben. Ich habe mich inzwischen daran gewöhnt und Ole, sowie die Gruppe sprechen mich so an. Aber wenn es euch nicht gefällt, können wir darüber reden.“ Anneliese setzte sich auf. „Papa heißt auch Toni. Klaus, Georg, Alois, Toni Obermöller. Ich weiß das noch ganz genau, weil der Pfarrer alle Vornamen bei unserer Trauung in der Kirche vorlas. Also, ich finde Toni nett. Georg hieß dein Opa und Florian heißt dein anderer Opa. Toni, Georg, Florian Obermöller, das klingt gut. Dann haben wir jetzt auch einen Stammhalter. Allerdings, wie ist das überhaupt? Wenn du operiert bist, kannst du doch nicht richtig Vater werden? Aber man kann heute Eizellen einfrieren. Darüber müssen wir später mit dem Arzt sprechen. Ich möchte ein Enkelkind von dir haben! Ob du Vater oder Mutter bist, ist mir egal. Hauptsache gesund! Klaus, ich nehme doch noch einen Schnaps, aber nicht so viel, wie beim letzten Mal, bitte!“ Ihr Mann ergriff die Flasche. „Toni gefällt mir. Wir dürfen auch vier Vornamen wählen. Wenn du von Anfang an ein Junge gewesen wärst, hätte ich dich Martin genannt.“ „Schön, Toni, Georg, Florian, Klaus-Martin Obermöller. Das passt zur Familie. Da hab ich doch glatt heute Nacht ein Kind geboren, allerdings ohne Geburtsschmerz. Das war lange nicht so anstrengend, wie beim ersten Mal. Prost, meine Herren!“, lachte Anneliese, die den Schnaps inzwischen spüren konnte.

Ihr frischgebackener Sohn wurde müde. Das ungewohnte Bier zeigte auch bei ihm Wirkung. Er gähnte. Klaus goss seiner Frau ein weiteres Betthupferl ein, genehmigte sich selbst sogar einen doppelten Obstler und meinte lakonisch: „Es ist spät geworden. Morgen ist Samstag. Mama hat frei, ich habe frei und das Wochenende ist zum Pläne schmieden lang genug. Ab ins Bett, Familie Obermöller! Lass alles stehen Anneliese und komm. Aufräumen können wir morgen.“ Toni stand auf, drückte seinen Vater und gab der Mutter einen Kuss auf die Wange. „Gute Nacht, ich hab euch beide ganz doll lieb. Danke für alles.“ Um halb zwei Uhr lag er im Bett und war wenig später tief und fest eingeschlafen.

Am anderen Morgen genoss die Familie das Wochenende, indem alle länger als sonst im Bett blieben. Toni schlug um halb acht Uhr die Augen auf und dachte an den vergangenen Abend. Freude und ein leichtes Unbehagen vermischten sich. Freude darüber, dass es die Eltern so gut aufgenommen hatten und auch Ole nun zu ihm gehörte. Unbehagen, weil ihm die vielen Informationen einfielen, die er in der Selbsthilfegruppe erfahren konnte. Toni war bisher selten krank gewesen. Und wenn, dann nur erkältet oder er musste sich von kleinen Verletzungen, die er sich beim Eislauf zugezogen hatte, kurieren. Der Hausarzt und ein Orthopäde waren die einzigen Ärzte, die er bislang kennen lernen durfte. Psychotherapie? Er schüttelte sich. Was macht so jemand? Ich bin ein Junge, dachte er. Ich lasse mich nicht umpolen. Eine diffuse Angst hatte sich eingeschlichen. Gutachter und das Amtsgericht hörte sich auch nicht spaßig an. Er stand auf, ging ins Bad um sich zu duschen. Danach zog er sich an und trug bereits seine Trainingskleidung, als er auf einem Bein abwechselnd die Treppe hinunter hüpfte. Seine Mutter deckte den Frühstückstisch. „Papa ist zum Bäcker unterwegs. Gleich gibt es frische Brötchen, meine Süße.“ Toni küsste seine Mutter. Die besann sich.

„Oh, ich muss wohl mein Süßer sagen. Ach, Tanja, Toni, ich werde sicher eine Zeitlang brauchen, um mich umzustellen. Bitte hab etwas Geduld mit deiner alten Mutter. Der Umzug und die neue Arbeitsstelle, die fremden Menschen und nun deine Sache! Dass muss ich erst einmal verkraften. Ich bin gespannt, was dein Onkel Bernd von sich gibt. Aber vielleicht erzählen wir es ihm noch gar nicht. Ich würde gerne mit dem Sozialarbeiter sprechen.“ Anneliese hatte sich inzwischen hingesetzt. Toni öffnete den Kühlschrank, stellte Aufschnitt und Käse auf den Tisch. Er sah auf die Uhr. Die Eier kochten bereits. „Nimm sie ruhig raus, Papa mag sie weich“, ließ sich die Mutter vernehmen. „Mir geht auch viel im Kopf herum, Mum, mache dir keine Sorgen. Wir schaffen das!“ Anneliese dachte bei diesem Satz an die berühmten Worte der Kanzlerin und begann zu lachen. Die Tür wurde aufgestoßen und Klaus kam prustend herein. „Ich muss dringend wieder Sport treiben“, ächzte er. „So weit ist es gar nicht zum Bäcker. Aber ich bin einfach zu faul geworden. Guten Morgen, Mäuschen.“ Klaus wollte Toni einen Kuss auf die Wange geben, wie üblich. Er hielt inne. „Ne, da sitzt, wenn ich das richtig betrachte, eher ein Mäuserich. Ich nehme den Kuss zurück. Hier sind die Brötchen. Wir können mal zusammen joggen. Also, guten Morgen, mein Sohn!“ Toni packte die Tüte aus und verteilte die Brötchen. „Alles, okay, Dad. Mach dir keinen Kopf. Es ist auch für mich ungewohnt. Ich treffe nachher Ole, bin gespannt, was sagt. Er muss es seinen Eltern ebenfalls beichten.“ „Was machen die?“, fragte Anneliese routinemäßig. Klaus schmierte sich Butter auf seine Körnerbrötchen und spitzte interessiert die Ohren.

„Sein Papa ist beim Bauamt und seine Mutter ist Tänzerin. Sie kommt aus Russland und trainiert die Kinder an der Hamburger Ballettschule“, erzählte Toni. „Mehr weiß ich auch nicht.“ Anneliese schenkte ihrem Mann Kaffee ein. „Vielleicht sind es nette Leute und wir lernen einander mal kennen. Die wird es sicher genauso überrumpeln wie uns. Geteiltes Leid ist halbes Leid, meint Oma immer.“ Toni nickte. Es war sein erstes Frühstück in der neuen Rolle als Junge, wurde ihm grad bewusst. Er war neugierig, wie es Ole anstellen wollte, die Eltern aufzuklären. „In Russland steht man Homosexualität nicht positiv gegenüber und ich weiß nicht, wie das bei Transsexualität ist. Hoffentlich können sie damit umgehen. Du darfst Ole gerne mit nach Hause bringen, Tan…Toni“, meinte der Vater und schlug genüsslich sein Ei auf. „Das tue ich gerne. Wir treffen uns um halb elf Uhr in der Eishalle.“

Die Gesprächsthemen wechselten. Die Familie hörte Nachrichten im Radio, während die Zeit verging. Um halb zehn Uhr war der Morgenkaffee bei Obermöllers beendet. Toni half seiner Mutter wie immer dabei, den Tisch abzuräumen. Danach ging er nach oben in sein Zimmer und legte sich einen Moment aufs Bett. Die Augen fielen ihm zu. Seine Mutter stand im Zimmer, als er erwachte. „Es ist gleich halb elf Uhr? Wann wolltest du auf dem Eis sein?“ „Oje, ich habe verpennt. Danke, Mum.“ Toni sprang auf und nahm seine Schlittschuhe. Er joggte die zehn Minuten Fußweg zur Eishalle und machte sich auf diese Weise schon mal warm. Gottseidank, Ole war noch nicht da und er somit auch nicht zu spät gekommen. Die kleinen Mädchen aus seiner Trainingsgruppe begrüßten ihn lachend. Toni dachte an nichts mehr. Kaum, dass er seine Schlittschuhe angezogen hatte, begann er sich mit langgestreckten Beinen zu dehnen, legte die Füße auf die hohe Bande und schob die Arme weit nach vorne. Er sprang danach aufs Eis, lief sich wie die anderen ein. Sie hatten Glück. So früh war die Eisbahn selbst am Samstag noch nicht voll besucht. Toni trieb die Kinder an, zeigte ihnen, wie sich einlaufen sollten.

Ihre Trainerin hieß Cornelia und arbeitete als Lehrerin am Gymnasium. Sie kam immer etwas später und überließ den Trainingsbeginn gerne Toni, auf den sie große Stücke hielt. Er besaß Disziplin und Ausdauer, Mut und Durchhaltevermögen. Alles Tugenden, die ein Eisläufer brauchte, um erfolgreich zu sein. Und ihre drei Mädchen waren noch jung und sollten sich auf die Wettbewerbe gut vorbereiten. Toni vertiefte sich in seine Arbeit. Die Zeit verging. Dass sein Freund Ole noch nicht eingetroffen war, bemerkte er in der folgenden Stunde nicht. Cornelia stand in der Zwischenzeit ebenfalls auf dem Eis und lenkte das Training. Auch Toni gehörte nun zu ihrer Gruppe hinzu und sie ließ ihn immer wieder den Rittberger und den Salchow springen. Korrigierte und regelte ihre Kids mit eiserner Hand. Toni fühlte sich in seine Kinderzeit zurückversetzt. Er kannte nichts anderes, als dem Trainer zu gehorchen und seine Übungen ständig zu wiederholen, bis jede einzelne Bewegung wie im Schlaf ablief. Den doppelten Axel sprang er sicher und Cornelia hatte ihn bereits mit dem Handy aufgenommen um den Kindern die wichtigsten Grundlagen dazu zu zeigen. Sie sah Tonis großes Talent. Er war fast zu alt für den Wettkampf geworden und als Einzelläufer wird es nicht mehr klappen. Und doch sollte er den Rittberger und den Salchow noch dreifach üben. Als Übungspartner für die kleinen Mädchen war er für den Paarlauf ohnehin ideal. Sie wollte ihren Schützlingen einige wichtige Paarlauf Figuren beibringen und eines ihrer älteren Mädchen aus Hamburg dazu holen. Julia schien mit ihren dreizehn Jahren eine hervorragende Partnerin für ihn zu sein. Sie nahm Toni zur Seite und erzählte ihm, was sie vor hatte.

„Das ist eine große Chance für dich, Toni. Im Paarlauf musst du nur ein-oder zweimal dreifach springen. Die Wurfsprünge und Hebungen lernst du mit Julia. Sie ist genauso fleißig und eifrig wie du. Ihr werdet euch gut ergänzen. Ich möchte, dass du in den Hamburger Verein eintrittst, damit ich euch zu den Jugendwettbewerben anmelden kann. Wir fangen klein auf unterer Ebene mit einfachen Hauswettbewerben an. Wenn ihr die erforderlichen Sicherheiten und Qualifikationen habt, geht es National weiter. Was sagst du?“ Uff. Toni kämpfte bereits mit seiner Kondition. Joggen, wie der Vater anbot, war genau das Richtige um wieder fitter zu werden. Die kleinen Mädchen waren leicht und er konnte sie problemlos heben. Julia war dreizehn und er kannte sie nicht. „Wie schwer ist sie? Keine Gummibärchen, keine Schokolade, die krieg ich. Ich brauche mehr Kraft und Kondition!“, lachte er. Cornelia atmete zufrieden aus. „Laufen, Leichtathletik und Muckibude, weder Schoko noch sonst welche Naschis und Julias Gewicht überwache ich“, meinte die achtundvierzigjährige ehemalige Eisläuferin. Toni war nicht abgeneigt. Er liebte das Eis und die Vorstellung wieder Wettbewerbe bestreiten zu können, erfreute ihn. Aber es gab ein Problem.

„Conni, ich ziehe mich um und dann gehen wir rüber ins Eiscafé. Ich muss etwas sehr wichtiges mit dir besprechen.“ Ole war noch immer nicht da. Inzwischen hatte Toni das Fehlen des Freundes bemerkt. Er beruhigte sich. Vielleicht hatte Ole gerade ein Gespräch mit seinen Eltern, dachte er. Er wird mich anrufen. Conni ist jetzt wichtiger. Ich muss mich outen. Kann ich eigentlich ohne OP als Mann laufen? Er war neugierig, wie seine Trainerin die transsexuelle Problematik aufnahm. Als sie die Eishalle verließen, kam Ole angerannt. Die beiden Jungen lagen sich kurz in den Armen. „Sorry, aber ich hatte ein ziemlich heftiges Meeting mit meinen Eltern!“ Toni strich daraufhin dem Freund erleichtert über den Kopf. „Das hatte ich bereits gestern Nacht und das erste Bier mit meinem Dad getrunken. Ich muss mit Cornelia reden. Kommst du ohne mich klar?“ Ole grinste. „Werd mir nicht untreu!“

 
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