Eiszapfenfahrrad

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ENachtigall

Mitglied
Eiszapfenfahrrad
(Geschichte einer verlorenen Identität)


Ich kam mit dem Fahrrad heil (ohne Sieg) durch den Krieg. Licht und Klingel funktionierten. Die Reifen hatten genügend Luft. Mir war nach Fahren, Fahren, Fahren. So sehr ich aber trampelte, von der Stelle kam ich nicht.

Im kleinen Rückspiegel sah ich mich. Einbetoniert. Im Westen: Vorderrad, Lenkstange, noch von den Händen gehalten. Im Osten: befußt, eine Pedale, Hinterrad, Gepäckträger, Siebensachen.

Wieder war die Rede von Krieg; einem, der kalt war. Seine Schlagader sei die Mauer. Sie führte kein Blut. Es floss in ihrem Schatten. Mir wuchsen Eiszapfen aus Händen und Fuß.

Eine, die Wärme brachte, hieß Perestroika. Mit hitzigem Mut folgten ihr die Montagsmenschen hinaus auf Straßen und Plätze. Mehr von Mal zu Mal. Im Strudel der verlorenen Geduld kamen sie zusammen. Ost und West.

Sie weckten mich mit Küssen und Blumen.
 

ENachtigall

Mitglied
Eiszapfenfahrrad
(Geschichte einer verlorenen Identität)


Ich träumte, ich sei mit dem Fahrrad heil (ohne Sieg) durch den Krieg gekommen. Licht und Klingel funktionierten. Die Reifen hatten genügend Luft. Mir war nach Fahren, Fahren, Fahren. So sehr ich aber trampelte, von der Stelle kam ich nicht.

Im kleinen Rückspiegel sah ich mich. Einbetoniert. Im Westen: Vorderrad, Lenkstange, noch von den Händen gehalten. Im Osten: befußt, eine Pedale, Hinterrad, Gepäckträger, Siebensachen.

Wieder war die Rede von Krieg; einem, der kalt war. Seine Schlagader sei die Mauer. Sie führte kein Blut. Es floss in ihrem Schatten. Mir wuchsen Eiszapfen aus Händen und Fuß.

Eine, die Wärme brachte, hieß Perestroika. Mit hitzigem Mut folgten ihr die Montagsmenschen hinaus auf Straßen und Plätze. Mehr von Mal zu Mal. Im Strudel der verlorenen Geduld kamen sie zusammen. Ost und West.

Sie weckten mich mit Küssen und Blumen.
 

ENachtigall

Mitglied
Eiszapfenfahrrad
(Geschichte einer verlorenen Identität)


Ich träumte, ich kam aus dem Krieg. Mit dem Fahrrad. Unversehrt. Licht und Klingel funktionierten. Die Reifen hatten tüchtig Luft. Mir war nach Fahren, Fahren, Fahren. Doch so sehr ich auch trampelte, von der Stelle kam ich nicht.

Am Lenker befand sich ein kleiner Rückspiegel. Ich sah hinein und mich - einbetoniert. Vorderrad, Lenkstange, die Griffe, fest umfasst von den Händen, wiesen weiter Richtung Sonnenuntergang. Das Hinterrad, eine einzelne befußte Pedale, der Gepäckträger, mit Siebensachen beladen, verblieben im Gesternland.

Wieder war die Rede von Krieg. Diesmal von einem, der kalt war. Seine Schlagader sei die Mauer. Mein Gefängnis. Sie führte kein Blut. Es floss in ihrem Schatten. Mir wuchsen Eiszapfen aus Händen und Fuß.

Eine, die Perestroika hieß, kam und brachte Wärme. Mit hitzigem Mut folgten ihr bald Montagsmenschen hinaus auf Straßen und Plätze. Mehr und mehr wurden es von Mal zu Mal. Im Strudel der verlorenen Geduld kamen sie zusammen. Ost und West.

Sie weckten mich mit Küssen und Blumen.
 

Vera-Lena

Mitglied
Da gibt es aber auch noch den hitzigen Mut und die verlorene Geduld. Die "verlorene Geduld" kennt man sonst eher als Verb: Die Geduld verloren. Dir selbst fällt das gar nicht auf, wie geschickt Du Eigenschftswörter handhaben kannst, so ist das nämlich, liebe Elke. ;)

Ich bin von diesem kleinen Text aber sowieso komplett begeistert. Hier wird für mich deutlich, was Poesie vermag.Da wird ein Traum "erfunden", der in wenigen sehr präzise aufgelisteten Bildern etwas erzählt, was die Bindlickeit von Millionen Menschen über 30 Jahre hindurch widerspiegelt: Das Eingeschlossensein, das Nichtstunkönnen, und dass schließlich gegen Ende alles zum Erliegen kam, also eingefroren wurde.

Liebe Grüße
Vera-Lena
 

lapismont

Foren-Redakteur
Teammitglied
sparsam, aber punktgenau. Und da ist sogar noch ein köstliches Adverb zu entdecken.

schmatzend,
lap
 

ENachtigall

Mitglied
Herzlichen Dank, liebe Vera-Lena,

ja, es ist ein erfundener Traum. Meine eigene kleine Schreibaufgabe innerhalb der größeren: eine Geschichte um das englische Reimpaar icycle-bicycle. Es gab bis zu dieser engültigen Version unzählige Entwürfe. Und dann hatte ich mich noch bei der vorgegebenen Wortmenge vertan. So ist es noch karger geworden. Aber es ist gut so.

Auch bei er verlorenen Geduld hast Du natürlich Recht; zum Bild gehört unbedingt auch der Strudel (und seine Sogwirkung). Schön, dass Du Dich dazu geäußert hast.

Grüße von Elke
 

Herbstblatt

Mitglied
Liebe Elke,

ich bin beeindruckt und irgendwie erschüttert. Und mir fehlen die Worte. Für mich ein Glanzstück...

Liebe Grüße
Herbstblatt
 

ENachtigall

Mitglied
Herzlichen Dank, liebes Herbstblatt. Dein Kommentar freut mich sehr. Ihm ist eine große Spontaneität anzumerken!

Lieben Gruß,

Elke
 



 
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