Elf Schritte

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Mimi

Mitglied
Der Schlüssel dreht sich im Schloss.
Mit einem kurzen Klicken öffnet sich die Tür.
Im dämmrigen Flur ist die Stille, die mich sofort umgibt, eine bleierne Schwere, die von den Wänden abprallt.
Das Licht in der Küche ist eingeschaltet, die Küchentür einen Spaltbreit geöffnet.
Eins. Zwei.
Das Klackern des Schlüsselbundes, als er auf das Holz der Kommode trifft, zerreißt für einen Moment die Stille.
Drei. Vier. Fünf. Sechs.
Die Reflexion einer müden Gestalt blickt mir vom Wandspiegel entgegen. Die Augen sind gerötet, die Haut wirkt blass und fahl.
Nein. Das bin nicht wirklich ich.
Ich höre das Rauschen meines Blutes.
Dazwischen Fetzen aus Wortfragmenten.
Dann der unaufhörliche Piepton.
Mir wird schwindlig, stütze mich mit zitternden Händen an der Wand ab. Atme tief durch. Sauge die Luft in großen Zügen in meine Lunge, bis das Gefühl nachlässt. Ich setze vorsichtig einen Schritt nach dem anderen.
Sieben. Acht. Neun. Zehn.
Durch den Türspalt ist die Küchenzeile, die vom Licht erhellt wird, zu erkennen. Auf dem Herd steht eine gusseiserne Pfanne.
Meine Hände gehorchen mir nicht mehr. Sie sind die Hände einer Fremden.
Nein. Das bin nicht wirklich ...
Ich muss mich konzentrieren, alle Kraft zusammenbringen, um die Kontrolle über sie wiederzuerlangen.
Endlich bewegen sie sich, berühren die Tür. Zaghaft und behutsam, als würde sie unter der Berührung zu Staub zerfallen.
Elf.
Das Licht im Raum ist grausam.
Auf dem Küchentisch steht ein Gedeck für zwei. Im Weinkübel schwimmt eine Flasche Chardonnay.
Das Essen auf den Tellern ist kalt.
 
G

Gelöschtes Mitglied 21884

Gast
Nein, die stille Hoffnung, es säße doch jemand in der Küche, erfüllt sich nicht ... konnte sich nicht erfüllen, der Heldin war's ja längst klar. Aber die tiefe Enttäuschung lässt dann doch immer einen Rest Hoffnung übrig.

Streckenweise erinnert der Stil an Wolgang Borchert, der in seinen Kurzgeschichten noch konsequenter die Kürze und Einfachheit der Sätze bevorzugte, wie den gelungenen Schlusssatz hier, der in seiner Schlichtheit vollkommen überzeugt: Das Essen auf den Tellern ist kalt. In solcher Aussagereduktion hätte ich mir die gesamte Geschichte gewünscht! Vielleicht wäre das zögerliche Gehen zur leeren Küche noch besser zur Geltung gekommen.

Gleichwohl - alles, was Du, Mimi, zum Ausdruck bringen wolltest, ist Dir gelungen. Das hat Priorität!

Béla
 

Mimi

Mitglied
In der Tat, die stille Hoffnung erfüllt sich leider nicht.
Schön, wenn es mir gelungen ist, dem Leser meine prosaische Intention zu vermitteln.
Ja, Wolfgang Borchert ist da sicherlich konsequenter, bezüglich der Kürze und Dichte seiner Texte... das ist das Schöne und ausgesprochen Interessante an der Kurzprosa, sie kommt sehr nah an die Lyrik... und diese ist ja eigentlich eher mein Metier... eigentlich.
Dankeschön, Béla, für deinen Kommentar und die Bewertung meines Textes.

Grüße
Mimi
 

Ji Rina

Mitglied
Hallo Mimi,
Diesmal war ich ein wenig verloren...
Hätte ich nicht Bélas Kommentar gelesen, wäre ich auch nicht auf den grünen Zweig gekommen.
(Ist aber mein Problem)
Jedenfalls lieb ich diesen schlichten Schreibstil.
Saludos desde el frío,
Ji
 

Mimi

Mitglied
Hallo Ji,
Dankeschön für Deinen Kommentar!
Freut mich, dass es Dir gefällt.

Ich sende Dir sonnige Grüße und halte durch... nicht mehr lange und der Frühling kommt ;)

Mimi
 



 
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