Elise (Reinkarnation)

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Elise

(Geschichte einer karmischen Bagatelle)

© Rolf-Peter Wille



Was wird eigentlich aus unseren Wunderkindern? Plötzlich und über Nacht sprießen sie wie die Bambusschösslinge frisch und lecker aus dem Erdboden. Kurze Zeit später aber schmecken sie nicht mehr. Sie wachsen steil in die Höhe, werden holzig, und dann kann man sie nur noch beim Häuserbau oder in der Möbelindustrie verwerten. Dennoch – man hätte hoffen dürfen, dass ein musikalisches Genie wie Elise, welches die Boulevardpresse in den achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts fast wie eine Weltsensation feierte, heute als gestandene Pianistin das kulturelle Ansehen unserer Nation veredeln würde. Was nur ist aus ihr geworden? Wo ist sie geblieben?

Doch bevor ich das seltsame und eigentlich ganz unbekannte Schicksal Elisens enthüllen darf – an Ihrer Neugier zweifele ich nicht – ist es leider notwendig, Ihnen von einem Manne zu berichten, den das Schicksal mit einem sehr lächerlichen Tod beschenkte. Der alte Chang, so hieß er vor seinem Unfall, knallte gegen den Abfallwagen. Absichtsvoll war er nicht gerast und angeheitert, eigentlich, nur ein klein wenig. Dennoch wollte der grausige Koch unserer Gerüchteküche nicht zögern, Changs unsterbliches Vermächtnis in seine klebrige Sudelsuppe zu werfen. Ich jedoch werde mich kategorisch weigern, ihn einen “Müll-Kamikaze” zu nennen.

In seiner Jugend und bevor er dem Suff verfiel, war er eigentlich kein unsensibler Kerl gewesen. Mit dem Schifferklavier konnte er sich in die Herzen seiner Kameraden klimpern und er besaß auch eine angenehm einschmeichelnde Singstimme, die man allerdings nur in sehr zwielichtigen Karaoke-Bars zu hören bekam. Die längste Zeit seines Lebens war Chang ein Zoowärter gewesen, bis er der Trunksucht erlag. Man feuerte ihn. Wir mögen diesem Mann aber trotzdem zuerkennen, dass er später den Alkoholismus durch strenge Meditationsübungen bekämpft, fast in den Griff bekommen und deswegen das Schicksal eines “Müll-Kamikazes” keineswegs verdient hatte.

Im Übrigen berührte ihn das nicht, sein stinkendes Schicksal; Geister, nebenbei bemerkt, sind geruchlos. Verzückt umschwebte Changs Astralleib das Müllauto, und er lauschte dem Müll-Liede. Wer von uns freut sich nicht, wenn er das endlose “Für Elise” hört, das aus den krächzenden Lautsprechern der hiesigen Müllwagen erschrillt? Gern springen wir dann mit unserm gesammelten Abfall auf die stinkende Straße und, dass wir dies zum Klange Beethovenscher Bagatellen tun dürfen, haben wir dem kultivierenden Einfluss unseres erleuchteten Müllministeriums zu verdanken. Wir müssen fragen, warum Chang die unüberhörbare “Elise” nicht vor seinem fatalen Unfall hörte, und die Antwort ist, dass er sie hörte und dass er sie nicht hörte, während er gedankenlos auf einem angefaulten Zahnstocher kaute. Oder kann es sein, dass ihn das ewige “mi-re, mi-re” einschläferte? “Mi-re, mi-re, mi-re, mi-re, mi-re, mi-re mi si re do...” – genau auf dem “do”, und ohne ein abschliessendes, ein linderndes “la”, kollidierte der hypnotisierte Motorradfahrer frontal mit dem Müll. Von oben, aus der Luft, beobachtete des alten Changs Geist, wie die galanten Müllbeamten seine Leiche in den Wagen auf das Vergammelte warfen. Es berührte ihn gar nicht. Er empfand eine pikante Teilnahmslosigkeit, gerade so, als wäre es eine tote Ratte gewesen. Nach einiger Zeit jedoch verdarb ihn die Vertrautheit mit seinem neuartigen Zustand, das exquisite Hochgefühl verflachte, und es verflüchtigte sich sein Geist. Wie eine Fledermaus auf der Mottenjagd flatterte er mal hier-, mal dorthin, niemand lud ihn zum Trinken oder zum Mahjong Spiel ein, ein faul riechender Wind verwehte ihn über die Dörfer in den nahegelegenen Zoo und nach drei Tagen, als die Zeit der Wiedergeburt gekommen war, fühlte er sich fahrig verhuscht und verpflanzte seine müde Seele achtlos in den Körper eines neugeborenen Schimpansenbabys.

Wissenschaftler haben bestätigt, dass man in der simianischen Geschichte bis heute keine sensiblere Schimpansin als dieses Baby nachweisen kann. Sogar der neue Zoowärter, ein roher Kerl, musste zugeben, dass sich das Tier seltsam gesittet verhielt. Weder Äpfel stahl es noch Bananen sondern saß versunken in der Lotus-Position und einer Käfigecke und eine Aura der Erleuchtung umstrahlte die Scheitelchakra. Erregt zeigte sich die Äffin nur, wenn sie klassischer Musik lauschte, und einmal - ein Wunder! - als sie die Müllabfuhr aus der Ferne hörte, benetzten kleine Silbertränen ihre Wangen. Dr. Therese Wu, unsere Zoopräsidentin, zeigte besondere Anteilnahme an dem Schimpansengenie. Spontan adoptierte die kinderlose Dame das Mädchen, um ihm auf diese Weise eine dem geistigen Wachstum förderliche Umgebung zu schenken. Es durfte sich in Madame Wus eleganter japanischer Villa frei bewegen, und für gewöhnlich schlief es im Tatami-Zimmer.

Anfänglich zeigte sich kein nennenswerter Erfolg in der rhetorischen Geschicklichkeit. Dr. Wus eloquentes Englisch schien das Tier wohl zu verstehen, aber die Antworten beschränkten sich zunächst auf unterartikulierte Grunzlaute und auf die Körpersprache. Doch wenn die Müllabfuhr vorbei-elisierte, summte das begabte Mädchen die Melodie mit und sang die vollständige Bagatelle bald mit reiner Stimme und durchaus leidenschaftlich im Vortrag. Die verblüffte Zoologin ließ ihr Adoptivkind auf den Namen “Elise” taufen und kaufte sofort einen gebrauchten Yamaha Flügel, der zunächst auf den Dachboden gestellt wurde. Hier nun, vor diesem verstimmten Instrumente sollte Elise sich manche Stunde, ihrer selbst uneingedenk, in die Mysterien der Musik versenken, bis ihre Finger das Beethovensche Werk wiedergeben konnten. Stumme Verehrer stahlen sich auf den Dachboden und in ihre Gegenwart, um an dem Wunder teilzuhaben; doch verführen konnte der Dämon der Eitelkeit ihre Tugend nicht. Ein ausländischer Klavierprofessor wurde gar importiert; der aber musste nur zu bald seine Niederlage eingestehen: Elisens unheimliche Fingergeschmeidigkeit überflügelte seine eigenen Fertigkeiten. Doch auch die lyrischen Tiefen der Nocturnes erweckten ihr musikalisches Interesse, so dass man sie, wie de Pachmann, als distinguierten Schopängsen bezeichnen musste.

Sehr bald bereits wurde ein Soloabend in der National Concert Hall angesetzt. Mitglieder des Planungskomitees hatten zwar der Presse gegenüber skeptische Bedenken geäussert, trotz dieser jedoch wurde Elisens Gala Debüt mit großem Pompe propagiert, und bereits vor seinem Auftritt feierte die Zeitung das Wunderkind als Weltsensation. Der Abend wurde ein gewaltiger Erfolg, und die junge Debütantin gewann die verblüfften Herzen der Zuschauer mit einer akrobatischen Interpretation von “La Campanella”, arrangiert für alle vier Hände von Simianowsky.

Es herrschte eine magische Stille als sich Elise anschickte, ihre zehnte Zugabe zu spielen. In euphorische Stimmung versetzt fühlte sie sich im Traume, und wie von selbst begannen die Finger, ihr Lieblingsstück zu intonieren: Beethovens Bagatelle in A Moll.

Noch heute dreht sich mir die Leber im Grabe herum, wenn ich mich an die Katastrophe erinnere. Ich saß in der 59. Reihe des Hochparketts. Genau vor der Reprise des Anfangsthemas, auf einem “do”, riss der Film in Elisens Gedächtnis. Die Pianistin erlitt einen geistigen Kurzschluss und hockte, eine Versteinerung, bewegungslos vor dem Flügel in der eisigen Stille des Saales.

Minuten später erst wurde sie von einem sympathetischen Bühnenhelfer hinausgetragen.

Nach diesem traumatischen Ereignis hat Elise das Klavierspiel aufgegeben. Sie entwickelte sich zu einem verschlossenen Schimpansenweibchen, einem ziemlich mürrischen Individuum, und - es tut mir leid, Ihnen das tragische Ende mitteilen zu müssen – man transferierte sie in den Kaohsiung Zoo auf den Monkey Mountain.
 
Die Überarbeitung macht den Text nun meines Erachtens klarer. Als einzige Änderung würde ich versuchen den Absatz
---snip---
(Meinen Lesern in Übersee muss ich erklären, dass aus den krächzenden Lautsprechern des hiesigen Müllwagens ein endloses “Für Elise” erschrillt.)
---snap---
eleganter einzubauen. Irgendwo habe ich das Zitat eines berühmten Autors gelesen, der in Klammern gesetzte Sätze als Zeichen fehlender Eleganz bezeichnete. Dem Autor "fiel nichts besseres ein, wie er diese Erklärung reinbringen soll", so die Meinung dieses Schriftstellers (und ich muss dem ein bisserl zustimmen).

Da Du diesen Text (sofern er nicht ein übersetzter chinesischer Text ist) vermutlich ohnehin nur für "Leser aus Übersee" ist, würde ich ihn besser einbauen und diese Eigenheiten der örtlichen Kultur eleganter zu erklären versuchen.
Ein gutes Beispiel ist übrigens "Germinal" von Emile Zola, wo er auf den ersten dutzend Seiten die Funktionsweise einer Kohlemine und aller dazu notwendigen Dampfmaschinen, Förderbänder so gut erklärt, dass man heute noch aus diesem Text das rekonstruieren kann, aber trotzdem das so spannend in die Erzählung einbaut, dass Du gar nicht merkst, dass Du hier richtiggehend über technisches Zeugs lernst.

Ansonsten würde ich sagen: lass den Text nun abliegen, und veröffentliche Deine nächsten hier bei uns. Bin schon gespannt...

Marius
 
Danke, Marius, fuer's nochmalige Anhoeren der "unsterblichen" Elise. Ich werde meinen Muellwagen entklammern, hoffe aber doch, bescheiden wie ich bin, dass es mir schlechter gelingt als Zola denn , dass dieses Fahrzeug in der Zukunft rekonstruiert wird, darf man sich wohl nicht wuenschen...

Gruesse,
RP
 
...vor allem, wenn dauernd "Für Elise" rauströtet. Das muss ja richtig nerven. Die Müllwagenfahrer sind vermutlich am Ende alle mental zerfressen ;-)

Marius
 



 
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