Elyars große Reise

VeraL

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Mit einem Zischen sauste der Teppichklopfer durch die Luft und traf Elyar hart. Er keuchte. Wenn Mrs Blair Dienst hatte, litt er fürchterlich. Sie hatte jeglichem Staub den Kampf angesagt und klopfte den fliegenden Teppich im „Wonders of the World“-Freizeitpark penibel aus. Danach griff sie zu einem groben Kamm und zog ihn energisch durch Elyars Fransen. Er zuckte zusammen und versuchte, sich in seine Traumwelt zu retten.

Mr Mayer, der Gründer und Boss des Vergnügungsparks, hatte Elyar vor Jahren im Orient auf einem Basar gekauft, wo er ihm wegen seines filigranen, blau-weißen Musters gleich aufgefallen war. Das erzählte er den staunenden Besuchern, wenn sie ihm Geldscheine in die Hand drückten, um einen Rundflug auf Elyar zu erleben. Der Teppich erinnerte sich nicht an den Orient und an einen Basar schon gar nicht. Alles, was er kannte, war die Runde, die er unzählige Male am Tag mit den Gästen durch den Park drehte. Er startete hinter den Pyramiden, in denen Mumien die Besucher erschreckten, flog um den blinken Eiffelturm, an der Niagara-Falls Wasserrutsche vorbei, überquerte den kleinen Zoo und grüßte dabei die Affen, die versuchten ihn zu schnappen und als Highlight ging es mitten durch den Looping der chinesischen Drachenachterbahn. Abends, wenn seinen Fransen vor Erschöpfung schlapp herunter hingen, träumte er davon, um die Welt zu fliegen und all die Wunder selbst zu sehen, und nicht nur als kitschige Nachbauten, von denen die Farbe abblätterte.

Nach der ausgiebigen Behandlung von Mrs Blair wartete schon ein kleiner Junge auf den Teppich. Elyar stöhnte innerlich auf. Kinder ohne Eltern waren immer schwierig. Sie turnten herum und er musste aufpassen, dass sie nicht herunter fielen. Außerdem hoffte er, dass der Junge so früh am morgen keine Pommes und Süßigkeiten gegessen hatte, sonst müsste er womöglich noch einmal zu Mrs Blair, um sich gründlicher reinigen zu lassen. Der Junge sah Elyar mit einem ernsthaften Blick an und kletterte ohne ein Wort hoch. Behutsam stieg Elyar in die Luft. Der Junge saß still. Er schaute sich nicht die Attraktionen an, sondern achtete nur auf den Teppich unter ihm. Hatte er Angst? Nein, er wirkte vollkommen entspannt.
„Gefallen dir die Flüge mit den Leuten durch den Park?“
Hatte der Junge mit ihm geredet? Niemand redete mit ihm, er wurde sonst nur angeschrien, er solle höher fliegen, einen Salto machen oder schneller sein.
„Nein, ich hasse es.“ Elyar erschrak selbst über seine ehrliche Antwort. Sein Leben lang war im eingetrichtert worden, für die Kunden alles perfekt erscheinen zu lassen.
„Das kann ich mir vorstellen. Du würdest garantiert lieber um die Welt fliegen und dir echte Wunder ansehen.“
Elyar blieb mitten in der Luft über dem Eiffelturm hängen. Der Junge hatte ihn nicht nur verstanden, er hatte ihm aus der Seele gesprochen.
„Woher weißt du das?“, flüsterte er mit bebenden Fransen.
„Naja, immer hier im Park mit den Touristen, das muss doch total langweilig sein. Ich war mal mit meinen Eltern in Paris. Der echte Eiffelturm ist viel, viel größer und schöner.“
„Wirklich? Du warst in Europa? Wie ist es da? Hast du gesehen, wie ein Schiff durch die Tower Bridge in London fährt? Mr Mayer hat versucht, das nachzubauen, aber ein Boot ist gegen die Brücke gefahren und hat sie umgeworfen. Und warst du in ...?“
In dem Moment pikte ihn jemand mit einem langen Stab von unten. „Ey, du alter Teppich. Was ist da los? Warum fliegst du nicht weiter? Die nächsten Kunden warten schon.“
Elyar setzte sich wieder in Bewegung und löcherte den Jungen mit Fragen. Tim, so hieß er, gab bereitwillig Auskunft und beschrieb alles so detailreich er konnte.
Als sie durch den Looping der Drachenachterbahn flogen, fragte Elyar: „Wohin reist ihr denn als Nächstes?“
Tim lachte. „Ich glaube, ich überrede meine Eltern, mit mir den Orient zu bereisen. Dann schauen wir uns einen Basar an. Vielleicht lerne ich dort andere Teppiche kennen.“
„Oh ja, das wär’s. Wenn ich könnte, würde ich auch dorthin fliegen.“
Tim sah nachdenklich aus. Sie waren schon fast zurück bei den Pyramiden, als er sagte: „Warum machst du es nicht? Was hindert dich daran, einfach loszufliegen?“
Elyar hielt wieder an. Er wollte antworten, doch sofort grub sich von unten die Spitze der Stange in seine Fäden. Er wurde unsanft nach zu Boden gezogen und ein Mitarbeiter des Parks hob Tim von Elyar. Ein übergewichtiges Ehepaar stieg auf und der Mann gab Elyar ein Klaps und scheuchte ihn in die Luft. Der Teppich wackelte kurz, die dicke Frau schrie panisch auf und bis Elyar sich stabilisiert hatte und die Passagierin sich beruhigt hatte, war Tim in der Menschenmenge verschwunden.

In dieser Nacht konnte der fliegende Teppich nicht schlafen. Er grübelte. Könnte er einfach aus dem Park fliegen? Nein, das würde großen Ärger geben. Außerdem wusste er gar nicht, wo es zu den echten Pyramiden ging, oder wie man nach Paris kam. Und überhaupt. Wer würde sich da um ihn kümmern? Mrs Blair war zwar grob, aber wenigstens kämmte sie seine Fransen und hielt ihn sauber. Und was, wenn es ihm in China nicht gefiel? Mr Mayer wäre so wütend darüber, dass er ihn niemals zurücknehmen würde. Nein, er gehörte in diesen Park, damit musste er sich abfinden. Jemand wie er, der von der Welt keine Ahnung hatte, konnte von vielen Abenteuern träumen, aber musste mit seinem Leben zufrieden sein. Obwohl er selbst dachte, er hätte sich überzeugt, lag er lange wach und sah rauf zu den Sternen, die man durch die grellen Lichter des Freizeitparks kaum erkennen konnte.

So machte Elyar weiter. Tagsüber mühte er sich mit den Besuchern des Parks und den Mitarbeitern, die ihn triezten ab, abends träumte er sich durch die Welt. Doch es fiel ihm zunehmend schwerer, in seinen Tagträumen in fremde Länder zu reisen. Immer wieder sah er Tim vor sich, hörte seine Stimme, die sagte: „Warum machst du es nicht?“ Vor seinem Auge tauchten dann keine anderen Bilder auf, egal wie sehnlich er sie herbeiwünschte. Ohne seine Träume fiel es ihm schwerer, die tägliche Arbeit auszuhalten. Die Besucher schienen immer dicker und unfreundlicher zu werden, er war genervt, wenn er schneller fliegen sollte, um effizienter zu sein, und flog absichtlich langsam. Mrs Blair schimpfte und fluchte, weil Kinder auf ihm Churros verspeist hatten und er von Zucker und Schokoladensoße klebte. Elyar hatte genug. „Was hätte ich denn tun sollen? Sollte ich sie abwerfen? Mr Mayer sollte verbieten, dass auf mir gegessen wird.“ Wütend flog Elyar aus der Wäscherei und schüttelte energisch den Reinigungsschaum ab. Er wollte in den Schuppen, in dem er nachts aufbewahrt wurde, aber kurz davor drehte er ab, flog an den Pyramiden vorbei und über die Mauer, die den Park umgab. Hinter ihm riefen Mitarbeiter, doch niemand konnte ihn aufhalten. Er war frei.

Zögerlich versuchte er sich an einen Freudensalto. Aber das fühlte sich falsch an. Er entschied sich für ein enthusiastisches Wackeln mit den Fransen. Dann schwebte er los. Zuerst ließ er sich treiben. Genoss die Luft, die nicht mehr nach Pommes und Zuckerwatte roch und sah Berge und Wälder. Am Strand des Ozeans wäre er am liebsten umgedreht. Er wusste, er musste diese endlose Weite überqueren, um in den Orient zu kommen und Tim zu treffen. Was, wenn ihn unterwegs die Kraft verließ? Aber er konnte nicht zurück. Das hier war sein Traum. Also nahm er seinen ganzen Mut zusammen und flog los.

Am Anfang ging es besser als gedacht. Die Winde trugen Elyar hoch hinaus und schoben ihn an. Doch ein Sturm kam auf. Er wurde hin und her geworfen, war innerhalb von Sekunden patschnass und tonnenschwer. Ich werde ins Meer stürzen und ertrinken, dachte er. Niemand wird mich hier finden. Dann sah er Tim vor sich und den Basar und kämpfte sich durch den Sturm. Es wurde besser. Der Wind flaute ab und die Wellen beruhigten sich. Unendlich müde und zitternd vor Kälte glitt Elyar vorwärts. Was für eine blöde Idee diese Reise gewesen war. Plötzlich klarte der Himmel auf und er sah die Sterne. Wie viele es davon gab. Hier mitten auf dem Ozean leuchteten und funkelten sie in all ihrer Pracht. Vor lauter Staunen vergaß er, wie erschöpft er war.

Salz verkrustet und vom Wind zerzaust kam er ein paar Tage später an seinem Ziel an. Zuerst schaute er sich die Pyramiden an. Sie waren beeindruckend hoch, aber es wimmelte nur so von Touristen, die lärmten und gleich neben den Bauwerken lag eine große Stadt. Er hatte sich die Pyramiden immer mitten in der Wüste vorgestellt. Jemand am Boden entdeckte ihn: „Ein echter fliegender Teppich. Wo ist dein Handy? Mach ein Foto.“
Schnell düste Elyar weg. So etwas hatte er im Park ständig erlebt, er hatte genug davon.

Seine nächsten Ziele enttäuschten ihn ebenso. In der Wüste war es heiß und staubig, der Sand setzte sich in seinen Fransen fest und das Manövrieren fiel ihm schwer. Fliegende Teppiche über malerischen Sanddünen mussten eine romantisierte Erfindung von Romanautoren sein. Endlich in der Stadt, fand er einen Basar. Aber hier war es laut und die vielen Gerüche nach exotischen Gewürzen überwältigten ihn. Nein, hier war es ganz und gar nicht so, wie er es sich vorgestellt hatte.
Plötzlich packte ihn jemand von hinten und hielt ihn fest. „Dieser Teppich hier ist Hunderte Jahre alt. Dafür ist sein Zustand außergewöhnlich gut. Sehen Sie, man kann sogar das Muster erkennen. Wollen Sie ihn kaufen? Ich mache Ihnen ein einmaliges Angebot.“
Elyar riss sich los. Nach allem, was er durchgemacht hatte, würde er sich nicht von einem windigen Händler verkaufen lassen. Er brauste durch die Gassen und rollte sich schließlich in einem kleinen Innenhof zusammen. Dort schlief er erschöpft ein und träumte von Tim.
„Elyar? Bist du das?“ War das immer noch ein Traum? Vor ihm stand Tim und strahlte ihn an. „Du hast es geschafft. Du siehst aber nicht glücklich aus.“
Elyar fing an zu schluchzen. „Mir gefällt es hier gar nicht. Es ist furchtbar:“ Er erzählte Tim, was er erlebt hatte.
Tim schaute ihn mit seinen weisen Augen nachdenklich an. „Möchtest du zurück?“
Der Teppich überlegte. „Mr Mayer würde mich nicht wieder engagieren. Schau nur, wie ich aussehe. Das bekommt selbst Mrs Blair nicht mehr hin.“
„Und wenn er dich nehmen würde? Willst du zurück?“
Elyar dachte an die Sterne über dem Meer, an den Moment, als er endlich angekommen war. An das Gefühl zu schweben, ohne irgendwo hinzumüssen. „Nein, auf keinen Fall. Aber hier bleibe ich nicht.“
Tim schmunzelte. „Naja, du bist hier her gekommen, weil du dachtest, dass ein fliegender Teppich in den Orient gehört. Aber wo willst du hin?“
Elyar ging all die Attraktionen des Parks durch und die Gespräche der Gäste, die er mit angehört hatte. Mit einem Mal war er wieder voller Energie. „Danke, mein Freund. Ich weiß, wo ich hin will. Warum bin ich da nicht schon eher drauf gekommen?“ Freudig umkreiste er Tim und strich ihm mit seinen Fransen über den Rücken.

Elyar verbrachte einen Tag mit Tim und seinen Eltern. Dann flog er fest entschlossen los. Auch diese Reise war lang und anstrengend, aber es machte ihm nichts aus. Er wusste, dass sein neues Ziel ihn nicht enttäuschen würde. Und so war es. Am Nordpol war es perfekt. Es war knackig kalt und wunderschön weiß. Die wenigen Menschen gewöhnten sich schnell an den fliegenden Teppich und ließen ihn in Ruhe. Wenn es stürmisch wurde, grub Elyar sich im Schnee ein und ansonsten schwebte er vor sich hin, beobachtete Eisbären und träumte von seiner nächsten Reise.
 



 
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