End of Service

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hein

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End of Service



Heiligabend, Mitternacht! Der Weihnachtsmann schließt müde die Haustür, hängt den schweren Mantel an die Garderobe und tauscht die Stiefel gegen warme Filzpantoffeln. Darin schlürft er in sein Wohnzimmer, gießt an der Bar zwei fingerbreit Scotch in ein Glas, und dann kann er es sich endlich in seinem Ohrensessel gemütlich machen. Der alte Mann schließt die Augen, nippt an seinem Glas und genießt die strahlende Wärme des flackernden Kaminfeuers. Während er auf die Wirkung des Alkohols wartet kommen die Erinnerungen an die vergangenen Stunden:

„Was für ein Tag. Ich mache den Job ja jetzt schon seit über 200 Jahren, jederzeit gerne, trotz wachsender Belastung durch immer mehr Pakete und expandierendem Kundenkreis. Aber von Jahr zu Jahr wird es frustrierender: Man rackert sich ab, versucht es Jedem recht zu machen, und wird dann so behandelt! Da stehen vor einem diese jungen, kaum stubenreinen Gören, denen der Unglaube an den Weihnachtsmann im Gesicht geschrieben steht, die kein vernünftiges Gedicht zustande bringen, geschweigen denn Angst vor der Rute haben. Nein, kaum hat man ihnen die Pakete ausgehändigt, werden diese aufgerissen und geprüft. Und wehe, die Lieferung entspricht nicht 100-prozentig der Spezifikation auf dem Wunschzettel! Da wird gleich gemosert, reklamiert und Ersatzlieferung an Ort und Stelle verlangt.

Ich kann mich dann nur noch stammelnd aus dem Staub machen und hoffen, dass dem nicht auch noch ein negativer Kommentar in diesen angeblich so sozialen Medien folgt. Meine Firma wird doch schon seit Jahren mehr und mehr kritisiert: unmodern, unflexibel, schwer erreichbar, an nur einem Tag im Jahr geöffnet, und was da sonst noch alles kommt!

Natürlich gibt es sie auch noch: die frohen, gläubigen Kindergesichter. Das zaghafte Lächeln und artige Bedanken nach der Übergabe der Pakete. Aber dies wird immer seltener und wiegt das Andere bald nicht mehr auf.

Und was mir noch aufgefallen ist: wenn ich komme liegen unter dem Tannenbaum bereits Pakete, die nicht von mir sind. Alle in der gleichen Aufmachung, mit so einem schwungvollen Pfeil an der Seite. Gibt es möglicherweise jemanden, der mir Konkurrenz machen will? Meine Aufgabe übernehmen, mich gar abschaffen?

Der IT-Wichtel hat da doch vor einiger Zeit etwas erzählt von solch einer neuen, stark expandierenden Organisation: Diese soll jeden Wunschzettel sofort nach Eingang bearbeiten, jede erdenkliche Forderung erfüllen, jederzeit ansprechbar sein, immer lieferbereit. Und das nicht nur zu Weihnachten, nein, an fast jeden Tag im Jahr. Die müssen ja viele Weihnachtsmänner haben, und deren Fuhrpark will ich mir gar nicht vorstellen! Gibt es überhaupt so viele Rentiere auf der Welt? „

Der Weihnachtsmann holt sich einen Nachschlag von dem guten Feuerwasser, genießt einen langen Schluck und spinnt dann einen Gedanken: „Ich werde ja nicht jünger, und meine Rentiere zeigen auch schon Verschleißerscheinungen. Soll ich mich nicht einfach zur Ruhe setzten und dieser ominösen Konkurrenz das Feld überlassen? Dann können diese undankbaren Menschen sehen wie es ist, wenn jeder Wunsch sofort erfüllt wird. Keine Vorfreude, keine Überraschung. Als nächstes wird gar Weihnachten insgesamt in Frage gestellt, werden Tannenbaum, Kirchgang und die freien Tage abgeschafft! Dann kommt das große Heulen und Zähneklappern, und sie werden wieder nach mir rufen! Aber dann wäre es zu spät!“

Entspannt von den Drinks und mit den Gedanken schon bei der Liste der schönen Dinge, die wegen der Arbeit bisher immer zu kurz gekommen sind, ist der Weihnachtsmann kurz vor dem Einnicken. Da klopft es an der Tür, und der Haushaltswichtel tritt vorsichtig ein. In der Hand hält er ein eckiges Etwas, einfarbig und mit dem bekannten geschwungenen Pfeil verziert. „Entschuldigung, aber da ist eben ein Paket für Sie gekommen.“

Der Weihnachtsmann berappelt sich, guckt einen Moment ungläubig, und fragt dann: „Ein Paket? Für mich? Ich habe doch in meinem ganzen Leben noch niemals etwas zu Weinachten bekommen! Von wem ist es?“

Der Wichtel schaut auf das Etikett: „Das kommt aus Amerika. Von einem ‚Jeff‘.“



*****



Im folgenden Jahr kommen Briefe an den Weihnachtsmann postwendend zurück! Angeheftet findet sich ein Schreiben mit dem Hinweis:

„Seit Beginn dieses Jahres bin ich in Rente. Wegen Nachwuchsmangel musste das Weihnachtsland leider endgültig geschlossen werden.

Wunschlisten nimmt künftig www.wir-liefern-alles.com entgegen.


Für Ratsuchende mit akuten Anfällen von Weihnachtssehnsucht oder dem Auftreten von Entzugserscheinungen stehe ich aber gerne unter der

Hotline: 007 555 5555 (kostenpflichtig: EUR 1,50/Min. aus dem Festnetz; Mobilfunk kann abweichen)!

zur Verfügung.



Tschüss und Fröhliches Shoppen!

Ihr Weihnachtsmann i.R.
 
Hallo hein,

tja, auch der Weihnachtsmann geht wohl mal in Rente.
Aber in diesem Jahr hat er es auch besonders schwer. Dieser Jeff macht die Geschäfte seines Lebens, weil die Leute mehr zuhause bleiben. Und das diesjährige Fest wird auch noch "down geknockt". Da geht es den kleinen Selbstständigen nicht gerade eben gut. Meine Frau weiß ein Lied davon zu singen.

Liebe Grüße,
Rainer Zufall
 

Hagen

Mitglied
Hallo hein,
wie Rainer schon bemerkte, wird es Zeit für den Weihnachtsmann in Rente zu gehen.
In früheren Zeiten habe ich mal ausgerechnet, wieviel Zeit dem guten Mann pro Familie bleibt, wenn er nur die Christen zum Heiligen Abend zu beliefern hat. Ich weiß nicht mehr wieviel, aber es lag im Nanosekundenbereich.
Da wird es in der Tat ein ganzklein wenig zu stressig für den alten Herrn!
So, lieber hein, ich hoffe, wir lesen uns weiterhin.
Bleib schön gesund und bis bald.
Herzlichst
Yours Hagen
 



 
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