Ende des Findens

Kyra

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Ende des Findens

Nachdem Helga steifbeinig aus dem Überlandbus gestiegen war, setzte sie sich auf die Bank an der Haltestelle und sah sich um. Niemand war gekommen, um sie abzuholen. Der Bus hatte an einer Kreuzung gehalten, einige Häuser lagen an der Landstraße, die sich schurgrade bis zum Horizont erstreckte, aber der Kern des Ortes befand sich entlang der Querstrasse. Holzhäuser hinter ungepflegten Vorgärten, weiter unten eine Reihe von Geschäften und am Ende der Straße die blinkenden Lichterketten eines riesigen Casinos, dem Zentrum der Stadt. Der bedeckte weiße Himmel blendete Helgas Augen, das unbewohnte flache Land ringsum, für Nomaden geschaffen, schien die Siedlung nur widerwillig zu dulden. Aber sie würde wahrscheinlich auch nicht lange bleiben, hier war ihre Suche zu ende. Im gleichmäßig hellen Mittagslicht schienen alle Schatten verschwunden zu sein, selbst die neuen Gebäude sahen darin schäbig aus, die älteren wirkten so heruntergekommen wie Teile einer Geisterstadt, unfähig, die Jahre in Geschichte oder auch nur fühlbare Erinnerungen zu verwandeln. Helga versuchte, die matte Trauer dieses Ortes nicht in sich eindringen zu lassen, es war nur eine weitere trostlose amerikanische Kleinstadt, diese lag nur in einem Indianerreservat. Die besondere Öde dieser Siedlung lag an Helgas falscher Vorstellung von Indianern, einer romantischen Idee von edler Wildheit, über die sie lächeln musste, die sich aber durch viele Bücher und Geschichten unumstößlich in ihrem Kopf festgesetzt hatte. Vielleicht war es auch weniger eine Vorstellung, als ein dringender Wunsch, den sie auf der jahrelangen Suche nach ihrem Vater genährt hatte. Sie strich ihre glatten, dunklen Haare aus dem Gesicht und lächelte hoffnungsvoll einer dicken Frau zu die mit schweren Einkaufstaschen beladen auf sie zukam. Sollte ihre Ankunft doch nicht vergessen worden sein? Grade als Helga sich halb aufgerichtet hatte und etwas sagen wollte, bemerkte sie den Blick der Frau der durch sie hindurch glitt, als sei sie unsichtbar. Beschämt wandte Helga ihr Gesicht ab, behielt aber das Lächeln bei, als würde sie die freudlose Umgebung mit einem versonnenem Entzücken betrachten. Sicher war es völlig überflüssig, weil die Frau mit den Einkäufen sie ebenso wenig bemerkt hatte wie ein Staubkorn unter ihren breiten Füssen in den Plastiksandalen.
Auf der anderen Straßenseite trat eine junge Frau aus dem Haus. Mit langen Schritten, schnell, ohne zu hasten, ging sie zum Sandkasten vor der Veranda. Dort saß ein kleiner Junge und spielte versunken mit einem Haufen bunter Formen. Ruhig trat die Frau vor ihn, als er aufblickte legte sie den Kopf etwas zur Seite und hob aufmunternd das Kinn während sie ihm eine Hand entgegenstreckte. Der Kleine erwiderte den Blick, erhob sich wortlos und ließ sich bereitwillig wegführen. Helga sah die beiden durch die Tür verschwinden. Sie fuhr herum, als eine etwas hohe Männerstimme sie ansprach. Vor ihr stand ein Mann mit einer starken Bierfahne. Er trug dreckige Jeans, sein T-Shirt warb für das Casino im Ort. Verwirr und sprachlos erhob sich Helga, ihre Arme öffneten sich matt zu einer Umarmung. Sie wandelte die Bewegung geschickt in ein überschwängliches Händeausstrecken ab, als sie keine Reaktion bei ihrem Gegenüber feststellen konnte. Er war etwa so groß wie sie, seine Haut war dunkler als ihre, sein Blick schien sie zu durchdringen, ohne sie wahrzunehmen während sie ihn hingebungsvoll musterte. Sein leichtes Anheben der Mundwinkel deutete Helga als freudiges Lachen. Zögernd nannte sie seinen Namen, ihre Stimme war belegt vom langem Schweigen und der Angst in diesem wichtigen Augenblick etwas Falsches zu sagen. Wie viele Jahre hatte sie sich diesen Moment vorgestellt, diese Träume hatten ihr die Kraft gegeben sich nicht wie ein zufällig entstandenes Unkraut zu fühlen, ihrer Mutter zu verzeihen und sich mit erhobenem Haupte als etwas besonderes zu fühlen. Jetzt lächelte er das erste Mal wirklich und entblößte dabei eine Reihe kräftiger gelber Zähne, während er ihr feierlich nickend die Hand schüttelte. Dann nahm er ihre Tasche und ging ihr voraus die Straße in den Ort hinunter. Das Haus was sie kurz darauf betraten, unterschied sich kaum von den anderen, außer dass hier mehr Kinder auf den Stufen der Treppe zu sitzen schienen als bei den Nachbarn. Mit einer stolzen Geste umfasste Helgas Begleiter Garten, Gebäude und die Kinderschar und teilte ihr über die Schulter mit, dies alles gehöre ihm. Als Helga sich zwischen dem stumm starrenden Nachwuchs ihres Vaters hindurch in die Dunkelheit der Diele drängte, suchte sie vergebens nach der Stimme des Blutes in ihrem Herzen. Fast blind folgte sie ihrem Erzeuger in ein ebenso finsteres Wohnzimmer, dessen hellster Fleck der bläuliche Fernsehschirm war. Feierlich in die Hände klatschend, schaffte er sich Gehör, um sie vorzustellen. Inzwischen hatten sich Helgas Augen an das Dunkel gewöhnt, so erahnte sie fünf runde Gesichter, die sich ihr zuwandten. Sie schienen sich sehr ähnlich zu sehen, alles Frauen über deren Stirn und Wangen die Schatten und Lichter einer Fernsehshow flimmerten. So sehr Helga in ihrer deutschen Heimat bei den Menschen nach einer Ähnlichkeit mit ihren Gesichtszügen gesucht hatte, so kränkend empfand sie jetzt die eigene Normalität. Außer einem gemurmeltem Willkommen passierte nichts, alle wandten sich wieder dem Bildschirm zu. Helga war wie betäubt, alles war so anders als sie es sich vorgestellt hatte, so wenig besonders, so belanglos wie ein Besuch bei ehemaligen Nachbarn oder entfernten Cousinen. Nicht einmal der Mann, der offenbar ihr Vater war, schien sich zu freuen, eine verlorene Tochter wieder zu finden. Sanft schob er sie in einen Sessel, mit einer gemurmelten Bitte weitere Gespräche bis nach der Sendung zu verschieben. Dann reichte er ihr eine kalte Dose, die sie durstig öffnete. Als sie das Bier schmeckte, musste sie sich überwinden, weiter zu trinken, wollte aber nicht unhöflich oder anspruchsvoll erscheinen, da offenbar alle das gleiche tranken. Hier in der Dunkelheit überkamen sie seit ihrer Abreise das erste Mal Zweifel. Nein, das war nicht richtig, es waren die ersten Zweifel überhaupt. Seit sie sich erinnern konnte, wollte Helga genau dies tun, nach Amerika fahren, um ihren Vater zu suchen. Dieser Traum hatte sie in mutlosen Zeiten mit einem heimlichen Glück erfüllt, einem geheimen und nur ihr allein gehörendem Glück zu dem niemand, auch nicht ihre Mutter, Zugang hatte. Sie hatte alles über die Indianer Nordamerikas gelesen, buchstäblich alles, was ihr in die Hände kam. Sie kannte alle Stämme und Völker, ihre Sitten und Tänze, die Lage ihrer Reservate und die wichtigsten Häuptlinge. Aber nichts davon hatte sie auf diese Situation vorbereitet. Hätte ihre neue Familie einen traditionellen Tanz von ihr verlangt, es wäre kein Problem gewesen, selbst die Tänze der Männer beherrschte sie, nur dieses schweigende Starren auf eine dümmliche Gewinnshow, dies überschritt die Grenzen ihrer Vorstellungskraft. Eine halbe Stunde später war das Programm zu Ende, die Jalousien blieben geschlossen, aber jemand machte das Licht an. Alle schienen sie inzwischen vergessen zu haben, das muntere Geplauder verstummt plötzlich als sie bemerkten, dass eine Fremde zwischen ihnen saß. Mit einem kurzen Blick auf Helga verließen alle Frauen den Raum. Sie hatte einen älteren Mann übersehen, der offenbar vor den Sesseln auf dem Boden gehockt haben musste. Der kam jetzt freundlich zu ihr, bot ihr eine Zigarette an und ließ sich neben ihrem Stuhl auf dem Boden nieder, hockte sich hin und umschlang die Knie locker mit den Armen. Dieser etwas dickliche Mann stellte sich ihr als Großvater vor. Ohne die Spur von Verlegenheit befragte er sie nach ihrer Mutter, ließ sich ein Foto von ihr zeigen und brach bei ihrem Anblick in ein zufriedenes Lachen aus. Helgas Vater war in seinem Sessel an der Wand sitzen geblieben und murmelte jetzt einige Worte falscher Bescheidenheit. Fassungslos hörte Helga zu, wie der alte Mann ihr in einem harten Englisch erklärte, wie gut er seinen Sohn verstehen könne – denn welcher Krieger würde es sich entgehen lassen, eine so schöne Frau zu schwängern. Dann musterte er sie kritisch, um schließlich befriedigt festzustellen, sie sähe doch fast wie eine echte Indianerin aus, sein Sohn habe auch hier den Feind besiegt. Er nickte bei diesen Worten ernst und tätschelte ihr das Knie. Nach einer schier endlosen Gesprächspause schickte ihr Großvater den Vater hinaus. Leise und vertraulich, den Blick in eine unsichtbare Ferne geheftet, erzählte er ihr von der richtigen Frau ihres Vaters, eine der weiblichen Gestalten die vorher das Zimmer verlassen hatten. Die Kinder vor der Tür stammten nicht alle von ihm, einige hatte seine Schwägerin mitgebracht. Helga fühlte wie ihre Kehle eng wurde und ihr Kinn begann zu zittern. Vergeblich suchte sie, die Tränen zurückzudrängen, schließlich nahm sie einen Schluck des lauwarmen Biers aus der Dose und gab vor sich verschluckt zu haben. In dem künstlichen Hustenanfall war ihr heimliches Schluchzen nicht mehr hörbar, außerdem schien es den alten Indianer auch nicht zu interessieren, so gleichmütig sprach er weiter – erzählte ihr über die alte Zeit, dem Leben bevor er mit seiner Familie in das Reservat gekommen war. Genau so ein Gespräch hatte sich Helga immer gewünscht, nur war es jetzt alles so traurig. Sie fühlte sich fremd aber auch die Worte ihres Großvaters schienen so unpassend in diesem düsteren Zimmer in dem alle Möbel um das Fernsehgerät gruppiert waren, wie um ein künstliches Lagerfeuer. Das große Sofa war mit einer abwaschbaren Plastikfolie überzogen, die Sessel waren alle fast neu, aber gehörten nicht zusammen. An der Wand hingen verschiedene Gewehre und bräunliche Fotografien von Indianerlagern und die Portraits von Federgeschmückten Männern. Helga überkam eine große Sehnsucht nach etwas unbenennbarem, sie hätte es nicht einmal ungefähr beschreiben können, nur dass es dem Begehren ähnelte, was sie an warmen Frühlingstagen manchmal fühlte – ein Sehnen nach sich selber. Wenig später erhob sich ihr Großvater geschmeidig, nahm drei Gewehre aus einem verschlossenen Wandschrank und drückte ihr eines davon in die Hände. Er bedeutete ihr zu folgen und rief nach seinem Sohn während er nach draußen ging. Helga folgte ihm zögernd zur Rückseite des Hauses. Hier fing unmittelbar und übergangslos die Prärie an, kein Zaum deutete das Ende der Zivilisation an, hier schien das Haus wie ein Zelt inmitten der Wildnis zu stehen. Helgas Vater hatte sich inzwischen zu ihnen gesellt und nahm mit ernstem Nicken das Gewehr von seinem Vater entgegen. Da beide Männer sich hinhockten, tat Helga es ihnen gleich, das Gewehr in Griffweite neben sich saßen sie schweigend nebeneinander. Diesen Augenblick dürfte sie nie vergessen, wie sie hier neben ihrem Vater und Großvater kauerte, auf der Jagt wie einst ihre Vorfahren. Sie versuchte sich vorzustellen was sie wohl hier jagen würden, ein Kaninchen zum Mittagessen wahrscheinlich, sonst gab es hier nicht viel essbares Wild. Plötzlich riss ihr Vater das Gewehr hoch und feuerte, sie sah den Körper eines kleinen Tieres durch die Luft schleudern, dann fiel er zu Boden. Eifrig wollte sie hinlaufen um ihn aufzuheben, aber ihr Großvater hielt sie lachend am Arm fest. Mit einem fast weibischen Kichern erzählte er ihr von diesen lebenden Zielscheiben, Präriehunde, die schoss man nur, um in Übung zu bleiben, kein Mensch würde sie essen wollen. Mit einem auffordernden Nicken zeigte er ihr den nächsten Präriehund, der ganz in der Nähe seinen Kopf aus der Erde steckte. Jetzt sollte sie schießen. Mit bebenden Händen griff sie nach dem Gewehr, hob es ungeschickt an die Schulter und sah durch das Zielfernrohr. Ganz nah und deutlich konnte sie die witternde Schnauze erkennen und die aufmerksamen Augen sahen sie direkt an. Kopfschüttelnd ließ sie das Gewehr sinken, mit verständnislosem Achselzucken nahm ihr Großvater sein Gewehr und schoss. Helga glaubte, wie in einer Zeitlupe zu beobachten, als das braune Köpfchen zu einem blutigen Brei verwandelt wurde. Ihr Schreckenschrei erreichte nicht die Kehle, sondern blieb in ihrem Inneren begraben.
Als Helga am Nachmittag wieder in den Bus stieg, sie hatte es dankend abgelehnt, in einem der Motels zu übernachten, fiel ihr der Abschied von ihrem Vater merkwürdig schwer. Gerne hätte sie ihn berührt, umarmt oder über seine langsam grau werdenden Haare gestrichen. Aber das war nach dem festen Händedruck mit dem er sich verabschiedet hatte völlig unmöglich. So bestieg sie den Bus, ohne ihn einmal wirklich gefühlt zu haben. Helga suchte sich einen Sitzplatz und als der Bus anfuhr, sah sie aus dem Fenster um ihm zu winken, aber er hatte sich schon umgedreht.
 

axel

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Hallo Kyra.
Diesmal habe ich gar nichts zu meckern.
Ich finde, dir ist ein schöner Einblick in eine mir völlig unbekannte Welt gelungen.
Es wirkt alles sehr plausibel, und ist gut geschrieben.
Schöne Grüße.
Axel
 



 
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