Endlich ein Junge

Ruedipferd

Mitglied
2.Teil

Fortsetzung von "Im falschen Geschlecht"

Nichts als Streiche



Der große Tag war gekommen. Wir Jungen warteten schon sehnsüchtig auf den Weihnachtsmann und fanden uns am Naschtütenstand zusammen. Andy wollte ihm eine Gummispinne in den Mantel stecken und Bernd einen Pupssack unter sein Kissen in die Kutsche legen.

Schnee gab es leider keinen und so würde der Weihnachtsmann, also Robert, mit der Ponykutsche kommen. Erst wollten wir ihm noch einen Knaller hinterherwerfen, aber ich wiegelte ab. Die anderen ritten nicht und das war keine gute Idee für mein altes Shetty Pünktchen, das den Weihnachtsmann ziehen musste. Die Schlossuhr schlug fünf Uhr.

Mein Vater stand wie immer auf der Schlosstreppe und bedankte sich bei allen Besuchern fürs Kommen. Wir sollten singen, um dem Weihnachtsmann den Weg hierher zu zeigen. Meine Mutter kam mit Klara auf mich zu. Ach, Shit, das war nun wirklich nicht der richtige Zeitpunkt. Sie gab mir die Hand und entschuldigte sich für ihre Worte. Ich erwiderte die Entschuldigung und versprach, beim nächsten Turnier besser aufzupassen und ihr nicht wieder auf die Füße zu treten. Meine Mutter nickte zufrieden. Ich nahm die Beine in die Hand, um mich rechtzeitig vor Roberts Ankunft neben die anderen ungezogenen Jungen stellen zu können.

Pünktchens Glöckchen an der Kutsche bimmelte. Die kleinen Kinder sahen mit großen Augen zu dem Miniaturpferdchen, das den dicken Weihnachtsmann scheinbar mühelos zog. Robert hatte sich den Bauch mit Kissen ausgestopft und machte eine ziemlich stattliche Figur. Ich grinste. Andy auch. Pünktchen hielt ich kurz am Halfter, damit es stehen blieb.

Der Weihnachtsmann bedankte sich bei mir. „Wie heißt du denn, mein Junge?“

„Max, heiße ich, Weihnachtsmann, mit dem Sack, stehst hier ‘rum in deinem roten Frack. Äpfel, Nüss‘ und Mandelkern, essen Kids heute nicht mehr gern. Computerspiele und Handys, davon träumen wir und nehmen auch ein kühles Bier. Hasch und Zigaretten können wir zum Rauchen ebenso gebrauchen. Steck die Rute ein, denn Angst haben wir Jungen davor keine. Und wenn du nichts Ordentliches für uns hast, zieh ganz schnell Leine! “

Den begehrten Schlag mit der Rute erhielt ich nicht mehr. Mein Vater hatte mich bei den letzten Worten am Kragen gepackt und ins Haus verfrachtet. Einen Moment später saß ich allein in meinem Zimmer. Der Adventsabend war vorbei und das Fußballtraining fand in den kommenden Tagen ohne mich statt.

Meine Kumpels kamen und fragten, warum ich nicht rauskäme.

Lakonische Antwort von Mia: „Der junge Herr Graf hat Stubenarrest.“

Natürlich hatte ich mich längst bei Robert und meinen Eltern entschuldigt. Vater erzählte, dass er sich fast vergessen und mir am liebsten den Hintern versohlt hätte, wie früher üblich.

Mein Gedicht brachte allerdings das ganze Dorf zum Lachen. Vor allem die Männer, die sich regelmäßig am Stammtisch in der Dorfkneipe trafen, lobten meine Bodenständigkeit in puncto Bier. Schließlich gehörten uns eine Brauerei und eine Schnapsbrennerei.

Der Wirt grinste meinen Vater an, als wir nach dem wöchentlichen Samstagseinkauf wie immer zum Essen reinkamen und meinte: „Der kommt ganz nach dir, Herr Graf. Erinnerst du dich an den Blödsinn, den wir damals verzapft haben?“

Vater tat, als hätte er nichts gehört und schob mich rasch ins Nebenzimmer der Gaststätte, damit ich mir mein Mittag und meine Cola bestellen konnte. Ich wollte protestieren und den Wirt nach Details fragen, aber Vater gab ihm ein Zeichen. Aha, dass mein alter Herr in jungen Jahren seinem Namen alle Ehre gemacht hatte, wusste ich schon von meiner Mutter. Auch Dietrich deutete hier und da etwas an. Zu meinem Leidwesen erfuhr ich jedoch von niemandem Genaueres darüber.

Stattdessen ließ mich unser Deutschlehrer das Gedicht an die Tafel schreiben, berichtigte die Fehler und zeigte uns schönere Weihnachtsgedichte, die wir auswendig lernen und interpretieren sollten. Meine Mitschüler waren stinksauer.

Andy nahm mich sogar auf dem Schulhof in den Schwitzkasten. Deutsch war nicht seine Stärke und eine Klassenarbeit über Weihnachtsgedichte wollte er auf gar keinen Fall schreiben müssen.

Der Direx bemerkte die Rauferei, kam locker auf unsere Gruppe zu und trennte Andy und mich, ohne sich dabei körperlich anstrengen zu müssen. „Gedichte wären ohnehin demnächst drangekommen, meine Herrschaften. Das hat mit den geistlosen Ergüssen unseres jungen Werther, Ähm, Grafen, nichts zu tun. Ihr zwei meldet euch in der Laienspielgruppe, da könnt ihr eure künstlerischen Fähigkeiten unter Beweis stellen. Das kann auch dir nicht schaden, Andreas.“

Ach herrje, das hatte ich nun davon. Ich schluckte, jetzt musste ich nicht nur für das Weihnachtskrippenspiel in der Kirche Rolle und Text lernen, sondern auch noch in der Schulaufführung mitspielen.

Am Heiligen Abend saßen meine Eltern auf unseren gräflichen Stammplätzen in der Kirche. Ich spielte brav den Joseph, die Gemeinde klatschte hinterher Beifall und alles war wieder in Butter. Meine Eltern trugen mir nichts nach. Sie hatten sich damit abgefunden, einen frechen Jungen aufziehen zu müssen.

An Sylvester schneite es. Wir tobten mit dem Schlitten den Schlossberg hinunter und am 2. Januar fuhr ich mit meinen Eltern nach Reit im Winkl. Wir hatten dort ein kleines Hotel gebucht und wollten, wie jedes Jahr, ein paar Tage Ski laufen. Der Hotelangestellte fragte nach meinem Kinderausweis. Meine Mutter erklärte ihm, dass der Mädchenname falsch sei, da ich transsexuell und ein Junge bin. Es gab ein kurzes Gelaber, bis der Hotelmanager meinen Eltern Recht gab und ich als Maximilian einchecken durfte.

Ich verstand deshalb sehr schnell, dass ich Papiere auf meinen männlichen Namen brauchte und fragte meine Eltern, ob man so etwas nicht früher kriegen konnte. Mein Vater versprach, zu Hause unseren Hausanwalt anzurufen. Das war eine blöde Welt, in der die Erwachsenen lebten. Alles musste seine Ordnung haben und Stempel und so. Auf den Menschen kam es nicht an. Es war doch viel wichtiger, gut zu sein, anderen zu helfen und nicht zu viel Blödsinn zu machen.

Nun ja, ich konnte mich nicht immer dran halten und ein paar Ausrutscher unterliefen mir schon. Aber es blieb im Bereich des Erträglichen und ich machte nie etwas kaputt. Am schönsten war es, wenn andere Jungen dabei mitspielten. Zu zweit oder zu dritt machten Streiche einfach viel mehr Spaß. Ich hatte mich zum Beispiel mit Alois, einem dreizehnjährigen Gast aus Garmisch, spät in der Nacht ganz leise auf dem Flur getroffen. Die Hotelgäste durften ihre Schuhe, die geputzt werden sollten, vor die Tür stellen.

Alois und ich vertauschten die Schuhe, so dass der Schuhputzer am nächsten Tag, ohne es zu wissen, alle Schuhe falsch zuordnete. Nur bei unseren Familien machten wir nix. Es fiel nicht auf, aber Dad sah mich mit seinem besonderen Blick an. Er ahnte wohl, wer hinter dem Schabernack steckte. Als ich am nächsten Morgen zu früh wach wurde und um kurz vor sechs Uhr aufstand, wollte ich mir nur etwas zu trinken aus dem Speisesaal holen. Die Bedienung hatte schon angefangen, das Büfett aufzustellen. Ich versteckte mich hinter einem Vorhang. Auf den Tischen lagen die Servietten der Gäste, deren Namensschilder daneben standen. Ich vertauschte die Namensschilder und die Servietten.

Beim Frühstück gab es lautstarke Diskussionen um die richtigen Plätze und manche Gäste baten um neue Servietten, weil ihnen die Flecke auf der angeblich eigenen, nicht geheuer vorkamen. Ich erzählte Alois davon und wir lachten uns zusammen kaputt. Vater sagte nichts. Aber er war sehr froh, als wir endlich nach einer Woche wieder nach Hause mussten. Meine Mutter und er warfen sich vielsagende Blicke zu.

Ende Januar stand Vaters fünfzigster Geburtstag an. Die ganze Familie war eingeladen und Mia hatte zusammen mit der Köchin und einer zweiten Hilfskraft namens Alina alle Hände voll zu tun, um die Vorbereitungen zu treffen.

Ich musste mein Zimmer aufräumen und konnte nicht verstehen, warum. Außer Hubertus und meiner Cousine Beatrix kamen keine anderen Kinder. Beatrix war erst sieben. Und den beiden war es ziemlich schnuppe, wie es in meinem Zimmer aussah. Mum duldete kein Aufbegehren.

Ihre Schwester und ihr Schwager waren eingeladen. Meine Oma natürlich auch, darüber freute ich mich am meisten. Oma war schon ziemlich alt, aber im Oberstübchen noch topfit. Sie konnte herrlich Geschichten erzählen und ich erfuhr auf diese Weise, wie sich das Leben der Leute damals vor und nach dem Krieg in Ostpreußen abspielte. Ihr elterliches Gut gehörte nun dem polnischen Staat. Damit konnte sich Oma nicht abfinden. Sie suchte immer wieder mit den anderen Erwachsenen nach Wegen, wie man den Besitz zurückbekommen konnte.

Mit den Geschäftspartnern von Dad wurden es 120 Gäste. Die Meisten kamen von außerhalb und mussten im Schloss untergebracht werden. Ich hatte angeregt, Hubertus bei mir schlafen zu lassen. Er war älter als ich und ich konnte viel von ihm lernen, vor allem jeden erdenklichen Blödsinn. Als Onkel Ludwig und Tante Friederike ankamen, begrüßte ich sie artig. Sie wussten bereits von mir. Mama hatte mit ihnen telefoniert.

Onkel Ludwig schlug mir auf die Schulter. „Na, also wirst du unser neuer Graf Wildenstein, Max. Ich muss ehrlich sagen, es überrascht mich nicht. An dir ist tatsächlich ein Junge verloren gegangen und ich denke, die Entscheidung deiner Eltern war richtig.“ Er lachte gut gelaunt.

„Wo ist Hubertus?“, fragte ich.

„Er kommt nach, Max. Er hat noch Klausuren zu schreiben“, antwortete meine Tante nicht ohne Stolz. „Aber er freut sich auf dich und will dir viel erzählen, was du als Junge wissen musst.“

Shit und gut. Beatrix war auch noch nicht da. Ihre Mama war die Schwester meiner Mutter. Tante Alexa konnte sehr gut singen. Sie trat in der Oper auf und die Erwachsenen nötigten sie immer, ihnen etwas vorzusingen. Beatrix wollte deshalb ebenfalls Opernsängerin werden. Sie verkleidete sich gerne als Diva und übte fleißig. Wir sahen uns zu den Geburtstagen unserer Eltern öfter. Ich zog sie immer auf und tat erst, als ob ich ihren Gesang schön fände. Sie merkte es und wurde richtig wütend, wenn ich ihr mein selbstverfasstes Gedicht aufsagte: „Frau Königin sind die schönste Vogelscheuche der Welt und Euer Gekreische vertreibt alle Vögel auf dem Feld!“ Aber wir mochten uns trotzdem und sie fehlte mir.

Ich stromerte in die Küche. Am Abend kämen die Gäste zum Essen und die Tafel im großen Festsaal war bereits gedeckt. Die Köchin lief wie ein aufgescheuchtes Huhn durch ihr Refugium und selbst Mia hatte keine Zeit für mich. Andererseits durfte ich das Schloss nicht mehr verlassen, denn ich trug meinen neuen Anzug und Mutter bat mich inständig, mich nicht mehr schmutzig zu machen. So war mir der Ausweg in den Pferdestall versperrt.

Ich schaute mich um. Irgendwie meldete sich mein Magen. Auf dem Tisch standen noch halbwarme Puddingschalen.

„Max, Finger weg vom Nachtisch! Am besten, du verschwindest ganz aus der Küche und lässt dich hier nicht mehr sehen“, rief mir Mia im Vorübereilen wohlweislich zu.

Ich lächelte sie an und machte offiziell Anstalten, wegzugehen. Der Vanillepudding duftete herrlich. Als Mia außer Sichtweite war, steckte ich einen Finger an den Rand einer der Schüsseln. Hm, das schmeckte echt gut. Eigentlich merkt doch keiner was, wenn ich nur am Rand bleibe. Den Rest kann ich ja wieder schön zusammenschmieren, dachte ich mir so. Ich arbeitete mich also durch die Schüsseln. Vanille- und Schokopudding wechselten sich mit Zitronenspeise ab. Als ich durch war und die letzte Schüssel einer Inspektion unterzogen hatte, schlich ich mich aus der Küche.

Lisa, die Köchin, kam gerade wieder mit neuen Köstlichkeiten herein und ahnte etwas.

„Max, was hast du auf der Backe, du Nichtsnutz von Lausebengel? Hast du vom Pudding genascht?“ Mit geschultem Blick sah die alte Lisa die Bescherung.

„Ich, ich hatte Hunger und dein Pudding schmeckte so toll. Wirklich, man sieht nichts, ich bin immer am Rand geblieben.“

Lisa war wie alle Köchinnen eitel, was ihren Beruf anging, und mein Lob traf sie am richtigen Fleck. „Komm, du Lümmel.“ Sie nahm einen Topf vom Herd, in dem sich eine Menge Puddingreste befanden. „Nimm einen Löffel und schmier‘ dich um Himmelswillen nicht voll, sonst bekomme ich Ärger mit der Gräfin.“

Ich nickte. „Nicht nur du, Lisa.“

Als der Topf sauber geleckt war, sah mein neuer Anzug trotzdem entsprechend aus, aber ich war restlos satt geworden. Mia stöhnte auf, als sie mich sah und schickte mich zum Reinigen sofort auf mein Zimmer. Auf keinen Fall sollte ich in dem Zustand meiner Mutter unter die Augen treten.

Auf dem Weg nach oben, hörte ich Hubertus’ Stimme. Er erkundigte sich nach mir. Der Wasserhahn war prompt vergessen, ich stürzte zur großen Eingangshalle und hätte fast Tante Friederike über den Haufen gerannt. Hubertus riss mich hoch und starrte mich an.

„Wow, Maxi, du bist ja ein richtiger Kerl geworden. Du siehst gut aus, Räuber!“

„Du auch, ich bin fast ein bisschen neidisch. Du bist ja schon ein Mann“, sagte ich mit leichtem traurigen Unterton.

„Das kommt bei dir auch, Kleiner. Wann kriegst du deine Hormone?“

„Wenn ich so alt bin wie du. Bis dahin muss ich körperlich Kind bleiben. Aber das hat was Gutes. Man kann länger Streiche machen, ohne richtig bestraft zu werden. Obwohl ich sicher bald wachse. Das hat mir Doktor Reimers jedenfalls erzählt.“

Ich zog Hubertus von Tante Friederike fort nach oben in mein Zimmer. „Leider musste ich aufräumen, Mum war nicht zu bremsen. Sorry, es stinkt nach Putzmittel und sieht echt ätzend aus. Ich fühl mich sehr unwohl. Aber du kannst entweder auf dem Sofa oder auf der Luftmatratze im Zelt schlafen.“

Ich hatte ein Zweimannzelt in der Mitte des Zimmers aufgestellt.

Hubertus lachte. „Ich würde sagen, wir packen dein Bettzeug ins Zelt und pennen beide drin. Hast du eine vernünftige Taschenlampe?“

„Klar und zur Not geht mein Handy. Das macht ebenfalls Licht.“

Die Puddingflecken auf der Jacke fielen mir wieder ein. Ich ging kurz ins Bad.

„Erzähl mir noch mal dein Gedicht. Onkel ist wohl völlig ausgerastet, hab ich von meiner Mutter gehört“, forderte er mich auf.

Natürlich stellte ich mich gleich in Positur.

„Du solltest Schriftsteller werden, so etwas kann nicht mal ich mir ausdenken und das reimt sich alles.“

Hubis Blick verriet Bewunderung.

„Es ist nicht ganz okay. Unser Deutschlehrer hat es noch mal auseinandergenommen und uns die Versmaße erklärt.“

„Trotzdem, für einen Zwölfjährigen eine Meisterleistung. Zeig mal deinen neuen Reitpokal.“

Ich holte ihn und einen zweiten, den ich vor drei Wochen gewonnen hatte. „Hier, das ist der E-Pokal von unserem Turnier und dieser ist aus Siebenstetten, Pony E Stil. Zweimal 8,8. Was sagste?“

„Super, ich bin dreimal im L gestartet. Wurde aber nie platziert. Mein Pferd hat ‘ne Menge Kleinholz hinterlassen.“

Die Tür ging plötzlich auf. Mia stand im Zimmer. „Ach, hätte ich es mir denken können. Ihr zwei Spitzbuben. Herr Hubertus, Sie sind kein Kind mehr. Also, ich sehe Sie jetzt als jungen Mann an. Lassen Sie sich bitte nicht von Max zu Blödsinn verleiten“, sagte sie und setzte nach: „Die Frau Gräfin bittet euch beide herunter zukommen, vor allem Max. Einige Gäste haben Süßigkeiten für ihn dabei. Hast du gar nicht verdient!“

Ich sprang auf. „Hab ich immer verdient. Ich bin der bravste Junge der Welt.“

Mia tat, als ob sie sich verschluckte. Wir ordneten unsere Kleidung und liefen runter in die Empfangshalle. Mutter kam gleich auf mich zu und musterte meinen Anzug mit kritischem Blick. Ihr entging nichts.

„Komm, der Bürgermeister will dir guten Tag sagen und da sind noch mehr Leute, die du kennen lernen musst.“

Ich setzte mein artigstes Gesicht auf. Nach einer halben Stunde Smalltalk besaß ich so viel Naschis, dass ich einen Süßwarenladen damit hätte eröffnen können. Die Nacht mit Hubertus im Zelt war gerettet. Ich musste nur noch ein paar Flaschen Cola organisieren und überlegte, wie ich an etwas Schnaps kommen konnte. Die Getränke wurden von Dietrich und seinem jungen Kollegen Fritz ausgeschenkt. Die passten mit Argusaugen auf, dass ich nicht etwas Hochprozentiges klaute. Sogar das Bier war tabu.

Um 19 Uhr saßen alle auf ihren Plätzen. Ich war zwischen Vater und Mutter an die Spitze der Tafel platziert worden und hatte somit keine Chance an Blödsinn und Streiche nur zu denken. Hubertus saß neben seinem Vater und Beatrix, die inzwischen angekommen war, musste neben ihrer Mutter sitzen. Einen Kindertisch wie früher, gab es nicht.

Ich war allerdings von meiner Mutter instruiert worden, eine kleine Laudatio auf meinen Vater zu halten, um mich auf diese Weise den Geschäftspartnern und Honoratioren der Gemeinde als Erben vorzustellen. Mutter berührte unauffällig meine Hand und schlug mit dem Löffel an ihr Glas. Augenblicklich wurde es mucksmäuschenstill im Festsaal.

Ich stand auf und wandte mich meinem Vater zu. Das Herz rutschte sofort in Richtung Hose. Die Buchstaben auf dem Blatt Papier, das vor mir auf dem Tisch lag, verschwammen vor meinen Augen und erinnerten mich an mein letztes Erdkundereferat. Unser Lehrer hatte uns geraten, in so einem Fall nicht an den Text zu denken, sondern den Anwesenden einfach zu sagen, wie man sich fühlt. Ein ehrliches Wort lockert auf und schafft eine familiäre Atmosphäre, meinte er. In der Schule hatte es sehr gut funktioniert. Okay, ich beschloss, den Rat zu befolgen.

„Liebe Gäste, liebe Familie und natürlich lieber Papa! Letzte Woche musste ich ein Erdkundereferat halten und ich war ziemlich aufgeregt. Das bin ich jetzt auch. Wenn ich selbst Geburtstag habe, genügt ein ‚Danke, dass ihr alle gekommen seid, ich wünsch euch ein schönes Fest und guten Appetit. ‘ Das ist heute sicher zu wenig, denn ich habe keinen Geburtstag, sondern mein Vater. Und der ist der beste Vater der Welt, jedenfalls meistens. Dad, ich hab dich lieb und ich wünsche dir alles Gute zum Geburtstag. Ein Geschenk hab ich natürlich auch für dich. Deine Reithandschuhe sind kaputt und Mum hatte letzte Woche mein Taschengeld erhöht, damit ich dir ein paar Neue kaufen konnte.“

Während die Gäste lachten, hob ich das Päckchen, das unter meinem Stuhl lag auf und gab es meinem Vater, der gerührt aufgestanden war und mich fest in die Arme nahm. Hach, das war geschafft. Meine Augen streiften die meiner Mutter. Sie sah mich durchdringend an. Fehlte noch etwas? Sie blickte zu meinem Glas, welches inzwischen mit Apfelsaft gefüllt war. Natürlich.

„Bitte nehmt jetzt alle eure Gläser und steht auf und dann singen wir das Geburtstagslied.“ Ich war noch nicht am Ende, da sangen schon alle Happy Birthday. Das Lied dauerte, die Gäste kannten Strophen, die ich noch nie gehört hatte. Meinen Vater brachten sie zum Schmunzeln. Den folgenden Applaus konnte ich für mich einheimsen. Vater meinte, dass er vor Stolz gleich platzen könnte. Hatte er damit die Urlaubsstreiche endgültig vergessen?

Im Laufe des Abends gab es viele Vorführungen und Gratulationen. Auch Beatrix brachte ein Geschenk und sagte ein Gedicht auf. Hinterher gab sie eines ihrer Liedchen zum Besten. Sie vermied es allerdings, mich dabei anzusehen, denn meine Lippen formten bereits den Spruch, den ich nur für sie gedichtet hatte. Sie kam mir später zuvor. Als der offizielle Teil vorbei war und die Ehrentänze stattgefunden hatten, konnten wir uns leger unters Volk mischen. Hubertus nahm sie in die Arme und gab ihr einen Kuss. Sie hielt mir ihre Wange hin. Ich schmatzte ihr die Lippen drauf und wollte gerade leise meinen Spruch loslassen, da knuffte sie mir in den Magen.

„Heute ärgerst du mich nicht, du ärgerst mich ab sofort überhaupt nicht mehr. Meine Mama hat mich nämlich zum Taekwondo angemeldet“, gab mir meine kleine Cousine keck zu verstehen. Oh, interessante Neuigkeiten.

„Ihr bleibt ja noch ein paar Tage. Trainieren wir zusammen und ich zeig dir ein paar tolle Tritte. Also, das heißt: Frieden auf ewig zwischen uns!“ Beatrix schlug in meine Hand.

„Frieden, und wenn du Blödsinn machen willst, sag Bescheid. Ich bin jetzt alt genug für Streiche.“

Hubertus hatte alles mitbekommen. „Schön, ihr zwei, dann wird die Tradition der Raubritter von Wildenstein ja fortgesetzt. Ich bin nun leider etwas zu alt und muss mich wie ein Erwachsener benehmen. Aber ihr beide werdet das schon machen.“

„Max“, meine Mutter zog mich mit sich. „Das ist Frau Baronin Schönefels. Sie ist Eventmanagerin und ich möchte dich ihr vorstellen.“

„Max von Wildenstein, guten Abend, Baronin.“ Ich gab ihr die Hand und verbeugte mich, wie es sich für einen jungen Grafen gehörte. Irgendwie fand ich gar nichts mehr dabei. Es war beileibe keine Dressur. Wenn ich nicht will, kann sich meine Mutter auf den Kopf stellen und die Zähne ausbeißen. Das wusste sie. Nein, ich fand unsere Festlichkeiten einfach schön und begann, die alten Traditionen und das Standesverhalten gerne zu pflegen. Allerdings nur in der männlichen Rolle.

„Na, das nenne ich aber galant. Du bist ja bereits ein richtiger Charmeur. Kannst du schon tanzen?“, fragte sie.

Das machte mich etwas verlegen. „Nein, leider nicht. Aber ich denke, meine Mutter wird mich sicher bald zum Tanzkursus in der Stadt anmelden. Ich werde demnächst dreizehn Jahre alt. Einige Mädchen in meiner Klasse sind schon dabei. Jungen, die nicht auf einem Schloss leben, halten in der Regel nicht so viel davon. Ich spiele Fußball und reite sehr gut. Wenn Sie möchten, zeige ich Ihnen die Ställe und mein Pony.“

So, die hatte ich um den Finger gewickelt und meine Mutter schien genau wie mein Vater vorhin bei der Tischrede gleich vor Stolz und Überraschung zu platzen. Auf diese Weise hatte ich einige Pluspunkte eingeheimst und war auf der sicheren Seite. Man konnte nie wissen, wofür so etwas gut war. Ich gehörte nicht gerade zu den Unschuldslämmern. Die Baronin schien begeistert.

„Gerne, ich reite auch. Allerdings Dressur und ich war ein paarmal bei den Deutschen Meisterschaften dabei. Ein guter Freund von mir managt das Internationale Turnier in Aachen. Warst du schon einmal da?“ Hui, die hatte tatsächlich Ahnung und war mir sofort sympathisch.

„Nein, aber das wäre im Herbst mal ein schöner Ausflug. Da muss ich mit meinem Vater sprechen. Er sucht die Turniere für uns aus und hat mir versprochen, dass wir irgendwann nach Hamburg zum Derby fahren. Ich muss dort immer zum Arzt.“

Ich zeigte ihr den Weg über einen Verbindungsgang vom Schlossgebäude zum Stall.

„Gibt es hier richtige Geheimgänge?“, fragte sie. „Du darfst übrigens Maren zu mir sagen. Reiter sollten sich duzen.“

„Schön, ja, es gibt mehrere Geheimgänge. Einige davon kenne ich, aber zwei sind nur auf der Karte eingezeichnet und nicht mehr zu finden. Die ursprüngliche Burg ist im achtzehnten Jahrhundert abgebrannt und beim Wiederaufbau hat man sie sicherlich zugeschüttet. Wir haben auch zwei Schlossgespenster. Aber du bleibst heute Nacht nicht hier, sonst könntest du sie kennen lernen.“

„Oh, wie schade. Ich schlafe im Hotel, weil ich morgen früh ganz schnell nach Düsseldorf muss. Ich richte Sport- und Musicalevents aus. In Hamburg betreue ich den König der Löwen. Soll ich euch Karten besorgen?“

Wir waren vor Chesters Box angekommen. „Ja, das wäre toll. Und hier ist Chester, mein bester Freund.“

Wow, da hatte sich das gute Benehmen mal gelohnt. Wenn wir eine Nacht in Hamburg blieben, könnten wir den nächsten Termin bei Herrn Reimers dazu nutzen. Maren entpuppte sich wirklich als ganz Nette. Sie erklärte mir die Hilfen bei verschiedenen Dressuraufgaben, aber Chester war zur hohen Schule nicht zu bewegen. Solange er springen konnte, machte er willig mit. Dressur war nicht sein Ding. Ich überlegte, wie alt Maren wohl war. Sie sah jünger aus als meine Mutter. Die hatte im letzten Jahr ihren fünfundvierzigsten Geburtstag gefeiert. Daran erinnerte ich mich noch sehr gut. Mir war nämlich der volle Bowlentopf vom Tisch gefallen, als ich heimlich versucht hatte, mir ein Glas davon einzuschenken. Das war ein Aufstand gewesen.

Nach dem Rundgang verabschiedete ich mich von Maren. Es war mittlerweile elf Uhr. Ich spürte meine Müdigkeit und konnte ein Gähnen nicht unterdrücken.

Vater kam, brachte mich noch zu zwei Geschäftspartnern und stellte mich einem Politiker vor, der im bayerischen Landtag saß. Nach dieser Pflicht fragte er, ob ich mich verabschieden wollte. Ich bejahte und wurde mit großem Applaus und vielen Gutenachtwünschen ins Bett geschickt.

Beatrix lag schon im Tiefschlaf im Nebenzimmer, als ich mich auszog. Einen Moment später kam Hubertus ‘rauf. Er hatte zwei Flaschen Bier dabei und grinste.

„Es geht doch nichts über ein schönes Wildensteiner Pils.“ Lachend schob er sie ins Zelt.

„Ich putz nur schnell Zähne, Hubi. Danach erzählst du mir alles über Mädchen. Darüber weiß ich nämlich noch gar nichts oder besser gesagt, nicht viel“, sagte ich.

Ich fühlte mich wie ein Mann, als wir unsere Bierflaschen aneinanderschlugen. Der bittere Biergeschmack begann mir langsam zu gefallen. Ich hatte bereits klamm heimlich ein paar Flaschen für meine Kumpels und mich aus unserer Brauerei gestibitzt. Leise erzählte ich Hubertus von dem alten Bootshaus am See, in dem wir uns immer trafen, wenn wir etwas aushecken wollten. Meine erste Zigarette hatte ich dort geraucht. Wir beschlossen, morgen im Lauf des Tages hinzugehen und Vaters alter Segeljolle einen Besuch abzustatten. Als ich Hubertus nach seinen Erfahrungen mit Mädchen fragte, zeigte er mir seine neue Freundin auf dem Handyfoto.

„Habt ihr schon geknutscht und mehr?“ Hubi grinste und trank sein Bier in einem Zug aus. Er nahm meinen Laptop und gab mir sein Passwort für eine Website, auf der er sich angemeldet hatte.

Die erste richtige Aufklärungsstunde als Junge konnte nicht besser gelaufen sein. Bei Männern funktionierte das einfach anders. Da nahm der Vater den Sohn in der Regel erst zur Seite, wenn der durch Freunde, ältere Brüder oder Vettern bereits informiert war und im Grunde mehr wusste als der Vater. Es wurde ein toller Abend und eine ebensolche Nacht. Das Bier machte müde. Irgendwann schlief ich leicht benebelt ein.

Mia weckte uns am nächsten Morgen und fand… die Bierflaschen. Entsetzen machte sich breit. Doch sie verzog nur das Gesicht, sammelte die beiden Flaschen schnell ein und drohte mir mit dem Finger. Ich wusste, sie würde dicht halten. Auf Mia war immer Verlass.

Die ganze Familie genoss das Frühstück am großen Tisch. Stimmungsmäßig waren vor allem meine Eltern aufgekratzt. Alle Gäste, die bei uns geschlafen hatten, lobten das gelungene Fest und schwärmten in den höchsten Tönen. Onkel Ludwig erzählte ihnen von unseren beiden Schlossgespenstern, die ausnahmsweise nicht aufgetreten waren. Bedauernd blickte ich zu Hubertus. Ja, das war schade. Aber wir waren diesmal zu müde gewesen um die zwei wieder zum Leben zu erwecken.

„Sie wollten den schönen Abend sicher nicht stören“, beeilte er sich zu sagen. Onkel Ludwig lächelte wissend.

„Dann werden wir uns mal auf den Frühschoppen im Weinkeller freuen. Und heute Nachmittag sind hoffentlich die obligatorischen Besichtigungen der gräflichen Spirituosenbetriebe vorgesehen?“, fragte er augenzwinkernd meinen Vater, der auf die Frage gewartet hatte und schmunzelte.

„Aber sicher, frühstückt gut und schafft euch eine feste Unterlage“, kam seine prompte Antwort.

Mein Vater war sehr stolz auf unser Unternehmen. Augenblicklich sprachen alle durcheinander und wollten mehr über den geplanten Tagesablauf wissen. Das kam uns ebenso gelegen wie das Büfett. Jeder konnte aufstehen und sich nehmen. Meine Eltern waren mit den Gästen beschäftigt. Es wird niemandem auffallen, wenn wir uns aus dem Staub machen. Hubi warf mir einen aufmunternden Blick zu. Jetzt oder nie.

Während die Schlacht am kalten Büfett durch die Erwachsenen weiter tobte, standen wir rasch auf und schlichen uns gesättigt aus dem Schloss. Draußen schrieb ich SMS an Andy und zwei weitere Freunde aus dem Dorf sowie Jacob, Mario und die beiden Jungen von Dietrich: Martin und Carsten. Die zwei lebten mit ihren Eltern im renovierten Gesindehaus auf dem Schlossgelände und waren schon fünfzehn bzw. siebzehn Jahre alt.

Ich bestellte alle zum Bootshaus, sobald sie konnten. Martin schrieb gleich zurück, dass sie etwas später kommen. Sie mussten ihrem Vater helfen, der wegen der Geburtstagsgäste viel Arbeit hatte und zudem für die Parkplätze der Autos zuständig war. Als wir uns auf den Weg zum See machten, kamen uns deshalb zuerst Mario und Jacob freudestrahlend entgegen gelaufen. Sie hatten es nicht weit vom Försterhaus zum See.

„Das war eine gute Idee, unsere Eltern wollten uns nämlich schon Aufgaben verpassen, weil sie auf dem Schloss gebraucht werden. Wir sind gerade noch rechtzeitig getürmt“, rief Jacob aus.

Ein schmaler verschlungener Pfad führte einige hundert Meter durch den Wald. In der Zwischenzeit war der meiste Schnee wieder weggetaut, aber etwas Raureif umgab noch die Pflanzen am Wegesrand. Es war knapp unter null Grad und der Boden gefroren. Unser privater See lag versteckt. Ein Mischwald säumte das Ufer, welches von Schilf bewachsen war. Unter den Strahlen der Morgensonne glitzerte das ruhige Wasser. Dünne Eisplättchen schwammen darauf. Der See bot zu jeder Jahreszeit einen herrlichen Anblick. Vater wollte, dass Unterholz und die Zuflüsse sich selbst überlassen bleiben sollten. Der ganze Bereich war ein Biotop und Eingriffe in die Natur kamen für ihn nur im äußersten Notfall in Frage. So hatte sich ein wunderschönes Kleinod bilden können, welches nicht nur seltenen Pflanzen, sondern auch unzähligen Tieren einen perfekten Lebensraum bot.

Ich nahm deshalb nicht ohne Stolz den großen verrosteten Schlüssel vom Haken und schloss die Tür zum Bootshaus auf. Sie knirschte laut. Zwei Enten, die es sich in Ufernähe gemütlich gemacht hatten, schreckten auf und flatterten davon. Vaters Jolle und das alte Ruderboot lagen aufgebockt über dem Wasser, um den Winter unbeschadet überstehen zu können. Wir hatten die letzten Jahre wenig Eis gehabt und Vater ließ die Boote aus reiner Gewohnheit zur Vorsicht aus dem Wasser holen.

Jacob und Mario kletterten lachend ins Ruderboot. „Wir haben geholfen, sie aus dem Wasser zu ziehen und schon einiges repariert, Hubi. Im Sommer können wir wieder segeln“, erzählte Jacob.

„Kommst du in den großen Ferien?“, fragte Mario.

Hubertus nickte. „Ich hoffe sehr, denn ich soll Ende des nächsten Schuljahres Abi machen und etwas Erholung davor kann wirklich nicht schaden. Es ist so schön hier.“ Füße stampften draußen, als ob eine Elefantenherde auf dem Vormarsch war.

„Hallo, miteinander. Hubertus, lange nicht gesehen!“ Fröhlich nahm Martin seinen gleichaltrigen Freund in den Arm. Carsten klopfte diesem auf den Rücken. Er freute sich ebenfalls sichtlich über das Wiedersehen. Ich sprang zwei Stufen nach oben und öffnete die Tür zum angrenzenden Aufenthaltsraum. Es war kalt darin, doch als der Heizlüfter lief, breitete sich schnell wohlige Wärme aus. Jeder suchte sich einen gemütlichen Platz auf der Couch oder in den alten Sesseln, die ich vor dem Sperrmüll retten konnte, als das Gesindehaus umgebaut wurde. Dietrichs Söhne hatten einen Rucksack dabei.

„Voila!“ Carsten zog die erste Bierdose heraus und stellte sie auf den Tisch. Er spielte den Zauberer und nach jedem Abrakadabra stand eine weitere Dose daneben. Draußen polterte es erneut. Andy, Marlon und unser Torwart Frank schubsten sich gegenseitig zur Tür rein.

„Hi Hubertus, alles gut? Was sagst du zu Max? Er ist jetzt einer von uns!“ Andy grinste und gab Hubi fünf.

„Das war er eigentlich schon immer. Aber wir haben es nicht besser gewusst. Ich freu mich jedenfalls. Hemd und Hosen stehen ihm wesentlich besser als Kleider“, antwortete er.

„Ja, das stimmt. Beim Fußball hatte ich nie das Gefühl, von einem Mädchen besiegt zu werden“, erzählte Jacob lachend und boxte mir übermütig in die Seite.

Es war ein grandioses Gefühl, als Junge mit den anderen Jungen hier zu sitzen und ihnen zuzuhören, vor allem den Älteren. Sie begannen von Mädchen zu erzählen. Andys Augen quollen fast über. Ich überlegte später, ob die drei großen Jungs uns nicht einen Bären aufgebunden hatten. Konnte das alles wahr sein? Mir kamen echte Zweifel.

Um halb zwölf Uhr beendeten wir unseren Stammtisch. Hubertus und ich machten uns mit Martin und Carsten in Richtung Schloss auf. Unsere Väter hatten ihren Frühschoppen im Weinkeller gehabt und wollten am Nachmittag zur Brauerei runterfahren. Robert sollte alle mit der Kutsche dorthin bringen, damit niemand nach der Verköstigung ins Auto steigen konnte. Zu unserem Besitz gehörten neben dem Schloss und den Wäldern, ein Sägebetrieb, eine Brauerei und eine Schnapsbrennerei. Vater hatte alles von meinem Großvater geerbt, der vor meiner Geburt gestorben war. Eines Tages sollte ich das Familienimperium übernehmen.

Wenn ich Zeit hatte, begleitete ich meinen Vater zu Horst, dem Braumeister. Beim Probieren schlürfte man das Getränk in den Mund, spuckte aber danach alles wieder aus. Was für eine Verschwendung! Aber das gehörte sich so.

Hubertus und ich saßen am frühen Nachmittag bei Robert auf dem Kutschbock. Beatrix kam angerannt und ich zog sie auf meinen Schoß. Unser Familienanhang, zwei Geschäftspartner und weitere Bekannte meines Vaters tummelten sich alsbald auf dem Kutschwagen.

Meine Mutter war zu Hause geblieben. Sie wollte die Kaffeetafel herrichten und machte sich nichts aus dem schrecklichen Gelage, wie sie sich immer ausdrückte. Vater erklärte ihr stets, dass die Brennerei und die Brauerei unseren Lebensunterhalt absicherten und sie schwieg daraufhin.

Allerdings sah sie heute missbilligend, dass ich ebenfalls auf der Kutsche saß. Vater sollte unbedingt auf mich aufpassen. Er versprach es und ich versprach ihm im Stillen, dass er es nicht schaffen würde. Ich wollte nach Möglichkeiten Ausschau halten, an Trinkbares heranzukommen. Nicht für mich. Der Doppelkorn hatte viel Alkohol und schon der Geruch löste Übelkeit bei mir aus. Um den gut zu finden, musste ich wirklich noch älter werden.

Aber für Streiche war es nicht schlecht, eine geheime Quelle zu haben. Außerdem gab es viele Leute, die man damit schmieren konnte. Dass das nicht in Ordnung war, wusste ich.

Aber der Laden gehörte mir irgendwann sowieso. Warum sollte ich nicht jetzt schon von Zeit zu Zeit etwas abzweigen, wenn sich die Gelegenheit dazu bot? Dass meine Unbekümmertheit fast ein Menschenleben ruinieren sollte, ahnte ich zu dem Zeitpunkt nicht. Sonst hätte ich mich sicher eines Besseren besonnen.

Der Nachmittag war für unsere Gäste nicht nur von der alkoholischen Seite der Höhepunkt ihres Besuchs bei uns. Auch die Interessierten, die sich bei Schnaps und Bier zurückhielten, kamen voll auf ihre Kosten. Die Braumeister aus beiden Betrieben erklärten haargenau, wie aus Hopfen, Malz und Wasser Bier entstand und wie man aus Kartoffeln Schnaps herstellte. Ich wurde bei jedem Vortrag klüger und konnte sogar schon selbst einiges dazu erzählen. Beatrix und ich bekamen nur Brause, aber ich fand während der Führung, wonach ich suchte und war mir sicher, unbemerkt an Hochprozentiges kommen zu können, wenn ich es wollte.

Der Tag hatte sich gelohnt. Zumal sich Hubertus mit ein paar Bierflaschen im Rucksack eindeckte und ich wusste, dass wir diese heute Abend im Zelt tranken. Dabei konnten wir uns auf die Dinge einstimmen, die auf dem Laptop zu sehen waren.

Leider überraschte uns meine Mutter bei unserer Rückkehr mit der freudigen Nachricht, dass sich Tante Alexa bereit erklärte, etwas aus ihrem Opernrepertoire zum Besten zu geben. An Abhauen war also für Hubertus und mich vorerst nicht zu denken. Wir mussten uns notgedrungen einige Arien anhören.

Hubertus hatte Glück, denn er durfte offiziell schon Wein und Bier trinken. Aus harten Sachen machte er sich nichts. Allenfalls in Verbindung mit Cola, die Beatrix und ich erhielten, wobei meine kleine Cousine viele Säfte von ihrer Mutter bekam. Die sind gesünder als Cola, meinte Tante Alexa. Einige Erwachsene erklärten, dass Bier ebenfalls gesund für die Nieren wäre. Die Diskussion wurde lautstark den halben Abend geführt und immer leidenschaftlicher, je mehr Bier floss.

Irgendwann witterten Hubertus und ich unsere Chance. Beatrix half uns ungewollt. Sie wurde sehr müde und musste um halb zehn Uhr ins Bett gebracht werden. Hubi und ich begleiteten sie und schlichen uns danach in mein Zimmer.

Am übernächsten Morgen war der schöne Spuk Geschichte. Um halb Eins fuhren die letzten Gäste nach Hause. Ich drückte Hubertus zum Abschied. Er versprach, in den Sommerferien ein paar Tage Urlaub bei uns zu machen. Beatrix musste auch wieder mit ihren Eltern zurück.

Einzig Oma blieb. Sie hatte zwei Wochen Ferien bei uns eingeplant und wollte mal wieder richtig mit Mum quatschen. Toll! Ich hatte in den letzten zwei Tagen kaum Zeit für Oma gehabt und freute mich auf ihre Geschichten. Sie nahm mich an die Hand. Wir gingen wieder ins Haus, nachdem das Auto mit Beatrix den Schlosshof verlassen hatte.

„So, Maxi, jetzt wollen wir beide es uns gemütlich machen. Aber erst einmal helfen wir der Mama, alles in Ordnung zu bringen.“ Mia, meine Mutter und die Köchin packten in der Küche Speisen und Getränke ein, um sie in die Gefriertruhen und Speisekammern zu lagern. Der Festsaal musste aufgeräumt werden, ich trug Stühle in die oberen Räume und half Dietrich, die Tische wieder ordentlich zusammenzuschieben.

Am Nachmittag saßen wir alle im Wohnzimmer. Der Kuchen schmeckte jetzt am nächsten Tag noch viel besser und ich langte ordentlich zu.

„Max“, fragte Oma. „Willst du wirklich wie ein Junge leben? Hast du keine Angst vor der Operation, das wird doch bestimmt wehtun?“ Ich schüttelte energisch den Kopf.

„Nein, Oma, ich hab gar keine Angst. Ich bekomme ja eine Narkose und selbst, wenn nach der Operation noch Schmerzen da sind, will ich die gerne aushalten. Ich bin ein Junge und ich möchte so leben und von anderen Menschen wie ein Junge behandelt werden.“

Oma seufzte tief. „Was es heute alles gibt. Das war zu meiner Zeit nicht möglich, Adelheid. Damals wären solche Kinder weg gekommen und man hätte nie wieder etwas von ihnen gehört. Weißt du, Max, wir mussten noch gehorchen. Unsere Eltern waren sehr streng und die Regierung auch.“

Ich hing an Omas Lippen. Wir hatten gerade in der Schule vom zweiten Weltkrieg und von Hitler gehört. Da waren viele furchtbare Sachen passiert.

„Unser Lehrer hat berichtet, dass sie die Juden umgebracht haben“, konnte ich deshalb erzählen.

Oma nickte sehr traurig. „Nicht nur die, mein Kind. Alle, die nicht ins Regime passten, kamen in Konzentrationslager und wurden dort gequält und getötet. Wenn ich es so bedenke, ist es gut, dass wir den Krieg verloren haben. Nur unser schönes Schloss ist weg. Weißt du, als ich so alt war wie du, da sind wir…“

Ich hörte Oma zu und legte mich lang aufs Sofa. Mum schmunzelte. Sie nahm ihr Strickzeug in die Hand. Draußen hatte es zu schneien angefangen und hier bei uns knisterte ein helles flackerndes Feuer im Kamin. Oma erzählte und erzählte. Irgendwann schlummerte ich vor mich hin und träumte von Ostpreußen, von den masurischen Seen und von Pferdeschlitten.

Omas Gut muss riesig gewesen sein. Tante Alexa wollte mit ihr dorthin fahren. Es war seit langem möglich. Aber Oma lehnte das immer ab. Sie wollte ihr Zuhause in Erinnerung behalten, wie es damals war, als sie Hals über Kopf mit dem Pferdewagen fliehen musste. Es war sehr kalt gewesen im Winter 1945.

Ich malte mir aus, wie ich mich fühlen würde, wenn Mama plötzlich käme und mich ins Auto packte und wir unser Schloss für immer verlassen müssten. Oma tat mir unendlich leid. Und ich beschloss, was ich ohnehin stets tat, sehr brav bei ihr zu sein. Wie werde ich einmal denken, wenn ich fast neunzig Jahre alt bin? fragte ich mich.

In den nächsten Tagen zog der Winter wieder richtig ins Land. Robert brachte mich mit dem Pferdeschlitten zur Bushaltestelle. Auf dem Weg dorthin hielten wir am Försterhaus an und nahmen Jacob und Mario mit. Der Schlossteich war zugefroren. Papa erlaubte uns darauf Schlittschuh zu laufen. Er kam oft am Nachmittag und spielte mit uns und den Stallburschen Eishockey. Die Großen tranken Glühwein, den Mia ihnen aufs Eis brachte und wir Kinder bekamen heißen Kakao.

Ende der Woche hieß es im Wetterbericht, es würde noch mehr Schnee fallen. Das konnte uns nur recht sein. Bislang schaffte es der Schulbus nämlich immer noch. Aber am Montag kam die erlösende Nachricht durchs Radio: Endlich schneefrei! Zwar blieb dabei das Fußballhallentraining auf der Strecke und zum Kampfsport konnte ich ebenfalls nicht kommen. Aber die Reitstunden fanden in unserer eigenen Reithalle statt und liefen wie gewohnt weiter. Mit Jacob und Mario baute ich Unmengen Schneemänner in den Schlosshof.

Anfang März war das herrliche Wetter allerdings vorbei und alles normalisierte sich, nachdem der Schnee abgetaut war. Wir bereiteten uns mit dem Pfarrer auf unsere Firmung vor. Sie sollte am 2. Mai stattfinden. Der Pfarrer war eigentlich ganz okay. Er bestand nur auf Anwesenheitspflicht. Wir mussten regelmäßig am Sonntag zur Messe und in die Beichte kommen, doch der Unterricht war nicht so schlimm wie bei Pfarrer Lüders. Ich sollte oft als Messdiener helfen und hatte mich dafür mit Andy zusammengetan.

Der neue Pfarrer war mit seiner Haushälterin, einer ältlichen dicken Frau namens Mathilde ins Pfarrhaus eingezogen. Mathilde kochte sehr gut und wir beobachteten sie, wenn sie in die Kirche ging und aus dem Schrank, in dem der Messwein aufbewahrt wurde, die angebrochenen Flaschen herausnahm. Sie kippte das meiste davon in das Essen für den Pfarrer, trank aber immer ein Gläschen beim Kochen.

Andy und ich waren uns einig. Da musste etwas getan werden. Der Weinschrank stand offen, so kamen wir ungehindert dran. Ich hatte eine Idee. Andy und ich identifizierten uns gerne mit Max und Moritz. Die gute Mathilde sollte merken, welche Wirkung Wein haben konnte.

Es war ganz einfach. Ich fuhr in die Schnapsbrennerei und tat so, als ob ich meinen Vater suchte. Außerdem kümmerte sich dort eh niemand um mich, ich war ja der Junior. Manchmal gingen Flaschen kaputt und der Schnaps wurde in einem gesonderten Bottich zur Vernichtung aufbewahrt.

Die Frauen, die an der Abfüllmaschine standen, durften nicht raus. Das hatte steuerliche Gründe, denn der Schnaps musste vom Zoll mit einer Plombe verschlossen werden. Sie nahmen sich oft eine Wanne davon aus dem Bottich mit in ihren Aufenthaltsraum, der ebenfalls während der Arbeitszeit nur von innen zugänglich war, und badeten ihre Füße darin. Das kühlt schön und durchblutet die Füße, hörte ich sie sagen.

Die vollen Wannen blieben nach der Pause im Aufenthaltsraum stehen. Ich hatte mir eine Brauseflasche mit heller Zitronenlimo eingesteckt und zeigte sie dem Zöllner, als ich ins Innere der Fabrik ging. Auf dem Klo kippte ich den Rest, den ich nicht ausgetrunken hatte, weg. Die Flasche füllte ich mit dem Schnaps aus der Fußwanne, nachdem die Frauen wieder an die Arbeit gegangen waren. Unbekümmert zeigte ich dem Zöllner meine Flasche vor. Der drohte mir mit dem Finger, weil er glaubte, ich wollte ihn veräppeln.

Andy wartete schon in der Sakristei. Schnell präparierten wir die angebrochenen Weinflaschen zusätzlich mit 38 prozentigen Doppelkorn.

Am Sonntagmorgen achteten wir darauf, dass nur erwachsene Helfer den Wein in den Kelch für den Pfarrer füllten oder er dies selbst tat. Andy und ich machten uns fast in die Hose, als er seelenruhig seinen Wein austrank und an seinem Minenspiel sahen wir, dass es ihm allem Anschein nach mundete.

Igitt, da hatten sich die Frauen die Füße drin gebadet. Aber vor allem wurde der Wein dadurch sehr alkoholisch. Der Pfarrer hielt sicher ein gutes Mittagsschläfchen. Mathilde nahm die angebrochene Flasche gleich zum Ablöschen ihres Schweinebratens mit. Wir feixten nach der Messe.

Das Ganze ging zwei Wochen gut. Dann passierte ein Unglück, dass mich sehr nachdenklich stimmte und mir die Freude an den Jungenstreichen von Max und Moritz abrupt nahm.

Der Pfarrer hatte die Messe erfolgreich hinter sich gebracht, den köstlichen Fußwein genossen und noch eine Ladung Alkohol zusätzlich mit der Soße seines Sonntagsbratens abbekommen. In der Mittagsstunde läutete das Telefon. Der Bauer Alois Görges war dran. Sein neunzigjähriger Vater Johannes lag im Sterben und verlangte nach dem Pfarrer. Dieser zögerte nicht lange, packte sich alles ein, was er für das Sterbesakrament brauchte und setzte sich angetrunken ins Auto. Er hatte seiner Meinung nach nur ein halbes Glas Wein gehabt.

Der Hof lag in einem Tal. Die einzige Straße, die hinein führte, war sehr kurvenreich und man konnte nicht schnell fahren. An der Kreuzung zum Nachbargehöft ging es einige Meter den Berg hinunter. Zu Anfang lief alles gut. Der Pfarrer wunderte sich nur, dass seine Fahrweise etwas rasanter als sonst war.

An der Kreuzung kam ihm ausgerechnet Florians Vater entgegen. Flo ging in meine Parallelklasse und sein alter Herr benutzte den Weg über die Sackgasse des Stadlerhofes stets als Abkürzung. Er durfte durch den Wald fahren, denn Flos Vater war bei der Polizei in der Kreisstadt. Er kam also mit dem Polizeiauto den Berg hochgeschossen, der Pfarrer von der anderen Seite und beide entschieden sich für den Crash, weil sie nicht abstürzen wollten. Hochwürden fuhr viel zu weit links, so dass Flos Dad tatsächlich nicht mehr ausweichen konnte.

Als geübter Wachtmeister roch er den Braten sofort. Herr Pfarrer musste pusten und ging mit 1,2 Promille aus der Nummer heraus. Er beteuerte immer wieder, nur ein halbes Glas Wein getrunken zu haben. Aber das hatte wohl gereicht. Hätte irgendjemand die leere Weinflasche untersucht, wäre unser Doppelkorn aufgeflogen. Jedoch der Pfarrer gab den Führerschein freiwillig ab, bekam eine Geldstrafe und Fahrverbot für ein paar Monate. Er nahm alles auf sich.

Andy und meine Wenigkeit saßen nach dem Vorfall total bedeppert im Bootshaus. Das hätte schlimm enden können! Was, wenn den beiden etwas passiert wäre? Die Aktion Schnaps im Messwein fand ein jähes Ende.

Ich schlief sehr schlecht in den folgenden Tagen und hatte einen Termin bei Doktor Reimers. Mir fehlte der Mut um es ihm zu erzählen. Er merkte während unseres Gesprächs, dass ich druckste und fragte nach. Ich sagte, dass es nichts mit der Behandlung zu tun hat. Meine Eltern bekamen etwas mit und Andys ebenfalls. Wir schwiegen.

Ich spürte erstmals im Leben Angst vor meinem Vater. Das schlechte Gewissen zog mich geradewegs in die Kirche. Ich kniete vor meinem alten Kumpel Jesus und fing unvermittelt an zu heulen. Andy kam dazu und der Pfarrer ahnte, dass irgendetwas bei uns zweien völlig aus dem Ruder gelaufen war. Er brauchte nicht viel sagen, wunderte sich lediglich, dass Andy und ich gemeinsam zu ihm in den Beichtstuhl wollten.

Als wir unser Gewissen erleichtert hatten und ihn mehrfach unter Tränen um Verzeihung baten, heulte auch er. Wir bekamen die Absolution und knieten hinterher alle drei vor dem Kreuz. Der Pfarrer tat etwas total Verrücktes. Er dankte dem Herrn, dass wir so gute Kinder waren. Ich verstand die Welt nicht mehr und Andy schielte ungläubig zu ihm hin. Wir warteten auf unsere Buße, so was wie ein paar Ave Maria oder sogar Rosenkränze. Aber der Pfarrer hatte eine bessere Idee.

Der Pfarrgarten sah wüst aus und musste dringend auf Vordermann gebracht werden. Schon im Hinblick auf unsere Firmung, zu der der Bischof kommen würde. Allein war das für den Pfarrer nicht mehr zu schaffen. Er fragte, ob wir ihm helfen wollten. Hatten wir eine andere Wahl?

In der nächsten Woche trafen wir uns regelmäßig zwei bis drei Stunden am Tag und wühlten uns durch Gestrüpp, schnitten Äste ab, gruben um und legten für Mathilde Gemüsebeete an. Unser Engagement sprach sich im ganzen Dorf schnell herum. Alle fanden lobende Worte für uns. Nur mein Vater und meine Mutter hielten sich zurück. Das Beichtgeheimnis interessierte sie dabei herzlich wenig. Sie ahnten, dass ich etwas Ungewöhnliches angestellt hatte und die Hilfe alles andere als freiwillig war. Doch sie behielten es für sich. Ich hörte einmal zufällig, wie meine Mutter rätselte und mein Vater antwortete: „Liebling, sei besser froh, dass du es nicht weißt!“

Kurz vor meiner Firmung feierte ich endlich meinen dreizehnten Geburtstag. Hubertus kam natürlich und schenkte mir einen besonderen Kalender fürs Bootshaus.

Es gingen nun enorme Veränderungen mit mir vor. Ich wuchs und spürte Schmerzen in der Leiste. Und ich sah die Welt nicht mehr mit kindlichen Augen. Die Lust an Streichen war Andy und mir ohnehin vergangen. Andy fing plötzlich an zu kieksen. Er kam in den Stimmbruch.

Es begann eine neue spannende Zeit für uns, in der kein Stein mehr auf dem anderen blieb. Ich erlebte Andys Pubertät mit, litt mit ihm und freute mich, wenn er sich freute. Andy schwärmte für Marlies, die war aber in Thomas verknallt. Andy wollte sich im Bootshaus ertränken, weil er seine unglückliche Liebe nicht bekam. Ich konnte ihn gerade noch zurückhalten, sich mit voller Kleidung ins Wasser fallen zu lassen. Andy konnte besser schwimmen als ich. Untergegangen wäre er mit Sicherheit nicht und wir hatten zu dem Zeitpunkt bereits Ende Juni. Das Wasser im See besaß schon sehr angenehme Temperaturen.

Das kommende Jahr brach an, ohne dass ich noch irgendwelchen Blödsinn gemacht hatte. Mit den Freunden traf ich mich im Bootshaus. Mein Vater ließ sich nicht mehr blicken. Er ahnte, dass wir keine Mickey Mouse Hefte mehr lasen.

Als wir zusammen ausritten, erzählte er mir von seinem Freund Hartmut, mit dem er oft dort gewesen war. Hartmut war der Vater von Jacob und Mario und arbeitete als Förster für seinen Freund Max. Viele Erwachsene aus dem Dorf duzten meinen Vater, denn sie waren zusammen zur Schule gegangen und nicht wenige der Männer gehörten zum harten Kern des Bootshauses. Vater schmunzelte. Der alte Schuppen am See hatte Tradition in unserer Familie und diente den männlichen Nachkommen der Wildensteiner Grafen als Spielplatz in jedem Alter.

Vater berichtete, er war später mit Mädchen aus dem Dorf dort gewesen, wie seine Freunde. Es gab ein reges sich die Türklinke in die Hand geben. Mehr konnte ich leider nicht herausbekommen. Außer, dass Hartmut eine wichtige und sehr pikante Rolle im Leben meines Vaters gespielt haben musste. Dadurch fühlte ich mich ihm verbunden, wie noch nie zuvor. Er wurde für mich nicht nur zur Respektsperson, sondern vor allem zum Vorbild. Ihm nacheifern, in seine Fußstapfen treten und die Familientradition hochhalten, wollte ich.

Meine Freunde Jacob und Mario überholten mich mit ihrer männlichen Entwicklung. Es war zum Heulen. Aber nun mal nicht zu ändern. Ich hatte mir Hanteln besorgt und trainierte meinen Muskelaufbau. Dank des Taekwondotrainings blieb ich so für alle unangreifbar, die nicht Kampfsport betrieben. Ich war ständig weiter gewachsen und konnte mich größenmäßig hervorragend neben die anderen Jungen stellen. Fürs Fußballspielen gaben meine Eltern ihre Einverständniserklärung, damit ich weiterhin bei den Jungen bleiben durfte. Im Übrigen erhielt der Trainer ein Attest über meine transsexuelle Entwicklung, die der an den DFB weiterleitete. Weil ich mit spätestens Achtzehn ohnehin männliche Hormone bekam, sah man dort keine Schwierigkeiten. Die anderen Mannschaften, gegen die wir antraten, kannten mich noch aus Kindertagen.

Alles lief gut und doch, meine Freunde sprachen bereits wie Männer. Wegen meiner hohen Knabenstimme war ich noch immer ein begehrtes Mitglied im Kirchenchor. Der Kantor freute sich riesig, hatte ich doch die Musikalität meiner Eltern geerbt. Mein Vater war als Kind ebenfalls im Knabenchor gewesen.

Ich wurde Fünfzehn und klagte Doktor Reimers und Frau Michelsen regelmäßig mein Leid. Die Psychologin versuchte mich aufzumuntern und lobte meine Geduld. Doktor Reimers verstand mich und dennoch konnte er mir noch nicht helfen. Ich sollte froh sein, dass ich auf einem guten Weg war und irgendwann wäre ich Siebzehn.

Alle hatten sich gegen mich verschworen. Ich rutschte in eine tiefe Lebenskrise, hatte zu nichts mehr Lust. Selbst zum Fußballtraining musste ich mich zwingen und einige Male blieb ich einfach zuhause, schloss mich in meinem Zimmer ein und starrte in die Luft. Es ist wie ein Strudel, der einen nach unten zieht und nicht wieder loslässt. Meinen Eltern konnte ich etwas vorspielen. Sie meinten, mein Verhalten gehöre zu pubertärer Launenhaftigkeit und würde sich von selbst geben. Ich hingegen dachte manches Mal sogar daran, mich umzubringen.

Doktor Reimers war anderer Ansicht als meine Eltern. Ihm konnte ich nichts vormachen. Er diagnostizierte eine schwere Depression und erklärte mir, dass er in großer Sorge sei. Wir mussten eine Lösung finden, sonst war er gezwungen meine Eltern zu informieren. Er rief Frau Michelsen in meinem Beisein an, äußerte seine Diagnose und vereinbarte für mich einen Sondertermin in der folgenden Woche.

In München bekam ich die Kurve. Frau Michelsen fragte mich nach meinen Pferden, weil sie selbst eines besaß. Uns waren in der Vergangenheit deshalb nie die Gesprächsthemen ausgegangen. Ich erzählte ihr, dass ich von Chester auf ein Großpferd umgestiegen sei. Milla war eine sechsjährige Holsteiner Schimmelstute und bildhübsch. Ich zeigte ihr ein Foto. Wir kamen beide aus dem Schwärmen nicht heraus. Sie wünschte mir Glück für die nächsten Springturniere. Nach dem Termin bei ihr ging ich sofort in den Stall, umarmte Chester und sattelte Milla um mit ihr zu trainieren.

Zum Wochenende hatte mich mein Vater für ein Turnier gemeldet. Ich ging inzwischen M-Springen und gewann dort haushoch, wie von meinem Vater erwartet. Der erste Platz spornte an. Nach mehreren Siegen und guten Platzierungen war ich wieder ganz der Alte und sammelte Pokale.

Einige Wochen später erhielt ich Post. Es war die Einladung zur Sichtung nach Warendorf. Mein Vater platzte vor Stolz. In den Herbstferien brachte er uns mit dem Wohnmobil zum Lehrgang und blieb einige Tage dort. Was für ein Erlebnis! Wir wurden von den besten Reitern Deutschlands ausgebildet und wie Profis behandelt. Mein Selbstwertgefühl schraubte sich geradezu in astronomische Höhen und als ich Milla am Nachmittag absattelte, sah ich sie. Wir standen uns Auge in Auge gegenüber. Jeder hatte sein Zaumzeug in den Händen und ich ließ sie zuerst an den Wasserhahn.

„Ich bin Jenny“, sagte sie und ich wurde rot im Gesicht.

„Maxi, Maximilian“, konnte ich gerade noch stottern. Wir trafen uns von dem Moment an öfter, ritten zusammen aus. Ich fasste mir ein Herz und lud sie zum Eis ein. Die zwei Wochen vergingen wie im Flug. Sie kam aus Lübeck und ich lebte 180 km entfernt von München. Wie sollten wir da jemals näher zueinander finden? Wir tauschten Handynummern und Mailadressen aus. Zum Abschied küsste ich sie auf die Wange.

Zuhause saß ich mit Andy im Bootshaus und schwärmte von meiner Flamme. Er hatte auch ein Date gehabt. Aber irgendwie klappte es nicht so, wie er es sich ausgedacht hatte und Andy schämte sich vor dem Mädchen. Ich nahm ihn tröstend in die Arme.

„Eh, das passiert. Sieh mich an. Ich kann ihr noch nicht einmal sagen, dass ich gar kein richtiger Kerl bin“, erklärte ich. Andy tat mir genauso leid, wie ich mir selbst. Er lag wie ein Häufchen Elend neben mir. Ich streichelte sein Gesicht und was dann kam, hätte ich nie für möglich gehalten.

Es geschah kurz nach unserem sechzehnten Geburtstag. Andy und ich sahen uns an und wir wussten, dass wir ineinander verliebt waren. Ich spürte ein Glücksgefühl, wie ich es bei Jenny ähnlich erlebt hatte. Aber es fühlte sich noch intensiver an. Mein Freund aus Kindertagen nahm mich in die Arme und ich ließ es einfach geschehen. Ich versank in einem Meer von Zuneigung und Liebe, ließ mich hoch hinaus in die Wolken tragen. War ich nun schwul oder hetero oder beides, ich wusste es nicht mehr. Es war mir völlig egal. Andys Küsse brannten auf meinen Lippen und lösten ein Feuer aus, dass ich selbst nie würde löschen können und nicht löschen wollte.

„Max, ich liebe dich. Wahrscheinlich bin ich schwul. Ich hab nichts dagegen, wenn du mal ein Mädchen hast, aber einen anderen Jungen würde ich dir nie verzeihen“, meinte Andy ernsthaft neben mir und küsste mich zärtlich.

„Du wirst immer mein bester Freund bleiben.“ Ich meinte es ehrlich.

„Versprich es mir, so wie früher.“ Er spielte auf unsere Spiele an, als wir uns mit dem Messer kleine Schnitte beigebracht hatten um Blutsbrüder zu werden. Ich lachte und tat ihm den Gefallen. Wir legten die Innenseiten unserer Hände aneinander und unser Blut mischte sich.

Jenny schrieb mir regelmäßig. Sie liebte ich auch. In einer Nachricht schrieb sie mir, dass sie mit einer Freundin geschmust hatte und großen Gefallen daran fand. Ich erzählte ihr, dass es mir nicht anders ging und ich schwul wäre, wie sie lesbisch. Aber das würde an uns nichts ändern. Ich wollte Farbe bekennen und ihr die Wahrheit über mich sagen.

In München sprach ich Frau Michelsen darauf an. Nach dem Termin fühlte ich mich noch verwirrter und wusste gar nichts mehr. Jenny konnte zwischen den Zeilen lesen. Ich sagte es ihr am Telefon.

„Hey, das ist doch nicht schlimm. Und du wirst mit Achtzehn operiert? Das ist geil.“ Sie fand nichts dabei. „Ich hab dich immer als Jungen gesehen. Du bist garantiert kein Mädchen.“ Schön, dass sie es so sah. Ich hatte bisher noch keine schlechten Erfahrungen gemacht. Allerdings gab es die bei Jungen seltener, las ich im Internet.

Ich war einige Tage später auf Einladung von Doktor Reimers ein Wochenende in Hamburg geblieben und sollte an einem Treffen seiner transsexuellen Kids teilnehmen. Wir wohnten in einem Jugendhotel. Dr. Reimers leitete das Seminar. Es gehörten elf Jugendliche zwischen dreizehn und achtzehn Jahren zur Gruppe, neun Mädchen und nur zwei Jungen. Mit dem anderen verstand ich mich auf Anhieb und teilte mir mit ihm gleich das Zimmer. Er hieß Rene, war gerade mal Sechzehn wie ich, und erzählte, er war vor zwei Jahren von seiner Mutter zu Doktor Reimers gebracht worden. Sie hatte zwar schon im Kindesalter gemerkt, dass bei ihm in geschlechtlicher Hinsicht etwas nicht stimmte. Sorgen machte sie sich erst, als er sich am Beginn der Pubertät versuchte, das Leben zu nehmen. Entsetzt hörte ich ihm zu und sah fassungslos auf die zwei Narben an seinen Handgelenken. Rene schnitt sich die Pulsadern auf. Gott sei Dank hatte es nicht geklappt!

Fortsetzung folgt unter "Der Kindheit entwachsen"
 
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