Enge

mueckstein

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Das Schloß ist ein Loch.
– Hassan i Sabbah X.

Isabella war neun Jahre alt, als ihr zum ersten Mal das Gespenst erschien.
Obwohl sie längst über jenes Alter hinaus war, in welchem die Begriffe des Übernatürlichen als Selbst-verständlich-keit in Märchen, Sagen und der davon geprägten kindlichen Phantasie auftraten; obwohl die im gutbürgerlichen Elternhaus begonnene und in der Schule verstärkt fortgesetzte Konditionierung auf das logisch-deduktive System des sanktionierten Natürlichen und die Verdrängung und Mißachtung jeglicher irrationaler, phantastischer und übernatürlicher Notionen bereits in ihrem Kopf Fuß gefaßt hatte, war ihre bewußte Vorstellung von einem Gespenst (freilich als reine Phantasiegestalt) noch immer die eines in weiße Bettlaken gehüllten wandelnden – oder besser: dahingleitenden – Toten, der zur Mitternachtsstunde aus der Gruft erstand und seinen unglücklichen Opfern Angst und Schrecken einjagte, indem er schauervolle Verheißungen aussprach und vollstreckte und abscheuliche Nachrichten aus dem Reich der Vergangenen brachte.
Trotz alledem erkannte sie die geheimnisvolle Erscheinung, die sie wenige Wochen nach ihrem neunten Geburtstag am hellichten Tag in ihrem Schlafzimmer heimsuchte, einwandfrei als Gespenst, wenn es sich auch in einer Art und Weise bemerkbar machte, die von der genannten Vorstellung so verschieden war wie die Sonne vom Mond.
Nicht der Schatten einer Gestalt war in dem trüben Licht der Nachmittagssonne zu erkennen, das durch die beiden großen südseitigen Fenster des Zimmers hereintröpfelte und, von bodenlangen Netzvorhängen gefiltert, bewegte Muster auf den schweren Teppich zeichnete. Auch war nicht die geringste Andeutung von dämonischem Wispern zu hören, geschweige denn Kettenrasseln, Ächzen, Stöhnen oder irgendein anderes Geräusch, mit denen die Geister der dunklen Phantasie für gewöhnlich ihre Anwesenheit zu verkünden pflegten. Statt dessen schien mit einem Mal eine beklemmende Stille den ganzen Raum zu erfüllen; ein Schweigen, das mehr war las nur die Abwesenheit von Geräuschen – ja selbst die tanzenden Flecken von Sonnenschein auf dem Teppich schienen ebenso unvermittelt wie unmerklich innezuhalten; so, als hielte die ganze Welt um Isabella in erwartungsvoller Spannung den Atem an.
Die Augen des Mädchens weiteten sich in entsetztem Staunen, und sie hielt unwillkürlich in ihrem Spiel inne. Sie wußte, etwas war da und beobachtete sie; doch weder konnte sie dieses Etwas bestimmen, noch auch nur versuchen, sich mit einem Schreckenslaut bemerkbar zu machen, denn sie war von kreatürlicher Furcht gelähmt. Das Schweigen ballte sich zusammen, legte sich wie eine klamme Decke um ihr Bewußtsein und raubte ihr den Verstand.
In diesem Moment wußte Isabella, sie war einem Gespenst begegnet.

Isabellas Vater, der ehrenwerte Direktor Kolnigg, zeigte sich über die Erzählungen seiner einzigen Tochter sehr besorgt. Er ließ unverzüglich einen erprobten Nervenarzt aus dem nahen Leising kommen, mit dem schon seine Frau im Zuge der Behandlung ihrer Morphiumsucht gute Erfahrungen gemacht hatte, um diesen beunruhigenden Fall zu untersuchen und gegebenenfalls alle nötigen Maßnahmen zu ergreifen, um die psychische Integrität seiner Tochter zu bewahren.
Dr. Emmer, der Nervenarzt, nahm sich Isabella nach allen Regeln der Kunst und mit dem größten Zartgefühl vor, was darauf hinauslief, daß sich das Mädchen zähneknirschend fügte und vor dem versammelten Elternhaus mit Tränen der Verzweiflung über das Unverständnis und die Verstocktheit der Erwachsenen in den Augen widerrief – das hieß, sie gestand sich und den Eltern ein, daß das, was sie erlebt und gefühlt hatte, nichts weiter als eine Fehlfunktion ihres eigenen Körpers und Geistes war, die nichts mit irgendeiner äußeren Ursache, geschweige denn mit übersinnlichen Kräften zu tun hatte.
An diesem Tag lernte Isabella, daß Lüge und vorgespiegeltes Einverständnis alles war, was sie den fixen Ideen und repressiven Erziehungsmaßnahmen der Erwachsenenwelt entgegenzusetzen hatte.

Die Geistererscheinungen wiederholten sich mit bedrückender Regelmäßigkeit im Abstand von etwa einem Monat; doch Isabella hütete sich ab nun, ihrem Vater oder sonst jemandem davon zu erzählen, aus Angst, der Nervenarzt möge wiederkommen und sie zu einer weiteren schmerzvollen Notlüge zwingen. Auch meinte sie, sie würde bei ihrem Vater in Ungnade fallen, wenn er bemerkte, daß diese ihm unbeliebten Zustände bei ihr andauerten.

Die zweite Erscheinung erahnte sie, bevor sie kam; und doch packte sie auch dieses Mal jenes lähmende, eiskalte Grauen, das es ihr schlichtweg unmöglich machte, auch nur mit einem Augenlid zu zucken. Sie merkte, daß sie schwitzte, und ihre Hände krallten sich hilfe- und haltsuchend in den Stoff ihrer Bettdecke.
Mit dieser zweiten Erscheinung begannen die Alpträume. Nacht für Nacht fühlte sie sich von Wölfen gejagt, von unsichtbaren Klauen bearbeitet und verfolgt, wohin sie auch floh. Selbst die gemütliche Erdhöhle, die in früheren Träumen so oft ihre letzte Zuflucht gewesen war, bot ihr nun keinen Schutz mehr, sondern erschien ihrerseits als beklemmend-bedrohlicher Ort mit einem eigenen dämonischen Willen.
In der Nacht nach der dritten Erscheinung erlebte Isabella ihren bislang schlimmsten Traum: Denn nachdem ihr gepeinigter Geist die tiefsten Qualen der Hölle durchwandert hatte, fand sie sich erneut in ihrer Höhle wieder, und aus deren tiefsten Windungen schwebte ein Geist aus ihrer Kinderzeit heran; ein flatterndes Bettlaken, das über einem knochigen Körper schwach leuchtende Falten warf. – Beinahe hätte Isabella, als sie dieses Wesen sah, vor Erleichterung aufgeseufzt; denn im Vergleich zu dem unfaßbaren, sich allem Erkennen entziehenden Grauen, das sie nun bereits dreimal heimgesucht hatte, erschien ihr diese Gestalt als geradezu gütig und auf seltsame Weise bannbar.
Doch noch hatte sie ihre Botschaft nicht gehört.
Die Stimme des Wesens war erwartungsgemäß brüchig, halb flüsternd, und geheimnisvoll hallend wie in einer steinernen Gruft, doch mochte diese Tatsache Isabella in ihrer Erleichterung noch bestärken, so waren es seine Worte, die ihr ein Grauen einflößten, das zumindest von der Stärke des Unsichtbaren, wenn auch von einer völlig anderen Qualität war.
Wenn du schläfst, beobachten sie dich, hauchte ihr das Gespenst ins Ohr, und wenn du stirbst, haben sie dich in ihren Klauen . . .
Endlich gelang es Isabella, zu schreien, und schweißgebadet erwachte sie aus dem Traum: Sie lag in dem großen, weichen Bett in ihrem Zimmer, und der bleiche Mond lugte durch die Fenster herein.

Direktor Kolnigg sah mit wachsender Besorgnis, wie sich die gesundheitliche Lage seiner Tochter zusehends verschlimmerte. Sie wurde immer bleicher und sah stets übernächtigt aus, vermochte sich nicht recht zu konzentrieren und war kaum noch dazu zu bewegen, irgendetwas außerhalb ihres Zimmers zu unternehmen. Langwierige Gespräche mit ihr führten zu nichts als den immer gleichen Antworten: Ja, sie hatte schlecht geschlafen, und nein, es lag ganz bestimmt nicht am Bett oder an sonst etwas in ihrem Zimmer. Ja, sie nahm regelmäßig die von Dr. Emmer verschriebenen Medikamente, und nein, sie wollte sich auf keinen Fall in ärztliche Behandlung geben. Auf Emmers Befragungen reagierte sie mit Trotz und Tränen, und alle anderen Psychologen, Ergonomiker und Wünschelrutengänger, die der verzweifelnde Vater herbeirief, vermochten keine Begründung für Isabellas geheimnisvollen Verfall finden. Schließlich rang sich Isabella dazu durch, ihrer Mutter gegenüber Andeutungen in Bezug auf die Träume und Geistererscheinungen zu machen; doch die besorgte Dame reagierte nur mit Kummer und Unverständnis und hielt ihren Schützling an, auf keinen Fall den Vater mit diesem Unsinn zu belasten und diese abscheulichen Phantasien doch endlich fortzuwerfen. Wie Emmer bereits einmal angedeutet hatte, war sie der Meinung, das Kind litte an einer unangenehmen, wenn auch vorüber-gehenden Depression und versuche in ihrem kindlichen Aberglauben, die Schuld dafür von sich weg auf böswillige übernatürliche Kräfte zu verschieben und sich damit gleichzeitig noch wichtig zu machen – eine Tendenz, die im Zuge der intellektuellen Fortentwicklung und der Sittlichkeitserziehung um jeden Preis bereinigt werden müsse, wie die Mutter meinte. „Schlag dir diese Flausen aus dem Kopf, bevor es Papa tut“, war daher neuerdings ihr Leitspruch in allen diesbezüglichen Gesprächen mit der Tochter.

Nicht lange nach der vierten Erscheinung kam eine der Putzkräfte entsetzten Blickes in Direktor Kolniggs Arbeitszimmer gestürzt. Sie habe einen Schaden entdeckt, berichtete sie atemlos, im Zimmer der jungen Dame – eine Vertiefung in der Wand hinter dem Vorhang, wo der Mörtel abgeschlagen und selbst ein Stück der darunterliegenden Ziegelmauer beschädigt sei; und all dies sei offenbar mit dem Blatt einer alten Spielzeug-schaufel verrichtet worden, welche sie unter dem Kopfpolster des Kinderbettes verborgen gefunden hatte . . .

Dahingehend befragt, brach Isabella endlich ihr schützendes Schweigen und erzählte in einer Kaskade aus Tränen, unzusammenhängenden Gedankenfetzen und unverständlichem Geschluchze alles, was ihr seit der ersten Begegnung mit dem Grauen an Schrecklichem widerfahren war: Wie sie vergeblich alles versucht hatte, um den unsichtbaren Bedränger zu bannen und ihm Widerstand zu leisten; wie sie nach der unheimlichen Prophezeihung nicht mehr zu schlafen gewagt hatte aus Angst vor dem schweigenden Beobachter; und wie sie, einem unerklärlichen inneren Drang folgend versucht hatte, ein Loch zu schlagen, um auszubrechen.
Am Ende ihrer Erzählung, nachdem ihre Eltern und Dr. Emmer einige Minuten lang mit ungläubigem Entsetzen in den Augen auf den nun zusammengesunkenen, von wildem Schluchzen gebeutelten Körper des Mädchens gestarrt hatten, richtete sich Isabella plötzlich auf, erstarrte, als lausche sie auf etwas, das die menschlichen Sinne überstieg, und deutete dann mit glasigem Blick auf das große Küchenmesser, das hinter den Erwachsenen auf der Anrichte lag. „Das Messer“, sagte sie, und ihre Stimme nahm einen eigentümlich fordernden Klang an. „Vater, das Messer! Nimm es und – töte mich –“ Und wieder brach sie schluchzend zusammen.

Die entsetzten Eltern kamen mit Dr. Emmer überein, daß Isabella für die Nacht ein mildes Beruhigungsmittel verabreicht werden sollte; und unter Tränen gab Direktor Kolnigg sein Einverständnis für Isabellas zeitweilige Aufnahme in eine für die Effizienz ihrer Behandlungsmethoden bekannte Nervenklinik, wo sich Dr. Emmer als Chefarzt der beklagenswert jungen Kranken natürlich besonders annehmen würde. – Doch als der Arzt wenige Minuten nach Mitternacht auf leisen Sohlen das Kinderzimmer betrat, um sich des körperlichen Wohlergehens seiner Patientin zu vergewissern, mußte er zu seinem Schrecken feststellen, daß Isabella verschwunden war! – Und durch ein Loch in der Wand unter dem Fenster zog der Wind herein mit schaurigem Heulen.

Unverzüglich wurden Direktor Kolnigg, seine Frau sowie das gesamte Dienstpersonal geweckt, die Polizei und die Nachbarn alarmiert und die Suche nach der Verschwundenen eröffnet. Unter Führung des vor Schrecken und Sorge halb wahnsinnigen Vaters begannen dessen Frau und Dr. Emmer, den gesamten Hintergarten zu durch-kämmen, bis der Arzt im Schein der Taschenlampe auf eine deutliche Fußspur stieß, die von dem Mauer-durchbruch weg hinauf in den dichten Nadelwald führte, der sich über die gesamte Schulter des Berges erstreckte, an dessen Fuß die Villa der Kolniggs lag.
Die Fußstapfen führten die Suchenden an einem dünnen Rinnsal entlang den Hang hinauf. Frau Kolnigg stieß einen unterdrückten Schmerzenslaut aus, und auch ihr Mann sog erschrocken die Luft ein, als sie auf unübersehbare Blutspuren stießen, wo sich das nur mit einem dünnen Nachthemd bekleidete Kind an den Dornenranken die Beine aufgerissen haben mußte. Hie und da im Gebüsch verstreut leuchteten ihnen jetzt auch weiße Zeichenblätter entgegen, von der Sorte, wie sie Isabella von Zeit zu Zeit für ihre künstlerischen Ergüsse zu verwenden pflegte; und einmal hing gar ein großer Fetzen ihres Nachthemds mondbleich flatternd in den Dornen.
Endlich fanden sie Isabella, an der Quelle des Rinnsals in einem kleinen Erdloch versteckt, das sie sich offenbar mit wunden Fingern selbst in den lockeren Waldboden gegraben hatte. Rund um ihre zusammengekrümmte Gestalt verstreut lag ein kompletter Satz Buntstifte sowie weitere Zettel, auf die mit unruhiger Hand sinnverwirrende Bilder gekritzelt worden waren – ein letzter verzweifelter Versuch, etwas ins Bild zu bannen, das weder mit den Augen noch mit dem Verstand zu erfassen war.

Die Mutter schluchzte leise, als Emmer neben dem Mädchen niederkniete, um mit versteinerter Miene zu bestätigen, was längst niemand mehr zu bezweifeln gewagt hatte: „Sie ist tot.“
 

flammarion

Foren-Redakteur
Teammitglied
zu

erst einmal herzlich willkommen auf der lupe. eine tolle geschichte hast du da geschrieben, ergreifend, fantastisch und schaurig. dein stil gefällt mir. man liest sich!
 



 
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