engelskonzert (gescheiterter Beitrag einer "Nacht"-Ausschreibung)

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G

Gelöschtes Mitglied 15780

Gast
engelskonzert


die kinder zeigten mir über maria den felsen
sie nannten ihn vulkan und ich sah diese gläsern

geriefte seepocke unter dem qualm aus gebrochner
silizium phosphor schwefel chlor argonautik

das ist allal che mystisch: strahl der gesetze
der si na i ! ? – dort hält die mutter den säugling

erlöser gott in ihren armen der liegt auf
zerrissenen windel fetzen und lacht wie sie lächelt

da ist wohl tag doch links aus dem tempel der nacht quillt
ein grünes lied für die frucht aus der rosenrock blüte
 

Tula

Mitglied
Hallo Hansz
Manchmal beneide ich dich um deine Fähigkeit, dir hier erbarmungslose Feinde zu schaffen :)
Auf die Ergebnisse der 'Nacht-Ausschreibung' bin ich ebenfalls gespannt.

Zum Gedicht: ich denke bei S1 und S2 an Sizilien, so etwas wie eine Urlaubserinnerung (?), wobei mich der Sinai dann verwirrt. Insgesamt ein poetisch-schönes Bild, da nehme ich in Kauf, sicherlich nicht alles verstanden zu haben, insbesondere den abschließenden Vers.

LG
Tula
 
G

Gelöschtes Mitglied 15780

Gast
Du traust mir zuviel zu, Tula,

ich habe mir den Feind nicht geschaffen, er hat sich in mir einen schaffen wollen. Aber Wollen ist nicht gleich Gelingen.

Das Ergebnis der Ausschreibung ist: Ich gehöre nicht einmal zu den 30 Erwählten, die auf der Shortlist standen und ihren Beitrag veröffentlicht sehen werden.

Der Bildbezug liegt eigentlich auf der flachen Hand: Es ist das "Engelskonzert", das in der Oper Mathis der Maler von Hindemith musikalisch entfaltet worden ist, das heißt: Die Weihnachts-Seite des Isenheimer Altars, "Das Engelskonzert" schlechthin.

Aber ich wollte das erstaunliche Bild natürlich nicht auf der flachen Hand liegen lassen, sondern habe es mir schon oft genau und genauer angeschaut. Deshalb ist es auch in den 12 Körben präsent. Mit der vulkanischen Seepocke und der umgekehrten Rosenrock-Blüte.

Nein, ich schaffe mir nicht diese Dauer-Eins-Bewerter. Ich wüßte auch nicht, wie ich das tun sollte, es sei denn, ich schriebe absichtlich schlechte Gedichte. Aber das passiert mir ganz von alleine: Ich halte sie für meine besten, und sie sind nur einen Punkt wert. Oder einfach ohne Bewertung, bleiben kommentarlos, landen auch bei keinem Wettbewerb, finden nur vergleichsweise kleine Leserzahlen. Nein, ich schaffe mir diese Dauer-Eins-Bewerter nicht.

grusz, hansz
 
G

Gelöschtes Mitglied 15780

Gast
Dankeschön, Molly, und noch einmal Danke Dir, Tula!

In der alten Leselupe war es verpönt, seine eigenen Gedichte zu erklären. Aber ich vermute, einige wesentliche Hinweise können helfen.

Zwei Ebenen kann man unterscheiden: die Bildbeschreibung des unmittelbaren Sehens ohne zuviel Deutung, wo die Beschreibung keine Rücksicht auf "Absichten" des Malers legt. Metaphern der Beschreibung, die sich vom "Thema" fernhalten: Dann dürfen "die kinder" in dem zur Ikone vergriffenen Bild den bläulichen Berg mit seinen Riefen einen Vulkan, eine Seepocke usw. "sehen", denn das ist so etwas wie der erste, zweite, dritte Blick. Natürlich beginnt damit schon die Deutung, denn "vulkanisch" erscheint jedem, der sich an den religiösen Zusammenhang erinnert, der mosaische Sinai, - die Kinderdeutung öffnet die theologische, warum denn über der Mutter mit Kind dieser zugleich luftig-transparente wie vulkanisch-schroffe Berg aufragt, über dem sich der Himmel öffnet.
Und schon im ersten, zweiten, dritten Blick werden die Farben auffällig. Mathis und die Farben. Irgendein Schelm von Autor, Icherzähler, Lyri, hat da eine Zeile aus dem Periodensystem der Elemente hineinzitiert und sogar das Edelgas am Ende noch mit einem griechischen Mythos verkoffert (Argon => Argonautik), Aber dieses Lyri sucht einen Zusammenhang vom Dekalog-Vulkan zum Erlöser auf dem Schoß der Gottesmutter.

Und in der Pointe der Schlußklausel die Frage, die wohl jeder der Millionen Betrachter des berühmten Engelkonzertes hat: Was ist das in der linken Bildhälfte für eine Nacht, die sich simultan auf die Tagesszene rechts bezieht? Und was sind das für geradezu unenglische Farben, die aus dieser Nachtseite hervorquellen? Und was für eine Musik tönt in diesen Farben? Hat es etwas mit dem Antoniusfeuer, der Mutterkornpilz-Vergiftung durch Lysergsäure (Bestandteil von LSD), zu tun, an der die Patienten des Hospitals litten, die in dem Kloster behandelt wurden, für das Mathis dieses Altarbild gemalt hat?

Das ist, das war mal eine andere "Nacht", als das übliche Lyrikzeug.

grusz, hansz
 
G

Gelöschtes Mitglied 15780

Gast
Eine kleine Frage, lieber Tula und liebe Molly:

Jetzt, wo Ihr das Bild von Mathis Nithart (Matthias Grünewald) gesehen habt - wird das Lied nun verständlicher?

Immerhin sehe ich an Euer beider Kopfschütteln, daß Ihr (vorher) den Bezug auf die Tag- und Nacht-Hälfte des berühmten Bildes im Isenheimer Altar nicht gleich erkannt hattet. Ich hatte Euch da die Erfahrung mit meinen Fünft- oder Sechstklässlern (vor zwei/drei Jahren) voraus, denen ich das Bild mit größtmöglicher Unbefangenheit (beim Beschreiben-Versuchen, zurückhaltend in der Deutung) gezeigt hatte.

grusz, hansz
 

Tula

Mitglied
Hallo Hansz
Sicher. Wobei ich denke, dass beim Bezug Gedicht-Bild das erstere generell nicht das zweitere im Detail beschreiben, sondern für sich ein unabhängiges und eigenständiges Kunstwerk bleiben sollte.
Die Frage wäre also eine andere: ruft das Gedicht beim Leser ähnliche Assoziationen hervor wie das Gemälde beim Betrachter? Die würde ich hier mit Ja beantworten. Das Gedicht 'malt' Bilder, über deren Bedeutung man dann sinnieren kann. Das eigentliche Problem ist, dass der Leser nach einem tieferen Sinn sucht, ohne sich bewusst zu werden, dass es überhaupt um ein anderes Kunstwerk geht. Dahingehend ist eine Fußnote oder ähnlicher Hinweis immer hilfreich.

LG
Tula
 

Walther

Mitglied
Hallo Hansz
Sicher. Wobei ich denke, dass beim Bezug Gedicht-Bild das erstere generell nicht das zweitere im Detail beschreiben, sondern für sich ein unabhängiges und eigenständiges Kunstwerk bleiben sollte.
Die Frage wäre also eine andere: ruft das Gedicht beim Leser ähnliche Assoziationen hervor wie das Gemälde beim Betrachter? Die würde ich hier mit Ja beantworten. Das Gedicht 'malt' Bilder, über deren Bedeutung man dann sinnieren kann. Das eigentliche Problem ist, dass der Leser nach einem tieferen Sinn sucht, ohne sich bewusst zu werden, dass es überhaupt um ein anderes Kunstwerk geht. Dahingehend ist eine Fußnote oder ähnlicher Hinweis immer hilfreich.

LG
Tula
Lieber Hansz, dem kann ich nur beispflichten. man darf seine leser nicht überfordern. das ist hier wohl geschehen. lg W.
 
G

Gelöschtes Mitglied 15780

Gast
Ja, in der Tat: Man vieles vermuten.
Und nein: Natürlich darf irgendwer, z.B. ein Lehrer, irgendwelche Leser, z.B. Schüler, überfordern. Der Himmel liegt über dem Horizont.
Aber ein Leser - wie soll der einen anderen Leser überfordern?
Wie kann die interpretierende Phantasie des einen die interpretierende Phantasie eines anderen überfordern?
Es gibt immer einige Aspekte, die der eine findet, der andere aber nicht. Das ist ganz normal im Leben, und in der Dichtung ist es notwendigerweise so, daß der Sinn in viele, auch divergierende, Richtungen ausstrahlt.
Dabei müssen nicht alle Metaphern und Oberflächenstrukturen einen erzählerischen Zusammenhang knüpfen. Es können in einem Gedicht Metaphern sich verselbständigen, so daß ihre bloße Melodie sich exprimiert, sich "ausdrückt", sich zeigt, ohne Verweis auf etwas Anderes, außerhalb der Impression, des "Eindrucks". Das ist hier z.B. der Fall mit der Zeile aus dem Periodensystem der Elemente von Silizium bis Argon. Es sei denn, ein an Mineralogie, Chemie, Vulkanismus, "Gesetzen" der inneren Ordnung in der atomaren Materie-Treppe interessierter Mensch geht mit Iason auf die Suche nach dem goldenen Vlies. Oder ein Theologe betont die Marienfrömmigkeit versus "Gesetz" im Verhältnis der unteren Gedichthälfte zur oberen, etwa die "rosenrockblüte" als Metapher für die Theokotos.
Aber die Unterrichts-Erzählung ist nur lockeres Gefüge für einige leicht überschaubare Verse, die allesamt mehr Frageoffenheit als konfessionellen Dogmatismus an und für sich haben.
Als Leser unter vielen schreckt mich "Überforderung" nicht, dafür bin ich viel zu neugierig.
Autoren mögen allwissend sein. Leser sind es vielleicht, vielleicht auch nicht, zumal der ästhetische Reiz durch offene Fragen aufgeht wie ein Hefeteig, oder der Mond, oder eine Rosenrockblüte.
Ich wäre nicht einer der Leser, wenn mir nicht manche Rätsel ungelöst blieben, wie zum Beispiel die Simultaneität von Nacht und Tag (das berührt die ausgeschriebene Thematik), oder: die hervorquellenden Engel, im Gedicht zum "grünen Lied" verkürzt.

Überfordert bin ich vielmehr mit den uneinholbaren Ansprüchen der Wettbewerbe und Ausschreibungen. Man kann es keinem recht machen.

grusz, hansz
 

Tula

Mitglied
Hallo Hansz
Das Gewinnergedicht habe ich nun gelesen. Ein schönes Sonett. Ich staune, dass ein Sonett noch immer einen Wettbewerb gewinnen kann. Aber verdient hat es die Autoren.

Wie kann die interpretierende Phantasie des einen die interpretierende Phantasie eines anderen überfordern?

Eine gute Frage. Aber es kommt darauf hinaus, dass der Leser nicht nur 'phantasieren' möchte, sondern den anderen (den Autoren über das Gedicht) auch 'verstehen'. Das wirft einige der üblichen Fragen auf, an denen sich hier und anderswo die Geister scheiden. Es ist nicht immer leicht zu begreifen, dass ein Gedicht gar keine 'message' hat, sondern nur mit der Sprache spielen und anregen möchte. Missverständnisse sind vorhersehbar. Als Vergleich, der eine erfreut sich einfach nur an der Schönheit der Gleichungen, der andere will die Lösung. Und wir sauer wenn er keine findet.

LG
Tula
 
G

Gelöschtes Mitglied 15780

Gast
Ich halte es, Tula,

für sinnvoller, daß ein Lied mehrere "Botschaften" hat, und zwar die, die der Leser findet, jeder anders.
Wobei viele Gleiches oder Ähnliches finden, vieles aber auch als fremd verborgen bleibt.

Eigentlich schön nur, wenn Geheimnisse entborgen werden, die zwischen den Auffassungen liegen.

Die Multidimensionalität eines Gedichts, die Brechungen seines Sinns.

grusz, hansz
 
G

Gelöschtes Mitglied 15780

Gast
Und ja, in der Tat: Die Autorin hat die Goldmedaille verdient. Absolut. Ein wunderbares Sonett.
 
G

Gelöschtes Mitglied 21405

Gast
... augenscheinlich konstruiert. Für mich nicht nachvollziebare sinnlose Metaphern. Völlig Bezuglos. Kein Haltegriff. Einfach nur fabuliert! Schade.
Ganz liebe Grüße
 



 
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