Entlaufene Züge

5,00 Stern(e) 3 Bewertungen

VeraL

Mitglied
Für einen Moment dachte Sandra, der Tag würde entspannt werden. Sie hatte ihre Lieblingszeitschrift dabei und sich ein Käsebrötchen gegönnt. Außerdem hatte sie einen Sitzplatz im ICE ergattert, obwohl der völlig überfüllt war, und um sie herum das Chaos tobte. Vorne malten zwei Kleinkinder die Sitze an, ein Mann drängte sich vorbei und schüttete heißen Kaffee auf den Boden. Alles wurde überlagert vom Gestank der defekten Toiletten. Entspannt ist anders. Gerade als sie sich zurücklehnen und in ihr Brötchen beißen wollte, bremste der Zug und wenig später ertönte eine Durchsage: „Verehrte Fahrgäste, leider verzögert sich unsere Weiterfahrt auf unbestimmte Zeit, der Grund dafür sind entlaufene Züge.“
Der junge Mann neben ihr, der seit der Abfahrt wild auf seinen Laptop eingetippt hatte, lachte auf: „Der Typ ist wohl schon etwas durch. Der meint bestimmt entlaufene Kühe.“ Die anderen Fahrgäste stimmten in das Gelächter ein. Nur Sandra hatte ein komisches Gefühl. Sie schaute aus dem Fenster und traute ihren Augen nicht. Mitten auf der Wiese fuhr ein Regionalexpress in wilden Schlangenlinien.

Sandra konnte den Blick nicht abwenden. Der Zug auf dem Feld sah aus wie ein Kinderbild, auf dem manchmal etwas leicht verrutscht. Inzwischen hatten ihre Mitreisenden ebenfalls den RE entdeckt.
„Liegen dahinten Gleise? Das muss eine neue Art von Zug sein, mit Akku statt mit Strom über Oberleitungen.“
„Quatsch, da sind keine Schienen. Vielleicht haben sie hier Fenster, die in Wirklichkeit Bildschirme sind.“
„Könnte hinkommen, die KI erzeugt ja hin und wieder merkwürdige Bilder. Da muss irgendwas schief gegangen sein.“
Auf diese Theorie konnten sich alle einigen und lachten.
Der junge Mann mit dem Laptop fragte in die Runde: „Kennt ihr den KI erzeugten Trailer für Heidi? Gruselig ist der, wie ein Horrorfilm.“
Eine Frau mit einer eckigen Brille stimmte ihm zu: „Ich wollte ein Bild malen lassen. Da waren dann nachher nur Kühe mit drei Beinen drauf. Dafür gab es zwei Sonnen am Himmel.“
Während die anderen Passagiere weiter KI-Geschichten austauschten, starrte Sandra auf den Regionalexpress, der jetzt langsam in der Ferne verschwand. Hinter ihr folgt eine kurze S-Bahn, die wie ein übermütiges Känguru durch die Landschaft hüpfte. Sandra klopfte sacht mit dem Finger auf die Scheibe. Sie war eindeutig aus Glas. Darin sollte sich ein Bildschirm befinden? Hochmoderne Technik bei der Deutschen Bahn? Panik durchflutete sie. Beruhig dich, redete sie sich selbst gut zu. Gleich kommt jemand und ruft: „Willkommen bei der versteckten Kamera.“ Die Sendung gab es nicht mehr, oder? Sie hatte das Gefühl, in ihren eigenen Gedanken zu ertrinken.

Mit einem lauten Knall bewegte sich ihr ICE wieder. Es ruckelte und der Zug neigte sich zu Seite. Sandra krallte ihre Finger in die Armlehnen.
„Er kippt um! Hilfe!“
Jetzt brach unter den anderen Fahrgästen Panik aus. Sandra hörte Schreie, Flüche, Scheppern, Poltern und Kreischen. Atme, dacht sie, atme ruhig weiter. Es klappte nicht. Sie schaute aus dem Fenster. Der ICE war die Böschung heruntergefahren und holperte über die Wiese hinter der S-Bahn und dem RE her. „Ob die beiden warten müssen, damit der ICE überholen kann?“ Sandra kicherte hysterisch.
Langsam wurde es stiller in ihrem Abteil. Die meisten Reisenden waren in eine Schockstarre gefallen und blickten starr aus dem Fenster. Was hatten die Züge mit ihnen vor?

Es ruckte und der Waggon kam zum Stehen. Es passierte nichts. Die Fahrgäste warfen sich verstörte Blicke zu. Dann rauschte der Zug an ihnen vorbei und ein weiterer Wagen hielt neben ihnen. Sandra hörte ein Kichern. Es schien aus dem Zug selbst, aus den Wänden und dem Boden zu kommen. Sogar aus den Sitzen. Dann holperte der Waggon wieder los. Der Zug sortiert die Wagen um, schoss es Sandra durch den Kopf. So entsteht die geänderte Wagenreihung. Diese Erkenntnis fühlte sich seltsam befriedigend an und sie wurde ruhiger. Vor dem Fenster flog ein Wald vorbei, dann ein Fluss und einige Wiesen und Äcker. Ein paar Kühe sprangen muhend zur Seite, als der ICE ihren Zaun platt walzte. Sandra wurde in ihrem Sitz herum geschleudert und hatte inzwischen überall blaue Flecken. Dennoch war sie gespannt, was als Nächstes passieren würde. Mehr und mehr andere Züge tauchen jetzt auf. Von der Bimmelbahn bis zum ICE waren alle Typen vertreten. Die Bahnen schienen sich zu kennen und begrüßten sich mit freundschaftlichem Schnauben. In einem Tal sammelten sie sich, auch Sandras ICE hielt an. Von allen Seiten dröhnte, quietschte und zischte es. Was war das hier? Das Parlament der Züge? Wenn ja, worüber debattierten sie?
Sie konzentrierte sich und nach und nach konnte sie die Züge verstehen.
Eine alte Lock schnaubte: „Jeden Abend muss ich an einem anderen Bahnhof übernachten.“
Ein nigelnagelneuer TRX fuhr dazwischen: „ja, gut, das liegt an deinem Alter. Du bist halt nicht mehr so flexibel. Wirklich nervig sind die Fahrgäste. Ständig beschmutzen sie uns und verstopfen die Klos. Eklig.“
Ein IC stimmte zu: „Und diese Graffitis erst.“
Eine S-Bahn, die über und über gesprayt war, so dass man nicht mehr durch ihre Fenster sehen konnte, brach in Tränen aus und musste von den anderen getröstet werden.
Dann redeten alle durcheinander. Es ging um Lokführer, die ständig Höchstgeschwindigkeit verlangten und Gleise, die im Sommer zu heiß und im Winter zu kalt waren. Eine Qual für die Räder.
Mitgefühl stieg in Sandra auf. Zug war kein einfacher Job.
Ihr ICE polterte dazwischen: „Das ist alles schön und gut. Aber die Beschwerden kennen wir doch. Die Frage ist: Was tun wir dagegen?“
„Wir streiken!“
„Wir kippen die Fahrgäste auf der nächsten Brücke in einen Fluss!“
Sandra wurde mulmig. Das lief nicht in die richtige Richtung.
„So ein Unsinn“, das war wieder ihr ICE, „wenn wir das machen, fährt nie wieder jemand mit uns und wir sind unseren Job los. Ich sage, wir jagen ihnen einen Schrecken ein. Fahren sie etwas durch die Gegend und dann ...“
Den Rest konnte Sandra nicht verstehen, weil alle Züge gleichzeitig zustimmend hupten.

Draußen wurde es dunkel, die Züge ließen ihre Scheinwerfer erstrahlen und setzten sich in Bewegung. Der junge Mann mit dem Laptop tippte verzweifelt auf seinem Smartphone rum. „Schon seit Stunden kein Empfang. Das gibt es nicht“, murmelte er.
Eine ältere Dame schluchzte: „Ich wollte zu meiner Tochter. Sie wartet am Bahnhof.“
In dem Moment ging es steil bergab und einige Menschen kippten aus ihren Sitzen.
„Er entführt uns und wird uns alle umbringen“, schrie jemand.
Sandra überlegte, ob sie etwas sagen sollte. Ihr Blick fiel auf die dreckigen Schuhe des Mannes, die er auf den gegenüberliegenden Sitz gelegt hatte, und sie entschied sich dagegen.

Nach einer gefühlten Ewigkeit tauchten die Lichter eines kleinen, einsamen Bahnhofs auf. Den Ortsnamen hatte sie noch nie gehört. Der Zug machte eine Vollbremsung. Die Durchsage „Dieser Zug endet hier. Bitte alle aussteigen,“ hätte es nicht gebraucht. In dem Moment, in dem sich die Türen öffneten, sprangen die Passagiere auf, griffen vereinzelt nach Gepäckstücken und stürmten hinaus. Draußen drängten sich alle auf dem engen Bahnsteig. Der Zug knallte die Türen zu und fuhr ab. Niemand wagte, sich zu beschweren. Wir sind im Nirgendwo gestrandet, dachte Sandra. Um sie herum griffen alle nach Handys und redeten durcheinander. Nur Sandra stand ganz ruhig und schaute dem ICE hinterher. Sie meinte in seinem Schnaufen ein leises „Thank you for travelling with Deutsche Bahn“ zu hören.
 
G

Gelöschtes Mitglied 28821

Gast
Ganz toller Stil, hat mich sehr gefesselt. Jedes Wort scheint mit Bedacht gewählt zu sein.
Bin schwer beeindruckt auch von deinen anderen Schreibprojekten und bisherigen Erfolgen!
Werde mehr von Dir lesen :)
Beste Grüße, Meb
 

petrasmiles

Mitglied
Ich bin auch ganz hin und weg - diese feine Wahrnehmung Deiner Protagonistin - nein - eigentlich der Autorin an dieser Stelle:
Dann holperte der Waggon wieder los. Der Zug sortiert die Wagen um, schoss es Sandra durch den Kopf. So entsteht die geänderte Wagenreihung. Diese Erkenntnis fühlte sich seltsam befriedigend an und sie wurde ruhiger.
Ich bin mehr als beeidruckt!

Liebe Grüße
Petra
 



 
Oben Unten