Er-zählt

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nisavi

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Einundzwanzig. Die Hausnummer gefiel ihm. Sie erinnerte ihn an seine erste eigene Wohnung. Er wusste noch, wie es sich anfühlte, die zwei Zahlen auf die Rückseite eines Briefkuverts zu schreiben. Eine schwungvoll-helle Zwei, gefolgt von einer dunkel-kantigen Eins.
Hastig hatte er seine Unterschrift unter den Mietvertrag gesetzt. Noch im November bezog er sein neues Domizil. Der Umzug, besser: der Auszug, ging schnell über die Bühne. Er nahm nicht viel mit. Ein Bett, den Computer, persönliche Dinge und all seine Bücher.
Das Haus, in dem er jetzt allein wohnte, lag an einer vielbefahrenen Straße, die stadtauswärts führte. Es war dunkelgrün verputzt, hatte ein rotes Dach und zur säulenflankierten Eingangstüre hinauf führte eine Treppe. Vier kleine und ein großes Fenster befanden sich auf der linken Hausseite, vier kleine und ein großes Hausfenster auf der rechten. Die Keller waren vergittert.
Der zum Wohnzimmer gehörende Balkon störte die klare Symmetrie der Vorderansicht.
Im Erdgeschoss hatte der Besitzer, ein Immobilienmakler, sein Büro. Tagsüber hörte man ihn zuweilen mit Kunden verhandeln. Abends war das Haus angenehm still.
Er hatte es nicht eilig, sich hier einzurichten. Der Hall leerer Räume und die Tristesse kahler Wände schienen so viel besser zu seiner Verfassung zu passen, als weicher Teppichboden und der Geruch frischgebeizten Holzes. Egal, ob er in sich hinein, oder aus sich heraus schaute. Es bot sich der gleiche Anblick.
Er schob die Bücherkisten zur Seite. In jeder Wohnzimmerecke standen mehrere von ihnen, akkurat übereinandergestapelt.
Die Kücheneinrichtung hatte ihm der Vormieter überlassen. Abends, nach Dienstschluss, saß er an einem kleinen, abgenutzten Holztisch und zwang sich zu essen. Um Lebensmittel zu beschaffen, verließ er jeden Samstagnachmittag punkt drei die Wohnung und fuhr zum nahegelegenen Supermarkt. Dort stapelte er Sonderangebote in den Korb, weil ihm die Schilder mit den farbig gedruckten Preisen auffielen. Er schlenderte an den Regalen entlang und ließ seine Hände über Schachteln, Tüten, Dosen wandern. Leise zählte er bis zehn. Dann griff er zu. Manchmal erwischte er Graupen, Sago oder Paniermehl. Egal. Er begann von neuem Zahlen zu flüstern.
Als es Frühling wurde, waren die Zimmer noch immer kahl und leer. Er verspürte nicht das geringste Bedürfnis, dies zu ändern. Unvorstellbar, dass ihn hier jemand besuchen würde. Unvorstellbar, dass er diese Umgebung verlassen könnte.
Nachts, wenn er nicht schlafen konnte, trug er den Küchenschemel auf den Balkon, setzte sich, schlug die Beine übereinander und starrte auf den grauen Asphalt hinunter. Er zählte vorbeifahrende Autos. Passanten. Igel, die über die Straße liefen.
Keine Sterne und keine Sonnenaufgänge.
Irgendwann hatte er eine der Kisten geöffnet. Die Bücher waren ihm fremd. Es war, als hätten sie ihm nie gehört. Er begann, sie neu zu entdecken, Seite für Seite, jeden Morgen, auf dem Balkon, bevor er zur Arbeit ging. Manchmal sah er auf und nahm Menschen wahr, die sein Haus, das Haus mit der Nummer einundzwanzig, passierten. Fußgänger, Radler, Autofahrer.
Er las sie in die Kapitel. Die junge Studentin mit dem i-pod, er stellte sie Selb bei seinen Ermittlungen zur Seite. Eine alte Dame, die jeden Früh 6.00 Uhr ihren Hund ausführte, nannte er Oma Rosa. Sie war ehrenamtlich in Krankenhäusern tätig.
Es waren immer neue Personen. Immer neue Bücher. Immer die gleiche Zeit.
Er konnte sich später nicht mehr erinnern, wann ihm der Ford das erste Mal aufgefallen war. Er wusste aber genau, was seinen Blick noch einen Moment lang davon abgehalten hatte, das Auto ins Buch fahren zu lassen. Im Kennzeichen fand sich die Ziffer einundzwanzig. Merkwürdig, dachte er. Dann vertiefte er sich erneut in seinen Krimi.
Am nächsten Morgen war er überrascht. Er erblickte das Auto erneut – und er erinnerte sich.
Einundzwanzig. Das Auto war rot. Als er herausfinden wollte, wer es steuerte, war es bereits in Richtung Zentrum verschwunden. Es passte nicht in die Handlung seiner Geschichte, beim besten Willen nicht.
Am Tag darauf war er unkonzentriert und unruhig, weil er schlecht geschlafen hatte. Er wollte wissen, wer im Wagen saß. Mehrfach blickte er von seinem Buch auf. Da, kurz vor um sieben, hielt der rote Ford auf der Nebenstraße kurz an. Am Steuer saß eine blonde Frau. Sie sah nach rechts, um den auf der Hauptstraße befindlichen Autos die Vorfahrt zu lassen. Dann bog sie zügig ab.
Er begann jeden Morgen auf sie zu warten. Auch an regnerischen Tagen. Erst wenn der rote Ford am Haus vorbeigefahren war, konnte er seine Lektüre schließen, den Balkon verlassen und zur Arbeit gehen.
Die blonde Frau passte in keins seiner Bücher. Es war, als ob sie sich den Handlungen widersetzte. Er begann, sich ihre Geschichte zu erzählen. Jeden Morgen erfand er ein neues Detail ihres Lebens.
Manchmal, so schien ihm, sah sie zu ihm auf.
Er würde sich Buchregale kaufen.
 

Rumpelsstilzchen

Foren-Redakteur
Teammitglied
Handwerklich solide, keine Frage.
Natürlich könnte man im Kleinklein ein wenig herum porkeln. Zum Beispiel in der ersten Wohnung, aus der ich nur mühsam wieder in die Geschichtsgegenwart fand.

Aber im Detail steckt der Stachel nicht, der mich bei dieser Geschichte sticht.
Sie ist als Ganzes einfach nur so schrecklich vorhersagbar!

Hat ausgekaut, es fortgespuckt und ist abgehaut
 



 
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