Hallo Monochrom,
dein Gedicht
Erdgefärbt gefällt mir sehr gut. Es erinnert mich ein wenig an die Sprache in Clemens Meyers Roman
Als wir träumten, aber das mag daran liegen, dass auch dein Gedicht eine verlorene Kindheit zu beschreiben scheint, deren Auswirkungen nun im Erwachsenenalter sichtbar werden.
Die erste Strophe stellt die Frage nach Heimat und Heimatlosigkeit:
Am Bahndamm gruben sie
eine Höhle mit zwei Räumen einem Fenster.
Sperrmüllmöbel und eine Feuerstelle, einige blieben
über Nacht, wenn es zuhause krachte.
Meiner Meinung nach hast du diese Frage sehr gut umgesetzt, da du den
Bahndamm, der u.a. die Assoziationen
Ferne, Reisen, Freiheit erlaubt, der
Höhle gegenüberstellst, die ein zwar ungemütliches, aber sicheres Versteck darstellt. Durch die Probleme des eigentlichen Zuhauses wird dies ein Ort der Zuflucht, der sich durch die Nähe zum Bahndamm zu einem Ort der Flucht steigert. Die Sperrmüllmöbel und die Feuerstelle machen den flüchtigen Eindruck perfekt.
In der zweiten Zeile überlege ich, ob nicht ein Komma nach Räumen die bessere Variante wäre, da du ja eine durchgehend richtige Interpunktion verwendest, andererseits gefällt mit der Sprachfluss ohne Satzzeichen an dieser Stelle ganz gut.
In der zweiten Strophe ist der Wechsel des Personalpronomens besonders interessant, da er das Gedicht um eine Zeitebene nach vorn versetzt:
Im Strom der Zuckerrübenzüge zogen wir
ein und aus mit Schätzen, später
rauchten wir dort Joints, fickten
die angesagten Mädchen aus der unteren Schulklasse.
Damit wird der Symbolwert der Höhle deutlich, welche nunmehr einen Platz der Freiheit darstellt, den alle Kinder und Jugendlichen benötigen, um sich gegen die Erwachsenenwelt abzugrenzen. Die rohe Sprache (
ficken) unterstreicht sowohl die Höhle als Ort, sich ungehemmt auszuleben als auch ein vermeintlich gescheitertes Elternhaus, in dem ungezügelte Sitten unter den Erwachsenen herrschen.
Die dritte Strophe macht dieses Werk ganz zu einem "Entwicklungsgedicht", da hier nun die Erwachsenenwelt nicht gerade vielversprechend droht:
Von der Höhle blickten wir ins Tal,
auf den Bauhof und die Getränkefabrik,
in der fingen einige an zu arbeiten, blieben fern,
andere zogen weg und verschwanden.
So wird mit dem
Bauhof und der
Getränkefabrik eine gewisse Perspektivlosigkeit der lyrischen Protagonisten offenbar, die sich dadurch verstärkt, dass beinahe beiläufig erwähnt wird, einige würden arbeiten, andere eben nicht. Eine alles-egal-Stimmung dominiert, die augenscheinlich durch mangelnde Perspektiven ausgelöst wird. Dadurch und durch das
Verschwinden mancher Leute könnte dieses Gedicht ein sehr gutes Nachwendegedicht sein.
In der letzten Strophe kommt man nun endgültig in der Resignation an.
Bevor die Tage enden ist dabei meiner Meinung nach ein besonders gut gewählter Nebensatz, da er die gescheiterte Entwicklung von der Kindheit an nun bis zum Tod weiterführt. Auch für die nachfolgenden Generationen gibt es wenig Anlass zur Hoffnung, nur das Wörtchen
mögen impliziert eine geringe Möglichkeit zur Verbesserung der Lage, da es sonst hieße:
werden andere eingezogen sein.
Das
Einziehen ist wohl aber ein kleines Problem, da die Höhle zwei Zeilen weiter oben, wenn auch vielleicht nur symbolisch, eingestürzt ist. Textlogisch dürfte also nicht unerwähnt bleiben, dass die
Anderen sich ihre Höhle erst noch graben müssen.
In meinen Augen hast du aber einen ganz starken Text verfasst, der noch gewinnen könnte, wenn die letzte Zeile hieße:
noch ahnungslos verurteilt zum Leben.
Viele Grüße
Frodomir