Erhöhung

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Vera-Lena

Mitglied
Erhöhung

Keines Falles
wolltest du bezichtigt werden,
als wärst du durchtränkt
mit silbernem Licht,
das dich über jeden Abgrund
hinweg trüge.

Kinder
springen lustvoll in Pfützen,
nehmen das aufgeschürfte Knie
in Kauf,
wenn sie fallen.

Untadelig
wolltest du das Menschsein überholt haben,
diesen bitteren Kelch,
der dich ausgenommen,
an dir vorbei geschwebt.

Das selbsterbaute Podest,
gefügt aus Einsamkeits-Molekülen,
keinesfalls wolltest du
es verlassen.
Aber im Falle eines Falles
könnte ich dir meine Hand reichen,
wenn du den Schritt in die Tiefe
wagen solltest.
 
H

Heidrun D.

Gast
Liebe Vera-Lena,

mir fallen dazu sofort Christa Wolf und Heinrich von Kleist ein. Sie schreibt in ihrem vortrefflichen Buch; Kein Ort. Nirgends. (Luchterhand 1979):

jahrhundertealtes gelächter.
das echo, ungeheuer, vielfach gebrochen.
und der verdacht, nichts kommt mehr
als dieser widerhall
nur größe rechtfertigt verfehlung
gegen das gesetz und versöhnt
den schuldigen mit sich selbst.
einer, kleist, geschlagen mit diesem
überscharfen gehör, flieht unter vorwänden
die er nicht durchschauen darf.
ziellos, scheint es, zeichnet er
die zerrissene karte europas
mit seiner bizarren spur:
wo ich nicht bin, da ist das glück
Bei ihr handelt es sich allerdings um einen Fließtext, den ich nur lyrisch umgebrochen habe, rein spaßeshalber.

Tatsächlich begegnen einem unterwegs öfter Menschen dieser Art, die Zerrissenen, die Philosophen, die Schachgroßmeister, diejenigen, die rigoros nach dem "reinen Geist" streben usw.

Der Umgang mit ihnen ist faszinierend, doch überaus schwierig. Aber das weißt du ja selber (lächelt). -

Dein Gedicht finde ich hervorragend, insbesondere das Einsprengsel mit den pfützenspringenden Kindern, den Bezug zum (richtigen?) Leben.

Liebe Grüße
Heidrun
 

Joh

Mitglied
Hallo Vera-Lena

der Schritt in die Tiefe, eigentlich ein Schritt zurück in die Unbeschwertheit der Kinder, die noch keine Vorstellung von Bedeutsamkeit der eigenen Person oder dem schwierigen Erringen dieser haben.
Die Angst davor, zu straucheln und den eigenen Ansprüchen (sind es auch die der anderen?) nicht zu genügen, auch Zweifel, ob sich hinter diesen nicht ein Mensch mit ganz menschlichen Fehlern verbirgt. Gerade die Zweifler, die an sich arbeiten, sind oft genau die mit den übersehbaren oder sogar liebenswerten Beulen, wenn man erkannt hat, daß die Gebirge nur Schein sind, der niemanden davon abhält, den anderen zu akzeptieren, zu mögen, zu schätzen.

Das ist es, was ich in und hinter Deinem wunderbaren Gedicht lese.

LG Johanna
 

Vera-Lena

Mitglied
Liebe Heidrun,

Deinem Zitat aus Christa Wolf:“ Kein Ort. Nirgends. möchte ich noch eines hinzufügen.

Aus Rüdiger Safranski: „ Wieviel Wahrheit braucht der Mensch?“

Safranski sagt über Kleist hier folgendes:
„ Es geht um eine innere Selbstgewissheit, die sich auf nichts anderes stützen kann, als auf die entrückende Kraft der ästhetischen Einbildungskraft. Es geht um die einfache und doch so rätselhafte Erfahrung, dass es möglich ist im Inneren Wirklichkeiten zu erzeugen, die ihren von innen erlebten Wirklichkeitscharakter auch dann nicht verlieren, wenn ihnen im Äußeren wenig oder gar nichts entspricht. Deshalb nannte Kleist einmal die Dichtung eine „göttliche“ Kunst“ Zitatende

Alle Personen, die extrem phantasiebegabt sind und Grund haben, Anstoß zu nehmen an den Realitäten von Welt, in die sie hineingeboren sind, häufig von Kindheit an auch schon geschädigt in ihrer Fähigkeit, ein gesundes Selbstbewusstsein zu entwickeln(siehe auch Clemens von Brentano) darüber hinaus über eine ausgeprägte Intelligenz verfügen, müssen sehen, wie sie sich durch dieses Leben tasten. Selten treffen sie auf Gleichgesinnte, mit denen sie einen fruchtbaren Gedankenaustausch haben könnten, und so drängt es sie immer stärker in eine Isolation, selbst wenn sie äußerlich Anerkennung finden sollten .

Mein Text zielt darauf ab, dass auch ein auf diese Weise gequälter Mensch, noch einen Bezugspunkt , der ihm bisher nicht vergällt ist, in seinem Inneren haben könnte, der es ihm ermöglicht, wenigstens zeitweise in eine heilsame Phase hinabzusteigen, die seinen Durst nach dem „Höchsten“, dem „Absoluten“ zwar nicht stillt, ihm aber eine gesunde Schlichtheit schenkt, ähnlich der Lebensfreude, die Kinder empfinden, wenn sie wagemutig sind und bereit für den einen und anderen Spaß auch etwas zu „bezahlen“.

Danke für Deine interessante Auseinandersetzung mit diesem Text und für das Zitat sowie den Buchtitel.

Liebe Grüße
Vera-Lena
 

Vera-Lena

Mitglied
Liebe Johanna,

Du wirfst ein ganz andres Schlaglicht auf diesen Text, als Heidrun, allerdings, ohne dass Eure beiden Beiträge einander widersprechen. Du versetzt Dich noch stärker hinein in die einzelnen Schwierigkeiten eines solchen Kämpfers, der aus seinen Selbstzweifeln einen Fluchtweg sucht. Ja, wenn er es zeitweilig zulässt, dass man ein Guckloch in dem selbstgebastelten Schutzzaun findet, erblickt man Überraschendes. Oft Hilflosigkeit, übergroßen Ehrgeiz aber meistens eben auch eine überdurchschnittliche Begabung, die versucht ihren Ausdruck zu finden. Und hat man das einmal erspäht, verbleibt man in einer liebevollen Hinwendung zu dieser Person, egal was für Macken sie haben mag.

Danke für Deine Interpretation, die mich, genau wie die von Heidrun, meinem eigenen Text näher bringt.

Liebe Grüße
Vera-Lena
 

Vera-Lena

Mitglied
"Clemens von Brentano" habe ich versehentlich gechrieben. Aber das stimmt nicht. Clemens Brentano hatte keinen Adelstitel. Das wollte ich doch berichtigen.
Vera-Lena
 
H

Heidrun D.

Gast
Den habe ich früher auch oft geadelt, vielleicht, weil er mir so gefällt ... :)

Einmal war ich an seinem Grab:

O Stern und Blume, Geist und Kleid,
Lieb, Leid und Zeit und Ewigkeit!

---
Was du über Kreativität schreibst, deckt sich mit meinen eigenen Erfahrungen. Doch nicht nur Dichter, auch viele Maler zeigen die von dir genannten "Auffälligkeiten" (Van Gogh, William Blake, Niki de Saint Phalle u. v. m.)

Tatsächlich scheint die Kunst einen Ausweg zu bieten, für manche den einzigen ...

Die Götter haben uns die Kunst gegeben,
damit wir an der Realität nicht verzweifeln.

Anonymus
Sehr herzliche Grüße
Heidrun
 



 
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