Erica und die Nabelschnur

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wowa

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Erica und die Nabelschnur








„Verdammt, wo bleibt die Milch? Der Junge braucht mal wieder einen Arschtritt,“ murmelte Erica. Sie saß auf einem Stein, genoss die Morgensonne nach dem Gestank im engen Stall, die erste Zigarette, der heiße Espresso, eigentlich alles optimal, wettermäßig sogar besser.


Vorhin, beim Melken ihrer vierzig Ziegen, gegen Schluss, fühlte sie einen jähen Stich im Kreuz und einen blendenden Schmerz. Sekunden saß sie reglos auf ihrem angeschnallten Schemel, dann ging es wieder und vorsichtig brachte sie die Arbeit zu Ende. Später, in aufrechter Haltung, beim Treiben der Herde auf die Weide war alles fast normal, jedenfalls erträglich. Der Job war hart und kleine Verletzungen nicht ungewöhnlich; Erica kannte ihren Körper und auch seine Schwachstellen, - der Rücken gehörte bislang nicht dazu. Verschleiß, die Wechseljahre? „Leben ist Metamorphose,“ murmelte Erica und prompt ging es ihr besser. Autosuggestion, die Haltung war entscheidend.


Sie hörte den Landrover vor der letzten Kurve und erhob sich.


„Hey, Erica, du siehst gut aus heute Morgen,“ schrie Manuel und winkte aus dem Fahrerfenster.


„Ich seh so aus wie immer, aber du bist zu spät,“ schrie Erica zurück.


Der Motor heulte ein letztes Mal auf, dann stand der Landrover und es war still.


„Wir haben verschlafen,“ sagte Manuel lachend und sprang aus dem Auto, „ich war gestern in der Stadt und hab gute Nachrichten mitgebracht. Die mussten wir unbedingt feiern.“


„Scheiß auf die Nachrichten, du hast verdammt noch mal deinen Job zu machen. Los jetzt, lass uns die Kannen schleppen!“


Manuel schwieg beleidigt und wortlos kippten sie fünfzehn Kannen Kuhmilch in den großen Kupferkessel in der Käserei. Die Ziegenmilch hatte Erica in einem kleineren Gefäß auf fünfundzwanzig Grad erhitzt und auch die Kultur schon untergemischt, ein Konzentrat aus selbstgezüchteten Milchsäurebakterien. Die unvermeidbaren Kolibakterien und unerwünschte Keime ließen sich so neutralisieren und der Käse blieb haltbar.


Erica bückte sich und entzündete die vorbereiteten Scheite unter dem großen Kessel. Das Thermometer zeigte zwölf Grad und sie nahm eine Lochkelle mit langem Stiel und hielt die Milch in Bewegung. Erst bei annäherndem Gleichstand der Temperaturen wurde die Ziegenmilch vorsichtig dazu gekippt und der Käse bekam damit den Geschmack, der ihn von anderen unterschied. Bei zweiunddreißig Grad würde Erica den Kessel vom Feuer nehmen, das ging relativ mühelos, denn er hing an einem massiven, drehbaren Galgen aus Eichenholz. Sie würde Lab hinzufügen, ein Extrakt aus dem Kälbermagen, das die Milch dicklegte und dann war Pause, Lab – Pause. Der Gerinnungsprozess brauchte seine Zeit.


Aber soweit war es noch nicht. Erica rührte, behielt das Thermometer im Blick und Manuel spülte die Kannen. Beide schwiegen, sie aus Gewohnheit, er hatte den barschen Empfang noch nicht ganz verdaut. Schließlich, beim gemeinsamen Schütten der Ziegenmilch, - vorsichtig, verdammt !, - hielt er es nicht länger aus:


„Willst du gar nicht wissen, warum wir gefeiert haben? Was gestern los war in der Stadt? Erica, Aufbruchstimmung ist angesagt, es geschehen grade umwälzende Dinge !“


Erica blickte ihn an und lächelte. Sein Enthusiasmus war sympathisch, doch seinen optimistischen Einschätzungen fehlte gelegentlich die Basis. Früher, unten an der Küste, als sie noch in der Stadt lebte, dachte sie genauso. Der Putsch kam völlig überraschend und veränderte alles. Sie konnte damals entkommen und heute war die Stadt weit weg, dreitausend Höhenmeter, um genau zu sein. Das Militärregime führte sie noch immer auf der Fahndungsliste, viele Genossen waren tot, kamen ins Gefängnis oder gingen ins Exil. Sie hingegen war geblieben, sogar in der Nähe ihrer Heimatstadt und machte Käse, guten Käse. Darauf war sie stolz.


Die Bergbauern wussten, wer sie war und versorgten sie. Sie lehrten sie die Grundlagen der Milchverarbeitung und gaben ihr Schulungsmaterial. Erica war eine gute Schülerin.


Anfangs rechnete sie mit ihrer Verhaftung, die kam nicht, so gewöhnte sie sich an die neue, klandestine Existenz, die Natur oberhalb der Baumgrenze, die Ziegen, die Einsamkeit, ihre Hunde. Vor ungefähr einem Jahr blieb ihr Radio nach längeren Ausfallzeiten endgültig stumm und sie nahm es hin, wollte kein neues. Ohne schlechte Nachrichten ließ es sich besser leben. Seither war Manuel ihre Nabelschnur zu der Welt da unten.


„Also gut, komm, sag es. Was war los?“


„Erica, die Soldaten meutern, alle höheren Offiziere, auch die Generäle, sind entwaffnet, interniert und werden bewacht. Demnächst erwartet sie ein öffentlicher Prozess. Die erste Bekanntmachung des Soldatenrates betrifft die politischen Gefangenen und Verfolgten. Alle werden freigelassen und rehabilitiert. Wir sollen Räte wählen, jede Stadt, jedes Dorf, jede Fabrik. Wir sind frei, Erica, du bist frei !“


Erica rührte und schaute in die Milch.


„Hast du verstanden, was ich gesagt habe?“ fragte Manuel nach einer Weile.


„Doch, ja, bin ja nicht taub,“ sagte Erica.


Sie zog den Kessel vom Feuer, rührte ein abgemessenes Quantum Lab in die Milch, ließ sie noch ein wenig kreisen, stoppte dann die Bewegung bis zum Stillstand und deckte den Kessel mit einer Holzplatte ab.


„Du fährst vermutlich heute wieder in die Stadt,“ sagte Erica.


„Ja, natürlich,“ Manuel nickte heftig, „ich muss auch gleich los.“


„Dann,“ fuhr Erica fort, „bring mir doch bitte ein Radio mit. Mein altes ist kaputt. Die von Sony sind gut.“


„Klar, kein Problem,“ sagte Manuel, „also bis Morgen, mach`s gut.“


Später, im Landrover auf dem Weg nach unten zu seinen Kühen, schüttelte Manuel den Kopf: „Die Alte wird langsam wunderlich, ich glaub, die Einsamkeit bekommt ihr nicht. Die braucht mal wieder einen Mann. Egal, da sollen sich andere drum kümmern.“


Lachend schlug er aufs Lenkrad und freute sich auf die Stadt.
 



 
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