Erinnere dich

Erinnere dich, hatte die Großmutter gesagt und nun versuchte Matze, sich zu erinnern. Er erinnerte sich an den Nachtwind und den Geruch des feuchten Ackers. Er erinnerte sich an die Großmutter, wie ihre Silhouette sich vor dem dunklen Himmel abzeichnete, die Schultern gebeugt, zwischen den Lippen den vertrauten Lichtpunkt ihrer Zigarette hegend. Matze erinnerte sich oder versuchte, sich zu erinnern. Es war alles so lange her. Der Vater war ihnen wütend über den feuchten Acker nachgerannt. Oder hatte er sein Rad durch den Lehm geschoben?
Halle an der Saale war Matze damals ein Begriff gewesen, eine große Stadt und das Gegenteil des kleinen Alt-Schmöckwitz. In Halle standen riesige, quadratische Häuser und ein HO-Laden voller Süßigkeiten. Eine Mark aus Alu in der schwitzigen Hand konnte dort viele Bonbons kaufen. Großmutter hatte ihn nachts geweckt, um ihm Halle zu zeigen und ein Gedanke war Matze deutlich im Gedächtnis geblieben: Mitten in der Nacht fuhr aus Alt-Schmöckwitz doch kein Bus mehr nach Halle.
Er sah wieder das löchrige Pflaster der Dorfstraße vor seinen Augen und die schlecht verputzten Häuser, wie klein sie zwischen den endlosen Feldern aus Mais gestanden hatten. Erinnere dich, hatte die Großmutter gesagt. Er sah sie lachend vor der Dorfkneipe stehen, das weiße Haar elegant frisiert, Zigarette im Mundwinkel, während die Augen der LPG-Bauern groß und wütend wurden. Am größten und wütendsten waren die Augen des Vaters gewesen.
Erinnere dich, er erinnerte sich wieder an das Keuchen des Vaters, das Schmatzen seiner Gummistiefel im feuchten Ackerlehm. Der Vater hatte in die Nacht gerufen, dass Matze gefälligst nachhause kommen sollte. Wenn der Vater so rief, hatte Matze damals gedacht, fuhr keinesfalls mehr ein Bus nach Halle. Die Großmutter aber hatte ruhig ihre Zigarette ausgetreten. Dann hatte sie den Enkel auf ihre krummen Schultern gehoben und in den Himmel gezeigt. Da, in einer Lücke zwischen den Wolken hatte Matze tatsächlich dieses Schweifchen leuchten sehen. Klein und blass war er gewesen. "Nicht Halle", hatte Großmutter ihn dann lachend berichtigt. "Den Halleyschen Kometen wollte ich dir zeigen. Der ist etwas ganz Besonderes. Erinnere dich an diesem Moment. Falls du ihn noch einmal siehst, werden der Vater, die Mutter und ich lange tot sein."
Als der Vater sie fluchend erreicht hatte, zog er Matze dann am Arm zurück in sein Kinderbett. Die Großmutter blieb auf dem Acker stehen. Sie zündete sich eine Zigarette an und blickte in den Himmel. Fast achtzig Jahre ist sie dann alt geworden, trotz Zigaretten, Schnaps und dem endlosen Streit mit der Familie. Im Waldfriedhof von Alt-Schmöckwitz wurde sie begraben. Matze fühlte noch, wie sein schwarzer Anzug gekratzt hatte. Den Friedhof und Alt-Schmöckwitz gab es natürlich nicht mehr. Genauso wenig wie Beerdigungen und ... so viele andere Dinge.
Nun stand der Schweif groß und glühend wieder vor Matze. Zum Greifen nah sah er aus, da ihn keine Atmosphäre trübte. Matzes Augenimplantat ließ ihn in voller Breite des elektromagnetischen Spektrums funkeln.
"Erinnere dich an diesen Moment", sendete Matze seine Gedanken in den Verstand des Enkels, "Wenn du ihn noch einmal siehst …" Da musste Matze seit langem mal wieder lachen. Erstaunlich, dass dieser urtümliche Laut noch in seiner Kehle wohnte. Ja, wenn der kleine Zhilong das nächste Mal den Halleyschen Kometen sah, was würde dann wohl sein?


Spickzettel für Leser:

• Der Halleysche Komet ist einmal aller 75 bis 79 Jahre von der Erde aus sichtbar. Sein letzter Besuch war 1986. Die nächsten Male soll er 2061 und 2134 wieder erscheinen.
• LPG stand für Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft . In der DDR hatten Bauern ihre Produktionsmittel erst mehr, dann weniger freiwillig zusammengelegt, um gemeinsam zu wirtschaften. Felder reichten oft bis zum Horizont. Traktoren pflügten in Richtung Himmel. Der typische LPG-Bauer trug einen Arbeitsanzug aus blauem Stoff und einen stoischen Gesichtsausdruck.
• HO stand für Handelsorganisation. Neben vielen anderen Geschäften betrieb die HO größere Selbstbedienungsläden für Lebensmittel. Die Süßwaren dort waren in etwas matten, aber anziehend warmen Farben verpackt.

Grüß Dich lietzensee !

Ein schöner Text, der auch irgendwie traurig ist, weil er zeigt, wie stark menschliche und astronomische Zeit auseinanderfallen. Für den Halleyschen Kometen ist es nur ein Umlauf, für Menschen ein ganzes Leben.

Herzliche Grüße,
Matula
PS Im letzten Satz hätte ich zwei Tippfehler entdeckt. Leider ist mir auch nicht klar, was ein "HO-Laden" oder ein "LPG-Bauer" ist.

Wenn ich darf ... HO-Läden waren in der DDR Geschäfte, in denen man nur mit Devisen einkaufen konnte, und nicht mit Ostmark. Dort gab es auch andere Produkte. Und LPG ist die Abkürzung für Landwirtschaftlicher Produktionsgenossenschaft. Das waren riesige Felder (und Mastbetriebe), die genossenschaftlich bewirtschaftet wurden.
Bei meinen ersten Reisen in das wiedervereinigte Ost- eigentlich Mitteldeutschland, wie meine Mutter sagte, schaute ich fasziniert auf diese nicht enden wollenden Äcker.

Deine Geschichte ist sehr stimmungsvoll, lietzensee, und der Schluss in einer Zukunft, die es noch nicht gibt, hat mich erst irritiert, weil es mich aus meiner Stimmung gerissen hatte, aber dann doch als stimmig empfunden.

Liebe Grüße
Petra

Besten Dank für die Aufklärung, @petrasmiles !

Schöne Grüße und noch einen schönen Abend,
Matula

Hallo Matula
vielen Dank für deine Antwort und die Bewertung. Genau, die Dimensionen sind sehr unterschiedlich, aber da ein Orbit Halleys ungefähr einem Leben entspricht, gibt es sozusagen eine Resonanz.
Vielen Dank auch für den Hinweis auf die Fehler. Das -wieder- habe ich berichtigt. Den Anderen finde ich nicht.

Hallo Petra,
auch dir vielen Dank für Kommentar und Bewertung. Stimmt, der Sprung in der Szenerie ist recht groß. Mit der Idee hatte der Text tatsächlich angefangen.
Die Abkürzungen habe ich als Temporalkolorit reingenommen. Aber Abkürzungen können leicht leicht verwirren. Vielen Dank für die Aufklärung. Ich überlege, ob ich das vielleicht auch noch mit * erkläre. Aber bin mir noch nicht sicher.
Eine Ergänzung noch: in HO-Läden konnte man normal in Ost-Mark (Aluminium-Münzen) bezahlen. Die HO in einer Stadt wäre nur größer gewesen und hätte etwas besserem Angebot gehabt, als der Dorfkonsum. Authentisch hätte Matze wahrscheinlich von einer "Kaufhalle" gesprochen. Aber direkt neben dem Stadtnamen Halle klang die Kaufhalle komisch.

Viele Grüße
lietzensee

Grüß Dich lietzensee,

"einmal alle 75 bis 79 Jahre ..."
Erläuternde Fußnoten zu Abkürzungen sind, glaube ich, nie verkehrt.
Ja, die Resonanz. Ich versuche, daraus etwas Tröstliches zu beziehen. Fällt mir aber schwer.

Liebe Grüße,
Matula

Ach ja, da habe ich H.O. mit Intershops verwechselt ...

Hallo Petra,
ja, ein Intershop wäre für Matze noch mal ein anderes Kaliber gewesen. Da wäre er wahrscheinlich gerne zu Fuß nach Halle gelaufen. Den Intershop hätte man im Text auch verwenden können. Beim Schreiben hatte ich halt eine normale Kaufhalle vor den Augen.

Hallo Matula,
ach so, ich hatte gedacht, dass "aller" bei einer regelmäßigen Widerkehr Standartdeutsch ist. Aber das sagt man wohl wirklich nur in Mitteldeutschland. Man lernt nie aus :-D Ich werde es trotzdem so stehen lassen. "alle 75 Jahre" klingt für mich so, als würde der Komet 75 Jahre hintereinander erscheinen. Lass es als Lokalkolorit durchgehen.
Ich habe unter den Text noch Anmerkungen geschrieben. Es passt zum Thema, dass diese Begriffe jetzt veraltet klingen. Aber ich verstehe natürlich auch, dass sie südlich des Thüringer Waldes nie große Relevanz hatten.

Viele Grüße
lietzensee

Selbstverständlich ! Lokalkolorit ist aufschlussreich.

Schöne Grüße nach Berlin,
Matula