Erinnerung an einen Sonntag auf dem Dorf

In die morgendliche Stille
tönt der Glocken lauter Klang,
und die Menge strömt nach Gottes Wille
in die Kirche zum Gebet und zum Gesang.

Bangen Herzens lauscht die Menge
ihres Pfarrers Rede von der Kanzel dort herab,
größere Kinder fürchten Gottes Strenge,
und ganz Große schalten in Gedanken ab.

Später vor der Kirche steht der Pfarrer,
schüttelt jedem Gläubigen die Hand,
er bedankt sich freundlich bei den Gästen
und er lächelt währenddessen unverwandt.

Überstanden ist der Sonntagmorgen
und der Mittag strahlt in voller Pracht.
Zu Hause fühlt man sich geborgen.
Und die Sonne lacht.
 
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sufnus

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Hi SilberneDelfine,
da hast Du ein höchst merkwürdiges Dorfidyll entworfen, das wohl irgendwo im 19. Jahrhundert zu verorten ist. Die durchgehend präsentische Sprache widerspricht jedoch der Lesart eines historischen Berichts (die wiederum durch den Titel sehr wohl insinuiert wird). Ich hatte beim Lesen das Gefühl, diese Kreuzung aus einem alten Ölgemälde mit dörflicher Szene und dem Teletubbyland müsse jeden Moment in ein dystoptisches Momentum kippen, aber alles blieb heil. Eine Irritation im Unschuldsgewand. Vermutlich schwang bei Dir beim Schreiben auch eine gewisse Wehmut mit, oder lese ich das falsch? :)
LG!
S.
 
Hallo Sufnus,

schön, dass du dich mit meinem Gedicht beschäftigst. :) Interessant, wie es auf dich wirkt.

Vermutlich schwang bei Dir beim Schreiben auch eine gewisse Wehmut mit, oder lese ich das falsch? :)
LG!
Nee, das liest du schon richtig. Ich beschreibe einen Sonntag aus meiner Kindheit aus einem evangelischen Dorf. Zwei Jahre lang mussten wir vor der Konfirmation jeden Sonntag in die Kirche gehen... Und damals waren die Kirchen voller als heute.
Aber ich ging damals sehr gerne in die Kirche.


LG SilberneDelfine
 

sufnus

Mitglied
Warum findest du es merkwürdig? Ich mag die Dorfidylle Ende des 19. bzw. Anfang des 20. Jahrhunderts.
Kennst du die Geschichten der Schriftstellerin Clara Viebig?
Hey SilberneDelfine,
merkwürdig (als wertneurtales Attribut einer "Unüblichkeit") fand ich das Idyllogramm, weil die konventionelle Erwartungshaltung bei Schilderungen "heiler Welten" in fiktionalen oder lyrischen Texten seit Beginn der Moderne so aussieht, dass der Leser zumindest Risse im geschilderten Idyll zu lesen erwartet, ggf. sogar die gänzliche Aufhebung der (nur scheinbaren) heilen Welt in einem dramatischen Renversement - häufig als eine Art "Pointe" gestaltet.
Dein Text verweigert sich solch einer Pointe ganz explizit. Das wirkte für mich noch umso verblüffender, weil ich von den "bangen Herzen" und "Gottes Strenge" in S2 einen Umschwung in irgendetwas Verstörendes geradezu anmoderiert fühlte. Die Verstörung (wenn man so sagen will - natürlich eine Verstörung der milden Art) bestand dann in ihrem Ausbleiben. Die Sonne lacht. Das wars.
Aufgrund Deiner Nachfrage nehme ich an, dass Du es auf diesen Effekt nicht unbedingt abgesehen hast und es ist ja gut möglich, dass meine Lesart keineswegs der Mehrheitsrezeption entspricht. :)
Was die von Dir zitierte Clara Viebig angeht, muss ich meine Ignoranz bekennen. Ganz unbedeutend scheint sie laut Wikipedia ja nun wirklich nicht zu sein, aber tatsächlich bin ich ein ziemlich monomanischer Lyrikleser. Was sich in der Welt der Epik und Dramatik an literarischen Entdeckungen machen lässt, wird mir weitgehend verborgen bleiben - nicht aufgrund einer Geringschätzung gegenüber nicht-lyrischen Werken, keineswegs, es ist nur... so viele Gedichte und so wenig Zeit... ;)
LG!
S.
 
Hallo Sufnus,

danke für deine Antwort. Jetzt verstehe ich, was du meintest. Ich hatte aber keineswegs eine solche Dystopie im Sinn:

Idyllogramm, weil die konventionelle Erwartungshaltung bei Schilderungen "heiler Welten" in fiktionalen oder lyrischen Texten seit Beginn der Moderne so aussieht, dass der Leser zumindest Risse im geschilderten Idyll zu lesen erwartet, ggf. sogar die gänzliche Aufhebung der (nur scheinbaren) heilen Welt in einem dramatischen Renversement - häufig als eine Art "Pointe" gestaltet.
Ich wollte einfach etwas aus der guten alten Zeit aus meiner Kindheit/Jugend beschreiben. Bei den Worten „Bangen Herzens lauscht die Menge" bezieht sich das Bangen bei den Erwachsenen darauf, dass sie Angst haben, dass die Predigt unendlich lang wird :), deswegen schalten sie dann in Gedanken ab. Da ist natürlich schwer drauf zu kommen, das gebe ich zu.

Und dass die Sonne lacht: Man hat es mal wieder geschafft, die Pflicht des Sonntagmorgens ist vorbei und man fühlt sich einfach super. Alles richtig gemacht (manchmal hatte ich Angst, ich müsse in der Kirche laut gähnen) und der Sonntag ist nur noch schön. Alleine deshalb ging ich damals gerne in die Kirche: wegen des tollen Gefühls, wenn man aus der Kirche wieder herauskommt.

Kein Problem, wenn du mehr Lyrik als Prosa liest. Schade finde ich es, dass Clara Viebig fast in Vergessenheit geraten ist. Auch sie beschreibt in ihren Büchern Dorfidyllen, allerdings nur auf den ersten Blick. Da brodelt es manchmal unter der Idylle - also genau das Szenario, welches du angesprochen hast.

LG SilberneDelfine
 
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