Erinnerungen

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Er stieg aus dem Auto und betrachtete die Umgebung. Die Stadt hatte sich seit damals verändert, war größer, moderner und vor allem unpersönlicher geworden. Die Gemeindehalle hatte einen schicken knallgelben Anstrich bekommen. Einen Supermarkt gab es auch, wie mehrere Hinweisschilder auf dem Parkplatz verrieten.
Pascha jaulte auf dem Rücksitz.
„Ist ja gut, Dicker." Richard öffnete die Tür, ließ den Labrador heraus und leinte ihn an. „Wir gehen jetzt spazieren, du hast lange genug im Auto gesessen." Er lachte, als von Pascha ein freudiges Bellen kam und schlug den Weg zum Park ein. Dort konnte er Pascha ohne Leine laufen lassen.
Bei dem schönen Wetter war im Park einiges los. Jede Menge Leute mit Kinderwagen und größeren Kindern und verliebte Pärchen ohne Kinder waren unterwegs. Und natürlich andere Hunde. Ein Golden Retriever lief auf Pascha zu und begrüßte ihn schwanzwedelnd, doch als ein Pfiff ertönte, drehte er sofort wieder ab. Ärgerlicherweise lief Pascha ihm hinterher und war im Nu aus Richards Blickfeld verschwunden.
„Pascha, komm!" Richard rief und pfiff, aber der Hund ließ sich nicht blicken. Das hatte er noch nie gemacht. Wenig erfreut stand Richard auf und ging ihm hinterher. Als er um die Ecke bog, sah er ihn. Pascha war stehengeblieben, streckte den Kopf in die Luft und jaulte leise vor sich hin.
Vor ihnen lag der Friedhof.
War er nicht genau deswegen hergekommen? Um sich zu überzeugen? Jäh überfiel ihn die Erinnerung. Jessica, wie sie lächelte. Jessica, wie sie sich beim Tanzen an ihn schmiegte. Jessica an ihrer beider Hochzeitstag. „Ich habe den besten Mann der Welt geheiratet!"
Mit Jessica in Urlaub, mit Jessica auf dem Schiff, mit Jessica am Strand. Jessica, Jessica, Jessica. Bilder tanzten vor seinem geistigen Auge. Er zog das Gatter des Friedhofs auf.
Kurzerhand band er Pascha am Gatter fest.
„Dauert nicht lange, Dicker."
Er lief fast durch die Reihen der Gräber, bis er an Jessicas stand.

Jessica Richter
geboren 12.08.1970
gestorben 01.04.2O12

Er seufzte auf. Jemand, wahrscheinlich der Friedhofsgärtner, schien das Grab zu pflegen. Oder Jessicas Eltern kümmerten sich darum. Es sah hübsch aus, Narzissen und Stiefmütterchen blühten um die Wette. Er hatte sich vor dem Anblick gefürchtet, hatte befürchtet, das Grab könne aufgebrochen worden sein, nachdem er gestern die Zeitung gelesen hatte.
Langsam ging er zurück.

Zu Hause warf er die Zeitung von gestern mit Schwung ins Altpapier. Sie landete mit der Schlagzeile nach oben: „Mord nach acht Jahren kurz vor der Aufklärung?" Er griff nach der Zeitung und drehte sie um.
Pascha kam angetrabt und stupste ihn an. Richard streichelte ihn. „Du merkst immer, wenn etwas nicht stimmt." Wahrscheinlich war der Hund klüger als alle Menschen, die er kannte. Er ließ sich in seinen Sessel fallen und starrte auf den Fernseher.
Aber was er sah, war das letzte Bild vor Jessicas Tod: Jessica, wie sie unter ihm zappelte und verzweifelt versuchte, das Kissen weg zu drücken, das ihr die Luft abschnitt.
 
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