Erlebnis

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Rügenrabe

Mitglied
Erlebnis

Der Morgen erwacht am Horizont
die Sonne nährt das Licht
das Ostseemeer am Ufer strandet
der Stein die Wellen bricht.

Ein Windhauch durch die Dünen streift
vor ihm beugt sich das Gras
Möwen fliegen schreiend laut
sie haben sichtlich Spaß.

Wolken stehen am Himmel hoch
der neue Tag er tut sich schwer
mich erquickt der kühle Morgen
ich schau noch lange übers Meer.

Horst Husner
 

sufnus

Mitglied
Hey! :)

Der Groschen ist jetzt bei mir soweit gefallen, dass Rügenrabe gerne seinen Dichtstil unbeeinflusst von kritischen Kommentaren durchziehen möchte. Insofern kommentiere ich jetzt seine Gedichte nur noch dann, wenn ich den Eindruck habe, dass man etwas für die Allgemeinheit Lehrreiches an ihnen demonstrieren kann.

Bei diesem Gedicht fällt mir eine Sache ganz besonders auf: Jede Zeile bildet einen in sich abgeschlossenen Hauptsatz.
Durch den Verzicht auf Nebensätze wird ein Schreibstil schon sehr "trocken" und "karg". Dieser Effekt steigert sich dann aber noch weiter, wenn die Hauptsätze gänzlich unverbunden hintereinander gereiht werden, jeder Hauptsatz also sozusagen mit einem Punkt oder Semikolon abschließt und nicht mit einer parataktischen Beiordnung (wie dem Wörtchen "und") Anschluss an einen Folgesatz sucht. In Horsts Gedichtbeispiel ist diese Unverbundenheit grammatisch realisiert, auch wenn das entsprechende schließende Satzzeichen weggelassen wurde (was bei Gedichten eine durchaus akzeptierte Praxis ist).
Das Kargheitsmaximum wird dann in der Lyrik erreicht, wenn die unverbundenen Hauptsätze (wie in Horsts BeispRiel) jeweils genau eine Gedichtzeile lang sind.

Wenn man mich zwänge, einen ganzen Lyrikband mit solchen ultrakargen Hauptsatzgedichten zu lesen, würde ich zweifelsohne während der Lektüre langsam mumifizieren und wäre anschließend nur noch durch eine sofortige Notfallbehandlung mit einem Langgedicht im Bogenstil zu retten, aber in vorsichtiger Dosierung genossen empfinde ich solche Gedichte im Prinzip - geradea aufgrund ihrer "unpoetischen" Art - als interessant und anregend. Ich empfehle das durchaus zur gelegentlichen Nachahmung - und sei es auch nur als spielerische Übung.

Leider hat Rügenrabe den an sich spannenden Effekt durch wiederholte Verbinversionen kaputt gemacht.
In einem Hauptsatz das konjugierte Verb üblicherweise in der Nähe des Subjekts steht. Ein vom Subjekt weit entferntes Verb bei einem Hauptsatz nicht gut klingt. Es sogar eine ungewollt komisch Wirkung entfaltet. Manchmal nach der Filmfigur so etwas als Yoda-Sprech bezeichnet wird. Yoda ja auch in der Episode V zunächst als komische Figur auftritt. Von solch einem Stil ich in einem Gedicht dringend abrate. Das also nur zur Erzielung einer schräg-komischen Wirkung schlau wäre.

LG!

S.
 

petrasmiles

Mitglied
Nun, lieber Sufnus,

vielleicht gehts Du da mit zuviel 'Wissen' im Gepäck an dieses Gedicht.

Vielleicht sehe ich es aber auch so, dass die Poetik nicht in den Worten, sondern in der Empfindung liegt - oder zumindest liegen kann.

Ich habe als Leserin den Eindruck, einem mit Worten vermittelten persönlichen Moment beizuwohnen, wie jemand sich vom Naturerleben durchströmen lässt, vielleicht sogar sich selbst in diesen Momenten wieder-findet, oder verortet, wo er hingehört.

Ich habe leider eher mit den Bildern Schwierigkeiten, ein Windhauch, der Gras niederdrückt oder das Kreischen der Möwen als 'Spaß haben' bezeichnen ... aber das wird für mich vom letzten Vers 'gerettet' 'Ich schau noch lange übers Meer', das ist doch Poesie pur.

Liebe Grüße
Petra
 

sufnus

Mitglied
Ah... ich bin immer froh, wenn ich von Dir lese, Petra! Dein Widerspruch ist äußerst bereichernd für meine naturgemäß einseitige Sicht. Ich mag das sehr. :) (halte aber daran fest, dass Reim- oder Klang- oder Rhythmus-geschuldete Inversionen in einem Gedicht, das keine komische Lyrik sein will, eine überaus stimmungskorrodierende Wirkung entfalten)
Das "ich schau noch lange übers Meer" mag ich aber auch durchaus und es ist wirklich ein schöner, poetischer Moment. Grad drum hätte es sich ja so gelohnt, diese Invertiererei wegzulassen. Das ist wie eine an sich schöne Himbeer-Sahnetorte, die mit billigem Fleischsalat übergossen wurde. :eek:

LG!

S.
 

petrasmiles

Mitglied
Lieber Sufnus,

in diesem Gedicht gibt es kaum Inversionen und sie fallen daher gar nicht so ins Gewicht (wie in einem anderen, von Dir sehr explizit verrissenen) und um eine HImbeersahnetorte zu zerstören, kann man auch den teuersten Fleischsalat nehmen und rettet nichts :D

Gib Dir mal nen Ruck.

Liebe Grüße
Petra
 

Rügenrabe

Mitglied
Nun, lieber Sufnus,

vielleicht gehts Du da mit zuviel 'Wissen' im Gepäck an dieses Gedicht.

Vielleicht sehe ich es aber auch so, dass die Poetik nicht in den Worten, sondern in der Empfindung liegt - oder zumindest liegen kann.

Ich habe als Leserin den Eindruck, einem mit Worten vermittelten persönlichen Moment beizuwohnen, wie jemand sich vom Naturerleben durchströmen lässt, vielleicht sogar sich selbst in diesen Momenten wieder-findet, oder verortet, wo er hingehört.

Ich habe leider eher mit den Bildern Schwierigkeiten, ein Windhauch, der Gras niederdrückt oder das Kreischen der Möwen als 'Spaß haben' bezeichnen ... aber das wird für mich vom letzten Vers 'gerettet' 'Ich schau noch lange übers Meer', das ist doch Poesie pur.

Liebe Grüße
Petra
Mein Kommentar zu dieser Hilflosigkeit !!
ein Windhauch, der Gras niederdrückt oder das Kreischen der Möwen als 'Spaß haben' bezeichnen .

Wer gendert und als Linguist Größe zeigen will, aber nicht weiß, das Tiere spielen wie kleine Kinder, der ist arm dran. Auch sollte er in der Natur den Wind beobachten, was dieser mit den Gräsern macht. Erfahrung fördert die Phantasie.
 
E

evermore

Gast
Hey @Rügenrabe

Ein Gedicht, das sich anfühlt wie die vertonte Rückseite einer Postkarte – bloß ohne Briefmarke, ohne Absender, und vor allem: ohne Notwendigkeit.

Ja, das Meer ist da, der Wind weht, das Gras tut, was es immer tut (sich beugen), und die Möwen fliegen laut, weil sie eben nichts anderes können. Naturbericht mit Reimzwang. Noch dazu ein passives lyrisches Ich.

Warum existiert dieses Gedicht? Was wurde durchlitten, durchdacht, durchstoßen, durchlebt? Wurde ein Gefühl in Sprache gegossen – oder nur ein Tagesausflug?

Die Sprache bleibt auf sicherer Distanz, poetisch ganzkörperverhüllt – nichts kratzt, nichts fordert, nichts überrascht. Ich teile Sufnus Kritik hinsichtlich der formalen und sprachlichen Geataltung.

Wenn „ich schau noch lange übers Meer“ der dramatische Höhepunkt ist, hätte ich es lieber als Instagram-Caption gelesen.

Mein Vorschlag: Weniger berichten, mehr beben. Lass die Form nicht tragen. Das Meer ist kein Screenshot und hat mehr zu bieten.

Vielleicht stirbt beim nächsten mal ne Möwe oder so? Die Schreie könntest du lassen. Oh, lass doch den Himmel schreien, nicht nur die Vögel.

-evermore



PS.: Wenn das Meer was sagen könnte, es würde bitten, endlich mit dem Gucken aufzuhören und entweder reinzuspringen oder den Horizont zu überdenken.
 

sufnus

Mitglied
Hm... ich stehe nach meinen bisherigen Einschätzungen und Kommentaren zu Rügenrabes Gedichten nicht im Verdacht, ein unobjektiver Claqueur zu sein - aber Deiner hier entworfenen Poetologie, evermore, Stichworte "durchlitten" oder "mehr beben", würde ich auch nicht so ganz folgen wollen. Ein Gedicht, in dem gebebt wird, ist in aller Regel (natürlich mit gewichtigen Ausnahmen) eher ein Fall für komische Lyrik und, wenn es sehr dumm läuft, leider auch manchmal für unfreiwillig komische Lyrik.
Schon richtig: In Gedichten darf auch gestürmt und gedrängt werden und ein paar Gedichte, die in jugendlicher Wildheit von Autor*innen ganz unterschiedlichen Alters geschrieben wurden, halten sogar einem mehrmaligen Lesen stand, aber oft genug geht's halt schief.
Da Du aber selbst hier auch schon einige wunderbare Gedichte eingestellt hast, evermore, die nicht von Erbebungen beben, hast Du mit Deinem Hinweis womöglich (oder gar vermutlich?) auch kein Grundsatzprogramm für Lyrik formulieren, sondern nur zum Ausdruck bringen wollen, dass Du speziell bei diesem Gedicht mehr "Bebung" an Bord hättest haben wollen. Dann ist meine ganz Anmerkung eigentlich unnötig gewesen. Aber jetzt hab ichs schon in die Tasten gehauen ... ;)
LG!
S.
 
E

evermore

Gast
Hey @sufnus

du liest präzise zwischen den Zeilen – ganz richtig: Mein Kommentar war kein Aufruf zur generellen Erdbebenpflicht für die Lyrik, sondern eine sehr spezifische Reaktion auf die emotionsentkoppelte Schilderungsroutine dieses Textes. Ich wollte keine ästhetische Grundsatzrede halten, sondern nur darauf hinweisen, dass mir hier die Notwendigkeit des Gedichts – sein Warum überhaupt? – fehlte.

Wenn ich „Beben“ fordere, dann nicht als plakatives Gefühlstheater, sondern als poetische Spannung: ein Riss, durch den Erkenntnis dringt.

Ein Gedicht darf gerne still sein – aber es muss eine Stille sein, die klingt. Nicht eine, die gähnt.

Deine Anmerkung war also nicht unnötig – sie war ein guter Anlass, die Differenzierung nachzureichen.

Herzlich
evermore
 

mondnein

Mitglied
die emotionsentkoppelte Schilderungsroutine dieses Textes
im Grunde geben die aneinandergereihten Hauptsätze nicht besonders viel her, weder an Erstaunlichem, noch an Überraschung oder Gegenstrich.

"Hund beißt Mann" ist kaum meldenswert, "Mann beißt Hund" schon eher. Ich empfehle eine Umstülpung der Aussagen, etwa als Versuch, den Leser aufzuwecken:

Der Horizont erwacht am Morgen
das Licht nährt die Sonne
am Ostseemeer strandet das Ufer
den Stein bricht die Welle
jetzt wirds langsam interessant
 

trivial

Mitglied
Rilke in seinen „Briefen an einen jungen Dichter“:

> Ein Kunstwerk ist gut, wenn es aus Notwendigkeit entstand. In dieser Art seines Ursprungs liegt sein Urteil: es gibt kein anderes. Darum, sehr geehrter Herr, wußte ich Ihnen keinen Rat als diesen: in sich zu gehen und die Tiefen zu prüfen, in denen Ihr Leben entspringt; an seiner Quelle werden Sie die Antwort auf die Frage finden, ob Sie schaffen müssen.



> Mir scheint alles betont nach seinem Recht; und schließlich wollte ich Ihnen ja auch nur raten, still und ernst durch Ihre Entwicklung durchzuwachsen; Sie können sie gar nicht heftiger stören, als wenn Sie nach außen sehen und von außen Antwort erwarten auf Fragen, die nur Ihr innerstes Gefühl in Ihrer leisesten Stunde vielleicht beantworten kann.



Notwendigkeit scheint mir kein Maßstab, den man von außen anlegen kann – und nicht sollte.
 
E

evermore

Gast
Hey @trivial

Ja, die Notwendigkeit ist keine äußere Forderung, sondern ein innerer Ursprung. Ein Kunstwerk muss nicht mir gefallen – es muss dem Schaffenden not-wendig gewesen sein.

Aber, und hier liegt mein Punkt, wenn ein Werk öffentlich wird, verlässt es das stille Zimmer. Dann darf, ja muss, auch gefragt werden: Was sucht es hier draußen? Wenn ein Gedicht mir begegnet, fragt es auch mich, ob ich etwas darin finden kann – und wenn ich nur Landschaft und Reim entdecke, aber keinen inneren Riss, dann ist meine Kritik kein Urteil über das Innenleben des Autors, sondern ein Echo auf das, was das Gedicht mir sagt. Oder eben: nicht sagt.

VG
evermore
 
Vielleicht stirbt beim nächsten mal ne Möwe oder so? Die Schreie könntest du lassen. Oh, lass doch den Himmel schreien, nicht nur die Vögel.
Hallo evermore,

warum muss unbedingt jemand - und sei es nur eine Möwe - sterben, damit ein Gedicht gut wird?

Interessiert mich wirklich.

Schöne Grüße
SilberneDelfine

Hallo Sufnus,

zur Form des Gedichtes hast du alles gesagt, vielen Dank dafür. Ich nehme aus deinen Erläuterungen immer etwas mit.

Schöne Grüße
SilberneDelfine
 
Zuletzt bearbeitet:
E

evermore

Gast
Guten Morgen @SilberneDelfine

Niemand muss sterben – weder Möwen noch Menschen noch das LI selbst. Was sterben muss, ist die poetische Belanglosigkeit. Die saturierte Unbewegtheit. Die Spaziergangsästhetik.

Meine Bemerkung zur Möwe war, offensichtlich, Ironie, aber nicht zur Belustigung, sondern als Abschreckung: gegen die falsche Art, Kritik zu beherzigen. Gegen den Reflex, Tiefe durch Eskalation zu simulieren. Ich wollte sagen: Wenn du meine Anmerkungen so umsetzt, dass du beim nächsten Mal eine dramatisch kollabierende Möwe in die Zeilen setzt, dann haben wir beide verloren – du die Sprache, ich den Glauben an Resonanz.

Schöne Grüße,
evermore
 
Ich wollte sagen: Wenn du meine Anmerkungen so umsetzt, dass du beim nächsten Mal eine dramatisch kollabierende Möwe in die Zeilen setzt, dann haben wir beide verloren – du die Sprache, ich den Glauben an Resonanz.
Hallo evermore,

also war dein Vorschlag an Rügenrabe ironisch gemeint.
OK, das hatte ich nicht verstanden. Danke für die Erklärung.

LG SilberneDelfine
 



 
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