Erwartungen

Rain-

Mitglied
Wir standen am Fenster, als der Regen mit wütendem Schwung gegen das saubere Glas peitschte. Zu sehen war nichts, aber dennoch erkannten wir das, was wir hofften der Regen würde wegwaschen. Regen. Waschen kann man wohl verdreckte Kleidung, aber keine verschmutzten Gedanken, die sich dennoch ähnlich wie Wäsche in einem Wäschekorb in einer lichtfremden Ecke des Gehirns stapeln, bis der Gedanken-Korb überquillt und unser Denken flutet. Fluten und Überschwemmungen gibt es regelmäßig in flussnahen Gebieten im Orient, oder Okzident, wer weiß das schon so genau – und was jucken uns diese Schicksale. Sozialabgaben. Ich stand im 4. Stock an meinem Fenster. Draußen Regen. Draußen Überschwemmung. Drinnen Überwältigung.
„In einer Stunde werden sie wohl da sein.“, sagte meine Freundin mit freundlicher Stimme und freundlichen Augen. Wie unfreundlich.
„Das habe ich befürchtet“, antwortete ich zögernd.
„Gut, dass es nur 2 Tage sind!“, ergänzte ich mit einer verzweifelten Handbewegung.
Sie bewegte sich elegant in Richtung Küche und ließ mich im Regen stehen. Genau genommen ja, am Regen, denn das 10 mm dicke Glas trennte mich und den Regenfall. Einige Zeit später war unser Besuch bereits eingetroffen.
Freunde, die Freunde waren, weil sie aus einer Zeit stammten, in der Freundschaften noch in Stein, nicht in die Tasten eines Smartphones gemeißelt wurden.
Freunde, die Freunde waren, weil wir Freunde waren.
Freunde, die nach anderen Definitionen eher zu Bekannten, oder, der Thomas und die Geographiestudentin gezählt würden.

Frijond (germ.) bedeutet Verwandter und Verwandtschaft im Geiste, das ist Freundschaft.

Lange nicht gesehen. Interessant. Was macht Ralf jetzt. Interessant. Ihr habt euch ein teures Auto gekauft. Interessant. Ralf schreit immer ununterbrochen, wenn er mitfahren muss. Interessant. Deine Oma kümmert sich um Ralfs Bedürfnisse. Interessant. Ralf war schon immer eine großartige Katze.
Als der Regen endlich stoppte, kam mir eine brillante Idee, um uns aus dieser Situation zu befreien, die ähnlich anmutete wie das Loseisen von Menschen, die einem auf der Straße für arme Kinder ein Abo verkaufen wollten und dann doch nur alles Geld in die eigene Tasche steckten. Wir legten einen Regenschirm in die Tasche meiner Freundin und zogen uns Schuhe über die Füße.

Wir gingen durch den Park. Plötzlich ergriff ein Ast die Jackentasche von Thomas, fest entschlossen zu erfahren, was dieser wohl darin versteckte. Knospen? Stickstoff? In ihm keimte Wut, die letztlich aus seinem Mund herausspross. Nicht wie zarte Knospen, eher wie ein dicker, alter Baumstamm, unbeweglich und starr. Starr in seiner Überzeugung Unrecht erfahren zu haben.
„Mann, du blöder Baum, was greifst du in meine Tasche! Ist das etwa deine Masche? Nimm dich bloß in Acht! Ich habe mehr Moos auf meinem Konto als alle deine Freunde an ihren Stämmen! Das geht nur so lange bis einer nicht mehr lacht!“, gestikulierte Thomas wild.
Auf Moos wächst keine Gerechtigkeit.
Aus Angst vor den Menschen, die nicht gerade als Baumfreunde bekannt sind, zerschlitzte der Ast aus Versehen und geradezu voller Scham die Jackentasche des Ärztesohns. Seine Wut wurde zu Hass, der aus ihm erblühte und sich gegen etwas zu richten ersuchte, das er zerstören, oder zumindest beschädigen könnte. Thomas nahm kein Blatt vor den Mund und ging zum ersten Mal in seinem Leben direkt und geradlinig auf etwas zu. Passion. Studium. Passt das zusammen?
Dort stand ein Fahrrad und sonnte sich.
Dort fiel ein Fahrrad zu Boden.
Seine Wut tat es dem Fahrrad gleich. Wenn uns Schaden widerfährt, der uns als ungerecht erscheint, fühlen wir uns machtlos, wollen die entstandene Aggression gegen das Ereignis abbauen, gegen das Ereignis richten. Etwas zerstören. Wir schlagen gegen Hauswände, die aber standhaft bleiben und nicht zerfallen, sie behalten die Oberwand. Wir fühlen uns machtlos. Wir treten Fahrräder um, ja, zwei Räder verbunden durch Blech und Aluminiumstangen. Wir sind die Mächtigen, auch wenn das einzig mächtige das Frühstück war. Wir kontrollieren, ob der Drahtesel weiter am Fahrradständer mit seinen Artgenossen grasen darf. Drahtesel lieben sonnige Tage bei 22 Grad mit leichtem Wind aus Nord-Ost. Das alte Fahrrad schlug auf den harten Boden auf.
Das alte Fahrrad lachte, denn es wusste ganz genau, dass er ihm nur Gewalt antat, weil er sauer auf seinen eigenen Wutfrühling und sein Hasssprießen war.
Der Esel war unser Thomas.
Der Draht lag am Boden.

Nach kurzem Fußmarsch bogen wir westlich auf einen großen Platz ein, auf dem sich mehrere Sportanlagen, Bänke und Ecken befanden. An verschiedenen Ecken trafen sich die verschiedensten Menschen, manche mit Ecken, manche mit Kanten, manche mit Bekannten. Die Welt verlangsamte sich an diesem Ort für die Menschen, die ihn schätzen, die ihn suchen und ihn pflegen, die ihn Zuhause nennen und doch eine andere Heimat besitzen. Wir beschleunigten unser Schritttempo auf nonverbales Drängen unserer Gäste.
Das echte Leben zu erleben, überlebt man nicht immer, denken sie sich bestimmt.
Die Geographiestudentin sprach leise mit angewiderter Stimme: „Was für ein Leben!“.
Ich sehe junge syrische Kinder, die im Staub neben dem Bolzplatz spielen, als hätten sie noch nie etwas Schlechtes erlebt.

Der Staub in Ehingen ist nicht so trocken wie in Aleppo.
Der Staub in Ehingen ist nicht so heiß wie in Aleppo.
Der Staub in Ehingen ist nicht so rot wie in Aleppo.
Der Staub in Ehingen ist nicht wie in Aleppo.

Ich sehe russische Männer, die auf Bänken sitzen und über Politik diskutieren, was für deutsche Ohren klingen mag, wie Menschen, die einen Plan aushecken, um die nahegelegene Tankstelle auszurauben. Ich sehe italienische Kinder, die auf dem Bolzplatz Fußball spielen und dabei in einer Lautstärke kommunizieren, die deutsche Ohren als einen ausgewachsenen Streit wahrnehmen. Rassismus.
Was für ein Leben!
Kinder und Männer die im Staub spielen haben klare Sicht auf die Welt, die hinter dem großen Platz meist endet, während die, die auf staubfreien Straßen sich im Individualverkehr bewegen, trotz eingebautem Luftfilter Staub in den Augen haben. Sie sind auf dem sozialen Auge blind wie ein syrischer Rebell, der verliebt einer Blendgranate bei der Explosion beiwohnte. Wohlstand scheint mir eine psychoaktive Substanz zu sein, die mit höherer Dosierung zunehmend zur Schrumpfung der Menschlichkeit beiträgt.
Was für ein Leben!
„Hast du bereits vergessen? Mir steht es nach einem deftigen Essen!“, dröhnt die Stimme von Thomas. „Wenn ich nicht bald was zwischen die Zähne kriege, mache ich die Biege. Da könnt ihr euch sicher sein! Mir ist egal ob Pute, Kalb, Kamel oder Schwein!“.
Was für ein Leben!

Fahrt schon mal Essen holen, wir warten in der Wohnung auf euch. Das war der Leitgedanke. Ob meine Freundin das tat, um Thomas, oder sich selbst zu beruhigen, blieb mir ein Rätsel.
Die Geographiestudentin und ich standen an einer Bushaltestelle in Ehingen.
Die Geographiestudentin fragte mich nach einiger Zeit: „Wo ist eigentlich die schwäbische Alb?“.
Die Geographiestudentin und ich standen an einer Bushaltestelle in der schwäbischen Alb.
Studiengänge als Label der Wertigkeit, als Aushängeschild des gesellschaftlichen Status, nichts mehr als Abziehbilder von Werdegängen und verwaschenen Träumen. Werden Träume klarer und sauberer, wenn sie gewaschen werden?
Die Geographiestudentin hatte eine West-Ost-Schwäche. Orientierungslos auf Landkarten und im Leben, wobei ihre Meinungen im Vergleich zu Google-Maps bloß eindimensional erschienen. Ihr Gehirn glich einem Kompass, dessen Norden sich an der Aufhängung der Nadel zu befinden schien. Ein Kopernikus-Gedanke war in ihrer Denk-Basis so weit entfernt wie Liverpool von Lampedusa. Geozentrisches Weltbild. Während sich das gesamte Universum, um sie zu drehen schien, so dachte ich, blieb meine Welt stehen. Kopernikus-Leugner machten mir immer noch schwer zu schaffen.
Die Geographiestudentin hasste Kopernikus wegen dieser Geschichte mit der Erde und der Sonne.
Die Geographiestudentin hasste Albert Einstein wegen dieser Geschichte mit der Raum-Zeit.
Die Geographiestudentin hasste Emil von Behring wegen dieser Geschichte mit der Immunisierung.
Die Geographiestudentin und ich standen an einer Bushaltestelle in Ehingen.

Ein Restaurant, in dem lecker zubereitete Speisen, sowie ein Gefühl serviert wurden, mit dem man sich fühlte, als äße man Gemüse direkt aus der weichen Hand des fair bezahlten Bauern, der dabei sanft grinst und glücklich sei.
„Ich kenne einen guten Libanesen! Der hat ausgezeichnete Schawarma, in allen erdenklichen Ausführungen. Ebenso neu wie delicious, ist ein syrisches Lokal auf der Kreuzung Staub-Allee und Hoffnungsstraße!“, sagte ich erwartungsvoll, in der Hoffnung, zwei Auswahlmöglichkeiten würden ihr genügen. Zwei Auswahlmöglichkeiten sind selten genügend.
Die Geographiestudentin antwortete: „Nein. Auf asiatisch habe ich keine Lust.“
Die Wahl fiel schließlich auf ein Restaurant, das mit erlesenen Speisen, zu erkennen an einem belesenen Kellner, aufwartete.

Zum Moos.
Verlesen.
Zum Moose.
Ah, Englisch! Ein kanadisches Lokal.
Super! Südamerikanische Spezialitäten.
Es gab Goose.

Nachdem wir so lange die Speisekarte studierten, dass diese Angst hatte, sich selbst in einer Prüfungssituation wiederzufinden, sagte ich: „Und, ist was dabei?“, wohl wissend, dass die Liste an Speisen mehr als 150 zählte. Aber unsere Geographiestudentin lehnte Kopernikus ja ohnehin ab.
Wir bestellten also vier Gerichte, über die wir zuhause in allen Details richten würden, um uns, nachdem wir einiges an Moos loswurden, den Weg nach Hause zu bahnen.
Auf der langen Gerechtigkeits-Allee saßen wie auf einem Schachbrett Obdachlose, die in ihrem Leben wohl mehrere falsche Schachzüge tätigten. Bauernopfer. Ihre Hoffnungen auf ein erfülltes Leben wurden schachmatt gesetzt. Die Obdachlosen saßen nicht auf weichem Moos, sie saßen auf hartem, kaltem Asphalt, denn hätten sie Moos, würden sie nicht auf hartem Asphalt sitzen, wahrscheinlich eher auf harten Stühlen im Moose.
Die Straßennamen waren bloß ausgedacht. Gegenteilige Straßennamen, um die Message zu unterstreichen. Interessant.
Wir stellten uns vor, wie der Herbst die Obdachlosen und deren Träume wie bunte Blätter von der Straße wehte, weit weg, weit weg in die Existenzlosigkeit. Bedeutungslos waren sie bereits. Ich blickte in den Himmel und wünschte den Obdachlosen eine gute, letzte Reise, und hoffte, dass sie nicht mit einem Storch kollidierten. Schnäbel sind schmerzhafte Kollisionspartner.
Wie auf glühenden Kohlen bahnten wir uns an einem lauen Aprilabend unseren Weg durch die Obdachlosen-Allee. Wir achteten penibel darauf, dass wir sie nicht berührten, aus Angst uns könne das Schicksal derer, die nur gerne etwas weicher sitzen würden, wie ein Virus infizieren.

Wohlstand scheint mir wie eine Impfung. Eine aktive Immunisierung gegen Mitgefühl.
Wohlstand scheint mir wie Seifenlauge. Einfach reinpusten und in einer Blase leben.

Das Ende der Kapitalismus-Allee war erreicht.
Die Obdachlosen lachten so laut, dass die Eichhörnchen aus den Baumkronen auf die nahegelegene Stadtmauer flüchteten. Welch ein lärmendes Gewissen.
Als wir uns umdrehten, war die Alle menschenleer.
Ein Drahtesel lehnte lässig an einer Laterne.
Ein Eichhörnchen spielte auf dem Asphalt.

Zuhause.
„Und, wie schmeckt es euch?“
„Gut, aber zu wenig Salz.“
„Mir ist es etwas wenig Pfeffer. Und was ist das grüne da?“
„Ich finde es sehr lecker“ entgegnete ich.
„Nächstes mal bestellen wir was bei dieser teuren Pizzeria, die ist bestimmt besser!“
Pfeffer. Salz. Gold.
Fisch. Mehl. Glas.
Muskat. Pistazien. Beton.
Olivenöl. Wein. Silizium.
Paprika. Zwiebeln. Plastik.
Ich ging aus der Küche und schloss die Küchentür hinter mir.
Thomas und die Geographiestudentin verschwanden aus meinem Leben. Ihre Stimmen wurden leiser, ich wurde leichter.

Ich stand vor meinem Fenster und blickte durch das dreckige Glas nach draußen.
Es regnete leicht, als wolle das vom Himmel fallende Wasser Autos und Laternen sanft streicheln.
Ich öffnete das Fenster, um besser sehen zu können und den Wind und Regen im Gesicht zu spüren.

Im Regen stehende Autos beginnen zu rosten,
wer kann, rette sich vor diesen Kosten,
all die schönen Dinge: Lenkrad, Armatur,
benötigen nun eine Reparatur;
Ein Automobil soll nicht fahren,
es soll uns retten, gar bewahren;
Also stehe ich hier auf meinem Posten,
und schaue zu, wie die Autos beginnen zu rosten​

Nach einiger Zeit hörte ich unbeschwertes, erleichtertes Lachen.
Ich beugte mich vorne über und blickte nach unten. Nicht von oben herab. Einfach nur nach unten:

Ein Obdachloser auf seinem Drahtesel.
Ein Obdachloser auf seinem Drahtesel lachte.
Ein Obdachloser auf seinem Drahtesel lachte laut.
Ein Bankier schlenderte still an ihm vorbei.
Beide waren gleichermaßen durchnässt, aber unterschiedlich lebendig.
Beide waren Menschen. Waren beide Menschen?
Der Bankier schien stehen zu bleiben.
Der Bankier lud mit einem freundlichen Grinsen den Obdachlosen, seinen Drahtesel und sein Eichhörnchen zu sich nach Hause zum Abendessen ein. Serviert wurden Hoffnungen und Träume.
Utopien.
Auf Moos wächst keine Gerechtigkeit.
 



 
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