Erzähler mit Bart

Die Dinge kamen doch in Fluss. Die Mutter brach mit jahrzehntelangen Gewohnheiten. Neue Dinge wurden angeschafft, erstmals auch ein Fernsehgerät. Das war ein Jahr nach dem Tod des Vaters. Vorher hatte sie es mit Lektüre versucht und Manfred bei einem seiner nun häufigeren Besuche gebeten, ihr ein geeignetes Buch zu besorgen. Die Bestände im Haus seien ausgelesen. Nach Liebesromanen stehe ihr der Sinn. Manfred errötete innerlich und fragte nach Autoren, die sie schon kannte und die ihr gefallen hatten. Da waren aus dem großelterlichen Haushalt Werke von Ganghofer und Anzengruber.

Er fuhr am Tag danach ohnehin nach Würzburg, um eine Ausstellung zu besuchen. Von Ganghofer, von Anzengruber mussten sich leicht weitere Bücher finden lassen. Doch die Buchhandlungen, die er kannte, enttäuschten ihn. Beide Autoren waren offenbar längst aus der Mode, nichts von ihnen vorrätig. Zum Bestellen oder späteren Abholen fehlte ihm die Zeit. Da entdeckte er im Modernen Antiquariat einen dicken Band mit Erzählungen von Turgenjew. Das war, dachte er, kein schlechter Ersatz.

O nein, ein Russe, entfuhr es der Mama, das soll ich lesen?! Und wie der schon aussieht: mit Bart! Das ist nichts für mich. Ich wollte doch einen Liebesroman. Aber die fünf Mark bekommst du trotzdem. - Vielleicht hatte ja auch Anzengruber einen Vollbart getragen, doch tat er es nicht auf dem Einband seines Buches. Bei Manfreds späteren Besuchen waren die ungelesenen Erzählungen zwischen die billigen Unterhaltungsromane eingereiht, und der Rücken mit den schwarzen Großbuchstaben von unten nach oben: TURGENJEW starrte ihn jedes Mal aufdringlich-vorwurfsvoll an, wenn er im Sessel saß und sein Blick auf jenes Monstrum aus den siebziger Jahren fiel, die Schrankwand aus Palisander.

Bei einem Telefonat bekam er es noch einmal unter die Nase gerieben. Ingrid habe ein Buch für sie besorgt: Komm zurück, Frühling von damals von Britta Heim-Knaller. Ein wunderbares Buch, und es war Ingrid von der Buchhändlerin in Neustadt als besonders geeignet für Witwen ab siebzig empfohlen worden. Ja, so machte man das.
 
S

steky

Gast
Hallo, Arno!

Ich lese hier eine Geschichte über eine Frau, die es bevorzugt, billig unterhalten zu werden, während der Sohn hingegen wohl höhere Ansprüche hat.

Das war’s für mich auch schon. Es gelingt mir leider nicht, tiefer in diese Geschichte - die in Zeiten spielt, wo es noch den DM gab - einzudringen. Vielleicht hätte ein geeigneter Titel die Sache erleichtert?

Die Aufzeichnungen eines Jägers hätten der Mutter sicher gefallen, da bin ich mir sicher.

LG
Steky
 
Danke, Steky, für dein Resümee. Du hast das Wesentliche ja schon erfasst.

Nur das noch: Wie die Witwe erkennen lässt, gab es bei uns Russophobie schon zu Zeiten der D-Mark. Mag auch ihr Gatte lebend und unverletzt aus dem 2. Weltkrieg heimgekehrt sein, während 13 Millionen sowjetische Soldaten fielen - so war gerade das nur ein Grund mehr, keine Bücher russischer Autoren zu lesen.

Freundliche Grüße
Arno Abendschön
 



 
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