Es fährt kein Bus nach Rahnsdorf

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Sie ist mir vorher gar nicht aufgefallen. Ich stehe am Bahnhof Karlshorst und warte auf den Bus 296 nach Friedrichsfelde, da spricht mich die Fremde an: „Geht hier der Bus nach Rahnsdorf?“ – „Nach Rahnsdorf?“ frage ich entgeistert zurück. „Dahin kommen Sie von hier nur mit der S-Bahn.“ Und deute auf den Bahnhofseingang hinter uns. Aber sie macht keinen Gebrauch von meiner Auskunft und ihre Miene ist so unbefriedigt, dass ich mich gleich abwende. Soll sie sehen, wie sie weiterkommt … Klar, ich hätte es besser erklären können. Berliner gelten als kurz angebunden, machen sich damit unbeliebt? Nun, ich selbst bin hier weder geboren noch aufgewachsen, darf also ruhig schnippisch sein …

Jetzt kommen die richtigen Berliner zum Zug. Die Unbekannte steuert schon den nächsten Passanten an, Auskunft heischend. Wo findet sie den Bus nach Rahnsdorf? Kopfschütteln als Antwort und danach einige Sätze – er ist geduldiger als ich, hat aber ebenso wenig Erfolg: Statt im Bahnhof zu verschwinden, wechselt sie nun die Straßenseite und geht auf ein Taxi zu. Damit scheint das Problem einer Lösung nahe …

Sie steigt ein, doch das Taxi fährt nicht los. Stattdessen greift der Fahrer nach einem Stadtplan und beginnt mit langen Erklärungen. Drei, vier Minuten geht das so, er weist mit der Rechten wiederholt auf das Bahnhofsgebäude und sie steigt endlich aus, überquert die Straße erneut und betritt tatsächlich die obskure Station. Gute Reise nach Rahnsdorf …

Ach, sie ist schon wieder an der Haltestelle. Nun darf eine Dame sich ihr widmen. Sie bereden es ausführlich, von Frau zu Frau, ohne dass ich viel verstehe. Die Dame kann ihr auch bloß sagen: „Es fährt kein Bus nach Rahnsdorf – aber die S-Bahn, nur fünf Stationen!“ Diesmal müsste sie der Auskunft doch Glauben schenken. Tatsächlich bleibt sie drinnen, während mein Bus an der Ecke auf Grün wartet, um von der Treskowallee abbiegen zu können …

Na ja, als ich aus dem fahrenden Bus kurz zurückblicke, kommt sie gerade wieder aus dem Bahnhof. Seitdem muss ich viel an sie denken, um Einfühlung bemüht. Tatsächlich, es gibt so viele Gründe, auf dem Bus zu bestehen und die Bahn samt Ticketautomaten und hoher Treppe hinauf zu meiden. Man steigt einfach vorne ein und da ist gleich einer, den man fragen kann: Sie fahren doch nach Rahnsdorf? Er nennt den Fahrpreis, nimmt das Geld und sie bekommt dafür den Schein. Dann sitzt sie gleich hinter ihm, fragt zwischendurch, ob es noch weit ist, und am Ziel würde er sie vorn aussteigen lassen – falls es überhaupt einen Bus von Karlshorst nach Rahnsdorf gäbe.
 

morgenklee

Mitglied
In der 19. Etage, elfter Balkon von links.

Arno Abendschön

Sehr fein erzählt! Solche und ähnliche Begebenheiten haben wir alle schon erlebt; zumal, wenn wir dem Volke der Pendler angehören.
Die Vereinsamung der Menschen inmitten des Dickichts einer Großstadt schreitet voran. Keine Großfamilie mehr, die einen sozusagen auffängt. Keine Nachbarn mehr, die man wirklich kennt ("Sehen Sie, ich wohne am Mümmelmannsberg. Dort in dem großen Haus. In der 19. Etage, der elfte Balkon von links!"). Keine kleinen Tante-Emma-Läden mehr um die Ecke. Schuster? Gibt es noch Schuster oder Wäschereien?

Und dann spricht man und fragt. Dann fragt man und spricht. Man kommuniziert! Man ist einer der vielen flanierenden und unruhigen Menschen hier am Platz. Man ist kein Mauerblümchen mehr (obwohl Berlin ja fast drei Jahrzehnte die Hauptstadt der Mauerblümchen war).

Die Frau, ihr Mann ist vor vielen Jahren nach Thailand abgehauen, die Kinder melden sich kaum noch und der Hund musste vor zwei Jahren eingeschläfert werden; die Frau hat endlich mal wieder etwas erlebt.

Sie hat gesprochen. Sie hat gefragt. Nur wir bleiben ein wenig ratlos zurück.

So, geschätzter Arno Abendschön, könnte es gewesen sein. Wahrscheinlich aber war es ganz anders.

Weiter so!
 
Danke, Morgenklee, für deine einfühlsamen Gedanken. Ja, der tatsächliche Hintergrund des Ablaufs bleibt ein Rätsel. Auch die von mir im Text angedeutete Hypothese ist nur eine von vielen möglichen.

Freundlichen Gruß
Arno Abendschön
 

morgenklee

Mitglied
Arno Abendschön

Sehen wir mal einen Moment vom wahren Leben ab. In der Literatur ist es zunächst einmal gar nicht so wichtig, ob ein Autor das erzählt, was er erlebt hat - oder, ob er das Erlebte dann auch noch weiterentwickelt.

Truman Capotes "Kaltblütig" ist eigentlich zunächst einmal nichts weiter wie ein Polizeiprotokoll. Durch Capotes Einschübe, Interpretationen und Ergänzungen, ebenso wie auch Kürzungen und Verdichtungen, nimmt dieser Polizeibericht schließlich die Form eines großen Romans an.

Deine "Miniaturen" (R. Alexander+Rahnsdorf) lese ich ähnlich: Da wird auf etwas hingewiesen, was Dir aufgefallen ist, was Dich bewegt hat. Den Leserinnen und Lesern bleibt aber Platz für eigene Überlegungen. Und das scheint (zumindest bei mir) gut zu klappen.

Mehr davon, bitte!

mfg m'klee
 
Ja, morgenklee, dem stimme ich in allem zu. Die Blumen, die man draußen gepflückt hat, arrangiert man natürlich beim Schreiben auf seine jeweils eigene Weise. Und der Leser variiert noch einmal.

Freundlichen Gruß
Arno Abendschön
 



 
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