Es ging ihm gut

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Maribu

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ES GING IHM GUT

Schwester Doris stürmte herein und rief: "Wer hat die Tageszeitung? - Ach Sie, Herr Möller. Ich muss sie Ihnen einen Moment entführen. Wir müssen etwas nachprüfen." Sie riss sie ihm fast aus der Hand.
Herr Möller protestierte, weil er sie eben erst vom Tisch genommen hatte. Die Schlagzeile hatte ihn berührt und sofort die Seite drei mit dem Artikel 'Missstand in Pflegeheimen'
aufschlagen lassen. Die Schwester lächelte und sagte beruhigend:
"Sie bekommen sie gleich zurück."
Er saß, ungeduldig auf die Rückgabe der Zeitung wartend, in seinem Rollstuhl am Tisch der Besucherecke und blätterte
desinteressiert in den zerfledderten Zeitschriften. Die Rollstuhlfahrer hatten sich im Aufenthaltsraum verteilt.
Zwei, die sich gegenüber standen, unterhielten sich so laut, als würden sie streiten. Eine Frau saß mit zurückgelehntem Kopf und offenem Mund neben ihnen und konnte trotzdem schlafen.
Einige blickten erwartungsvoll durch die geöffnete Tür und verfolgten die Bewegungen auf dem Gang. Andere starrten auf die Mattscheibe und ließen Landschaftsbilder, untermalt von dezenter Musik, an sich vorbeiziehen.
Schwester Doris kam zurück. "So, Herr Möller, hier haben Sie die Zeitung wieder", sagte sie und lächelte freundlich, wie gewohnt. Er versuchte sofort die Seite drei aufzuschlagen und rief der Schwester hinterher: "Das habe ich mir gedacht! Bitte kommen Sie nochmal!" Sie stellte sich hinter seinen Rollstuhl. "Da, sehen Sie selbst!" Er wedelte mit dem Hauptblatt hin und her. "Nach Seite zwei kommt Seite fünf. Sie haben eine Doppelseite herausgenommen!"
"Ich nicht!" antwortete sie. "Das hat die Heimleitung entschieden!"
"Sie können diesen Artikel doch nicht einfach unterschlagen!" entrüstete er sich.
"Doch", antwortet sie ruhig und zeigte wieder ihr Lächeln. "Es ist ja nicht Ihre Zeitung. Unser Heim hat sie abonniert. Wir sind für sie alle verantwortlich. Dieser Bericht ist verlogen und würde Sie nur unnütz aufregen!"
"Unnütz aufregen?" wiederholte er. "Ich reg mich nur auf, wenn es einen Grund dafür gibt! Glauben Sie etwa, dass in diesem Heim alles in Ordnung ist, wenn Sie diese Seiten verschwinden lassen?"
Sie zuckte mit den Schultern und antwortete schnippisch:
"Da stehen noch so viele interessante Dinge auf den anderen Seiten, mit denen Sie sich beschäftigen können!" Sie wandte sich zum Gehen.
"Will ich aber nicht!" antwortete er und warf die Zeitung wütend auf den Boden. Einige Heimbewohner hatten für Momente die Apathie überwunden und dem Wortwechsel gelauscht. Schwester Doris hatte das registriert und drehte sich um, bevor sie auf den Gang hinaustrat und rief: "Ich weiß gar nicht, was Sie wollen! Ihnen geht es doch gut!"
Herr Möller dachte darüber nach. Wie kann es einem im Heim gut gehen? Jetzt wurde schon die Zeitung zensiert, weil man einen offensichtlich kritischen Artikel nicht widerlegen konnte. Nicht dieser Bericht, ihr Schlusssatz war verlogen und zynisch. Wenn sie ehrlich wäre, hätte sie sagen müssen:
"Ihnen ging es doch gut!"
Ja, das konnte er von sich behaupten! Es ging ihm gut! Ella und er hatten letztes Jahr die diamantene Hochzeit im Verwandten- und Freundeskreis feiern können. Kinder waren ihnen leider nicht beschieden. Ella hatte immer zu ihm gehalten, ihn verwöhnt und nicht freiwillig verlassen. Gegen
Bauchspeicheldrüsenkrebs sind die Ärzte immer noch machtlos.
Wenn er nicht vor einem halben Jahr die Treppe hinuntergestürzt wäre, hätte er sich in seiner Wohnung noch behelfen können.
"Hallo Karl!" Die Stimme einer Frau riss ihn aus seinen Gedanken. Er schaute auf die Uhr. Heute kommt sie schon eine halbe Stunde früher! ärgerte er sich, und dann noch mit ihrem Sohn im Schlepptau! Sie nahmen gegenüber am Tisch Platz.
"Du hast mich wohl noch nicht erwartet?"
Er blickte an ihr vorbei und sagte unfreundlich: "Wer sind Sie?"
Sie lachte gezwungen. "Nun machst du wieder einen deiner Scherze! Ich bin Hertha, deine Schwägerin, die Frau von deinem verstorbenen Bruder Harald."
"Was wollen Sie?"
"Nun hör aber auf, Karl! Jetzt fängst du schon an mich zu siezen. Ich war doch letzte Woche erst bei dir. Ich komme doch jeden Mittwoch, um dich zu besuchen."
"Ja, Mittwoch", antwortete er. "Heute ist Donnerstag. Ich habe gestern auf dich gewartet! - Und wer ist der Mann da?"
Sie verdrehte die Augen und sagte betont ruhig: "Das ist doch Sven, mein Sohn und dein Neffe!"
Er antwortet nicht. "Wir sind heute zu zweit gekommen, um dich zu überzeugen. Wir möchten deine Einwilligung haben für ein anderes Heim. Wir haben doch letztes Mal schon darüber gesprochen. Erinnerst du dich daran?" Sie gewährte ihm eine Denkpause. "Ich weiß, dir gefällt es hier, aber dieses Heim ist zu teuer! Dein ganzes Geld würde mit der Zeit draufgehen!"
Er antwortete wieder nicht. "Karl, ich bitte dich, sag etwas!" beschwor sie ihn und blickte ihren Sohn dabei an.
Der sagte auch nichts, hatte seinen Onkel noch nicht mal begrüßt, grinste nur und tippte sich an die Stirn. "Ja",
seine Mutter nickte, "es wird immer schlimmer mit ihm!"
Als wollte ihr Schwager das bestätigen, sagte er: "Das muss ich erst mit meinen Enkelkindern besprechen!"
"Deine Enkelkinder?" wiederholte seine Schwägerin erstaunt.
"Aber Karl, deine Frau bekam doch gar keine Kinder! Wie könnt ihr dann Enkelkinder haben? Wir sind deine einzigen noch lebenden Verwandten und tragen die Verantwortung!"
"Alle wollen sie Verantwortung tragen", antwortete er gereizt. "Und keiner unternimmt etwas!"
"Doch, wir!" entgegnete sie. "Wir werden ein billigeres Heim für dich aussuchen, wo du auch gut aufgehoben bist."
"Diese Entscheidung müssen meine Enkelsöhne treffen!" antwortete er bestimmt.
"So, deine Enkelsöhne. Wie heißen die denn?"
Er überlegte einen Augenblick und sagte: "Max und Moritz."
Sie lachte aus vollem Halse. "Ist das komisch! Hast du das gehört, Sven? Deine erfundenen Großcousins haben sogar Namen!" Sie betrachtete ihren Schwager, der keine Miene verzogen hatte, einen Moment schweigend und sagte dann: "Entschuldige bitte, dass ich so direkt werde, Karl! Aber du bist krank! Das ist ein schleichender Prozess. Dein Gehirn ist angegriffen! Du hast keine Enkelkinder! Max und Moritz existieren nur in deiner Phantasie!"
Ihr Sohn grinste immer noch oder schon wieder und drückte den linken Zeigefinger gegen die Schläfe. "Ja, du hast recht", bestätigte seine Mutter, und dann leiser werdend, "wenn wir noch was retten wollen, müssen wir ihn entmündigen lasssen!"
Sie standen auf und sie sagte: "Tschüss, Karl!"
Er reagierte nicht, übersah ihre dargebotene Hand und verfolgte die beiden mit den Augen bis zum Ausgang, an dem sie kurz stehen blieben und fröhlich winkten. Er hob auch seine Hand, aber die Finger ballten sich zur Faust und er rief: "Ihr werdet mir weder meine Ersparnisse noch meine Phantasie nehmen!" Das konnten sie aber nicht mehr hören.
 
G

Gelöschtes Mitglied 14278

Gast
Hallo Maribu,

wieder mal gut beobachtet und flüssig beschrieben!
Was mich ein wenig stört, sind die häufigen "sagte", "wiederholte", "entgegnete" usw. Ich meine, Du könntest in vielen Fällen die wörtliche Rede ohne diese Zusätze auskommen lassen.

Gruß und frohe Ostern
Ciconia
 

Maribu

Mitglied
Hallo Ciconia,

danke für die Kritik und die Berwertung!

Ja, du hast recht; ich hätte öfter mit der direkten
Rede kommen können.

Lieben Gruß
Maribu
 



 
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