Es ist einer dieser Tage

Andrea

Mitglied
Es ist einer dieser Tage, an denen du aufwachst und, noch ehe dein Blick die Decke trifft, weißt, daß das Fleisch, das du gestern vor dem Schlafengehen gegessen hast, schlecht gewesen ist. Dein Atem stinkt nach Verwesung, in deinen Eingeweiden tanzen die Maden Salsa, und in deinen Ohren ist ein ständiges lästiges Brummen zu vernehmen, das ganze Oktaven zu meistern weiß und alle Hoffnung auf baldiges wieder Einschlafen zerplatzen läßt. Dir sind keine noch so unruhigen Träume mehr gewährt, denn die Zeit macht auch vor dir nicht halt, und wenn du nicht ordentlich deinen Dienst versiehst, wird es Klagen und Beschwerden hageln. Nicht noch einmal willst du dich mit diesen selbsternannten Göttern anlegen, die deine Arbeit beaufsichtigen.
Also richtest du dich ächzend von deinem Bett auf, mit knackenden Knochen zwar und der Gewißheit, daß mindestens ein halbes Dutzend Sehnen und Bänder gerade angerissen sind. Alles um dir herum beginnt sich im selben Moment, da deine Sohlen den Boden deiner Kammer berühren, in einen grellen Wirbel aus Farbe und Bewegung zu verwandeln; ein wirres Spiel, das nur einen Sinn hat, nur einen haben kann: dir zu beweisen, daß du dich dieser Tage besser schlafend gestellt hättest, als die Zeit zum Wecken näher rückte.
Tapfer hältst du dich aufrecht – naja, so aufrecht, wie es eben geht, wenn der Gleichgewichtssinn noch in süßen Träumen schwelgt – und nur das abgrundtiefe Stöhnen, das sich aus deinem Mund zwängt, verrät dein Unglück.
Jetzt eine Tasse dampfenden Tee mit so kräftigem Aroma, daß die Hautlappen dahin schmelzen, denkst du dir, aber noch ehe deine Zunge zu phantasieren beginnt, klopft dein Verstand an und fragt, wann du, bitteschön, denn das letzte Mal Tee gerochen oder gesehen hättest, von einer Tasse ganz zu schweigen. Obwohl, in diesem Saustall, den du dein Zuhause nennst, könnte es durchaus sein, daß sich Tee und Tasse irgendwo versteckt halten.
Ja, du könntest mal wieder sauber machen, gestehst du dir ein, während du durch knöcheltiefen Staub schlurfst und sich dein Haar in den Spinnweben verfängt, die statt Tapeten deine Wände bekleiden. So immer zwischen Mäusekacke und Fledermausdung, das macht auf die Dauer kein Teint mit. Kein Wunder, daß die Haut, die sich über deine Knochen spannt, in pergamentartigem Gelb kränkelt. Nur wo noch Adern erkennbar sind, wird es durch ein dunkles Blau unterbrochen, von einem Netz, das den Rest deines Körpers mühselig noch zusammenhält, wo andere Instanzen vielleicht versagt hätten. Und diesen müden Körper mußt du nun dazu anstiften, sein Tagwerk zu verrichten.
Tagwerk! Du bleckst die schwarzen Stummel, die noch von deinen Zähnen geblieben sind und stößt ein heiseres, blechernes Lachen aus, das selbst in deinen Ohren trostlos klingt. Mit dem Tag ist es wie mit dem Tee – du kannst dich dunkel an seine Existenz erinnern, mehr aber auch nicht. Ihn probieren, das Sonnenlicht auf der Haut spüren, deinen Körper in Licht baden, das Leben in seiner vollen Pracht bewundern; dies sind Träume, denen du gelegentlich nachhängst, aber ehe sie Wirklichkeit werden, dreht sich die Welt in die andere Richtung. Eher werden die Menschen bei deinem Anblick in Jubel ausbrechen und Kinder nach deinen Händen greifen, ohne sich um die krallenartigen Fingernägel zu kümmern, eher werden sich vor deinen Augen Liebende in die Arme fallen, statt schreiend das Weite zu suchen und... Naja, eigentlich hast du diese knutschenden Pärchen, die sich auf der Suche nach dem besonderen Kick in deinen Vorgarten verirren, nie besonders ausstehen können. Und Kinder, Kinder hast du nicht besonders gut in Erinnerung. Früher waren sie stets laut gewesen, hatten ihre Nasen und Finger in Angelegenheiten gesteckt, die sie nichts angingen, und waren gleich in Geschrei und Wehklagen ausgebrochen, wenn etwas gegen ihren Willen geschah. Kinder hatten nur den Vorteil, daß sie keine Erwachsenen waren, denn daß bedeutete, daß sie jetzt, um diese Zeit, in ihren Betten lagen, und selbst wenn sich die furchtbar Naseweisen unter ihnen aus dem Haus geschlichen haben sollten, so würde kein Fünfjähriger mit einem Hammer nach dir schlagen, würde keine Achtjährige ihr Taschen nach dem Tränengas durchwühlen und kein Dreijähriger nervös ein Butterflymesser zücken und sich beim angeberischen Herumspielen damit die eigenen Finger abschneiden. Ja, die Nacht hat durchaus ihre Vorteile, erinnerst du dich. Sie mag in ihrer Stille langweilig bis zum Erbrechen sein, aber wenigstens behältst du ein kleines bißchen Privatsphäre – und sei es nur durch ein geschlossenes Tor am Eingang.
Die Finsternis, die vom Nachtwind durch die Fensterhöhlen in deine Gruft getragen wird, verlockt nicht unbedingt dazu, die alten Knochen durch die morschen Überreste des zertrümmerten Türrahmens zu zwängen, und in diesen Monaten ist das Wetter meist auch noch feucht, so daß die Schmerzen in deinem Kreuz deinen Rücken mit Leichtigkeit krümmen.
Ein Blick nach draußen läßt jede noch so geringe Hoffnung auf Besserung zerfließen: Nebel ballen sich zwischen den Grabsteinen, und nur der steinerne Engel am Eingang erhebt sich trotzig zwischen den Schatten der Bäume. Eine Nacht zum Zähneklappen, denkst du grimmig. Eine Nacht, in der es durch nichts zu entschuldigen sein wird, wenn du deinen Posten nicht antrittst. Wenn sie kommen, die Heldenhaften, Mutigen, wenn sie sich an den Grauen des Friedhofs messen wollen, mußt du ihnen entgegentreten. Denn so etwas erwartet man von einem Ghul. Und wer bist du, die anderen zu enttäuschen?
 

Ralph Ronneberger

Foren-Redakteur
Teammitglied
Hallo Andrea,

wenn man sich an deine Schachtelsätze erst wieder gewöhnt hat, kann man den Text nur noch toll finden. Der Überraschungseffekt am Ende hat mich nicht nur endlich darüber aufgeklärt, was ein Guhl ist - nein, er hat mich auch veranlaßt, den Text gleich noch einmal zu lesen. Erst dann kann man - so finde ich - den geschickt verpackten Humor richtig genießen. Wer hier nur angelesen und nicht bis zum Schluß durchgehalten hat, dürfte einiges verpaßt haben.
Ich finde es schade, daß sich bis jetzt noch keiner zu den humorvoll geschilderten Leiden deines Guhl (ein Untoter ist eben auch nur ein Mensch) geäußert hat. Mir hat es gefallen. (Ich weiß, dieser Satz ist abgedroschen, aber ich benutze ihn trotzdem)

Gruß Ralph
 

Antaris

Mitglied
Unheimlich gut

Hallo Andrea,

boah, ey...das ist ja eine starke Geschichte! Ich hätte nie gedacht, dass Guhle so menschlich sein können - und dass Guhle sympatisch sein können - und war von der Pointe eiskalt überrascht. Von was träumen Guhle denn so? Also, Deine Schachtelsätze stören mich überhaupt nicht, ich finde, sie passen richtig gut zu der Story. Allerdings frage ich mich, ob es eine Fortsetzung geben wird.

Mit feurigen Grüßen

Antaris
 

Andrea

Mitglied
Das ist mal wieder typisch Leselupe - wochenlang nichts, und dann gleich drei auf einmal! *freu*

Naja, ich will mich mal nicht darüber beschweren.. ;)

Bei einer Fortsetzung muß ich allerdings passen. Die Geschichte ist beendet, und ich halte nicht viel von Fortsetzungen um jeden Preis. Daher wird es für diesen Ghul definitv keine Fortsetzung geben.
Aber vielleicht gibt es irgendwann noch mal einen anderen Ghul, mal sehen.

Gruß
 



 
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