Es ist in ihren Köpfen

Breimann

Mitglied
Es ist in ihren Köpfen
Sie schaufelten bis zur Frühstückspause; dann hockten sie sich, wie die Spatzen auf der Telefonleitung, auf das abgestellte Förderband.
„Guck dir dat an! Schwielen und Blasen! Mann!“, rief Franz Bork. Er war breitschultrig, stiernackig und hatte stämmige Beine. Klaus kam zwar vom Land, aber er war dürr und schwächlich; sein Freund Paul hatte kräftige Arme und ertrug die schwersten Arbeiten ohne zu stöhnen.
Die ungewohnte Arbeit machte fast allen Jungen zu schaffen - und sie wurden mächtig angetrieben; Pausen waren unerwünscht und das Abstützen auf dem Schaufelstiel, oft für Sekunden nur, war das Äußerste, was sie wagten. - Und sie hatten einen gemeinsamen Feind; auf ihn konzentrierte sich ihre Ablehnung, ihr Hass, ihre Wut.
„Dicker Stempel“ nannten sie den Aufpasser heimlich, weil er so unförmig war. Es gab kein normales Gespräch mit ihm; die wenigen Worte, die sie hörten, wurden gebellt und gebrüllt: „Los!“, „Schneller!“, „Flott, ihr faulen Säcke!“, „Schluss mit Faulenzen!“.
Er war kein Ausbilder, hatte hier nur die Aufsicht, weil er für die Halden aus Staubkohlen, ihre Anschüttung und Verladung, zuständig war. Täglich schlenderte er durch die Ausbildungswerkstätten, besuchte seine Kollegen, die Meister und Vorarbeiter. Er schwätzte mit den Ausbildern über die „gute alte Zeit“ und die Jungen hörten gespannt zu.
Was er darunter verstand, war bekannt, war Anlass für Getuschel und Gerüchte – aber auch für mehr oder weniger offene Zustimmung. Immer wieder hörte man ihn von seiner Vergangenheit schwärmen.
„Damals war Ordnung! – Wa? Da konnte unsereiner mal zulangen, ohne dat derjenige gleich zum Betriebsrat rannte. Wat ham wa da zugelangt! Und? Hattet den Jungs geschadet? Ne! Dat war de beste Lehrzeit, die se sich denken konnten!“
Allgemeines Nicken war regelmäßig die Antwort, die ihn ermunterte: „Adolf hat ne Menge gute Sachen gemacht! Da könnten se sich heut noch ne Scheibe von abschneiden. Der hat sich nix gefallen lassen. Diese Säcke, diese, die allet machen, wat die Amis woll´n!“
Auch hier bekam er wortlose Zustimmung, was ihn noch stärker ermunterte. „Wat da über de Juden erzählt wird! Un wenn da wat war, - wat soll dat? War´n doch bloß alte Geldsäcke, Ausbeuter! - Gaskammer! - Ick sachet euch! Alet erstunken und gelogen. Ick war schließlich lang genug dabei; ick war anne vorderste Front.“
Sie schwiegen alle, einige nickten, andere sahen betreten zu Boden. Dann nickte der Dicke zufrieden und ging wieder raus. Am nächsten Tag würde es eine weitere Belehrung geben.

„Auf! Los! Habta keine Lust mehr?“
Er stand neben dem Waggon, hatte sich wie üblich angeschlichen. Mit hochrotem Kopf, leicht vorgebeugt, brüllte er die Jungen an, warf im gleichen Augenblick den Schalter am Sicherungskasten herum. Das Band sprang mit einem gequälten Quietschen schlagartig vorwärts.
Sie saßen mit angezogenen Beinen auf dem zur Waggonoberkante stark schräg hochlaufenden Band, sonnten sich und waren völlig überrascht. Der Ruck ließ sie durcheinander wirbeln; sie fielen rechts und links vom Band, oder lagen, lang ausgestreckt, teils übereinander, auf dem Transportband, das sie nach oben in Richtung Waggon schleppte.
Klaus verschluckte sich an seinem Brot, stürzte, das Gesicht voran, vom Band. Er schlug mit dem Kopf zuerst auf, aber er spürte keinen Schmerz; die weiche Kohle und der gut sitzende Helm hatten den Sturz gebremst. Die Kohle drang ihm in Mund und Nase; es schmeckte widerlich und er spuckte und würgte.
„Da siehste ma, wofür der Helm da is! Die ham bestimmt an solche Dämlacks wie euch gedacht“, lachte der Dicke.
Sie waren alle glimpflich gestürzt, ihre Brote lagen im Dreck, waren nur noch als Spatzenfutter zu gebrauchen. Die Letzten krochen mühsam vom laufenden Band, kletterten an den rostigen Eisenstreben herunter.
Klaus stand auf, wischte sich den Kohlenstaub vom Mund und sah sich um. Sein Freund Paul stierte verlegen auf den Boden; Franz Bork wischte sich wütend den Kohlestaub aus dem Gesicht. Die anderen klopften Dreck aus den Hosen, oder sammelten ihre Brote ein.
„Arschloch!“, schrie Klaus dem Dicken hinterher, der schon wieder auf dem Weg zur Werkstatt war; sein Kaffee und das tägliche Geschwätz warteten auf ihn; er hatte seine Aufgabe gerade wieder einmal voll erfüllt.
„Wat war dat? Wer hat dat gerufen?“
Der schwere Mann drehte sich erstaunlich schnell um und stakste auf sie zu. Sie standen starr und zogen die Köpfe ein. Er schlürfte an den ersten Jungen vorbei, ohne einen Blick auf sie zu werfen, ging direkt auf Paul zu. Es sah fast so aus, als wolle er ihn umrennen. Unmittelbar vor ihm stoppte er, mit aggressiv vorgeschobenem Schädel.
„Dat warst du doch sicher, du dreckige alte Judensau, oder?“
Paul wurde blass, und die Kohlespuren in seinem Gesicht zeichneten sich krass ab. Klaus brauchte nur eine Sekunde. Bevor Paul reagieren konnte, hatte er sich entschlossen: „Ich hab das gerufen!“
Er sagte es nicht leise oder verlegen; seine Stimme war bis zum letzten Jungen an der Halde klar und deutlich zu hören. Er spürte die erschrockenen Bewegungen der Jungen, starrte mit weit aufgerissenen Augen den Mann an, der sich auf den Absätzen umdrehte, auf ihn zuging und einen Meter vor ihm stehen blieb.
„Wiederhol dat noch mal!“
„Gerne! Sie sind ein dummes Arschloch, ein großes, wenn sie´s genau wissen wollen. Und es gibt nur zwei Möglichkeiten für sie. Entweder sie entschuldigen sich bei uns, besonders bei Paul, oder ich geh zum Betriebsrat - außerdem zu unserem Ausbilder! Sie haben riesigen Mist gebaut – absichtlich; wir hätten uns die Knochen brechen können. Außerdem haben sie Paul beleidigt!“
Der Mann wurde käsig im Gesicht. Er dürfe keine Aufregung mehr haben, sein Blutdruck, sein Herz und überhaupt, erzählte er ständig. „Die Jahre anner Front und unten im Pütt ham mich kaputt gemacht“, erklärte er mit wehleidigem Gesicht.
Klaus sah ihm die Ratlosigkeit an, erkannte schlagartig die ganze Erbärmlichkeit dieses dümmlichen, unbelehrbaren Menschen - und er sah die dumpfe Wut in den zuckenden Augen.
„Ich werd den Deibel tun und mich entschuldigen! Bei euch grünen Jungs? Du spinnst wohl!“, rief er und sah sich nach den anderen Jungen um, die wegschauten
„Sie werden sich entschuldigen!“
„Et reicht! Bei Adolf würdeste jetzt im Arbeitslager landen, mein Junge!“, gurgelte er. Sein kahler Kopf wurde dunkelrot.
„Und sie an der Front!“
„Halt deine dumme Fresse, du Kappeskopp, du Judenfreund!“
Klaus ging einen kleinen Schritt auf den Mann zu. Er war zwar ein ganzes Stück größer als der Dicke, aber auch deutlich schmaler. Der Mann rührte sich nicht; seine Augen ruckelten nervös.
„Sie wollen mich fertig machen?“, fragte Klaus leise, fast flüsternd.
Er nahm seinen Helm ab, als wäre ihm heiß, fuhr sich mit dem Ärmel übers Gesicht, verdrehte die Augen, wankte und fiel der Länge nach in den Kohlenstaub. Das Gesicht presste er in den feinen Staub, hielt die Luft an und schmeckte trotzdem schon wieder die Kohle; seine Augen hielt er fest geschlossen.
Aufgeregte Rufe schwirrten durch die Luft, kamen von allen Seiten; dann fühlte er Hände, die ihn drehten, seinen Kopf anhoben; Finger, die den Kohlenstaub von den Lippen und den Augen wischten; zittrige Bemühungen um seinen Kragenknopf machten ihn kribbelig.
„Klaus! Wat is? Hörste mich? Is dir schlecht? Soll ich nen Arzt rufen?“
„Oh, Gott! Der is tot!“
„Quatsch! Dem is nur schummerich!“
Sie schrieen durcheinander und dann spürte er kräftige Hände unter seinem Körper. Sie hoben ihn an und legten ihn auf das Förderband, das schon wieder stand.
„Ganz ruhig Junge. Dat hab ick nich gewollt. Entschuldige! Mein Gott! Mach de Augen auf, los!“
Klaus blieb wie tot liegen und dachte nach. Er verstand auf einmal, warum Paul immer wieder von dem Dicken angegangen worden war. Er ahnte, dass der Mann noch immer Hass und Abneigung gegen Fremde oder Juden verspürte.
Aber wieso war Paul ein Jude? Stimmte das überhaupt? Der sah doch völlig normal aus. Wie sahen Juden überhaupt aus? Ihm fielen Bilder ein, die er zu Hause gesehen hatte; Karikaturen, Zeitungsausschnitte, die sie in der Wohnzimmerschublade aufbewahrten. Da besaßen Juden immer lange, spitze Nasen, lächerliche Zöpfe, trugen einen bodenlangen Schwarzen Kaftan, hatten einen Buckel und einen grausamen, hinterhältigen Blick.
So sah Paul wirklich nicht aus! Dann fiel ihm das mit dem Beschneiden ein; er wusste es noch vom Religionsunterricht. Er dachte nach, sah Paul nackt unter der Dusche in der Waschkaue; Paul war nicht beschnitten! Aber egal, er hatte es diesem dicken Fiesling gezeigt.
„Es ist genug!“, dachte er und spürte eine irre Genugtuung. Langsam öffnete er die Augen und sah in das schwitzige, tomatenrote Gesicht des Dicken.
„Da biste widda! Gott sei Dank!“
„Oh - ist mir schlecht!“
„Der hat ´ne Gehirnerschütterung! Bestimmt!“
Das war die Stimme von Franz Bork und Heinz Klump schrie unterstützend: „Jawohl! Ne´ schwere! Dat kommt sie teuer zu stehn!“
Klaus setzte sich aufrecht und linste umher. Er sah in die feixenden Gesichter der Jungen, die im Rücken des Aufpassers standen. Sie hatten inzwischen sein Schauspiel durchschaut. Er pendelte leicht mit dem Kopf, fasste ihn stützend mit der Linken; dann musste er noch einmal „Oh!“ sagen.
„Geht´s widda?“, fragte der Dicke besorgt und doch voller Hoffnung.
„Ein bisschen! Mir ist furchtbar schlecht.“
„Dann hau dich hier hin, auffe weiche Kohle. Brauchs heute nich mehr schippen.“
Er fasste Klaus unter den Achseln, stützte ihn, als er vom Band kletterte, schwankend losging. Dabei flüstere er in sein Ohr: „Zeigst mich nich an? Bitte, ja?“
„Erst wenn sie sich bei Paul und den anderen entschuldigt haben. Oh, mein Gott! Mir ist so schwindelig!“
Mit fast bewegungslosen Lippen flüsterte er dem Dicken die Forderung zu und wankte weiter.
Die Kohle war weich und man konnte ganz gut sitzen. Über ihm schwebte das rote Gesicht des hilf- und ratlos dastehenden Mannes, der offenbar krampfhaft nachdachte.
„Tut mir leid. Wollt ich nich. Äh – dat mit dem Wort Judensau war Kackscheiß. Wollt ich nich sagen“, grummelte er; aber es war doch hörbar genug. Er beobachtete die erstaunten Gesichter der Jungen. Als keine Reaktion kam, bewegte sich der Dicke ruckhaft, drehte sich weg.
Klaus schüttelte den Kopf, konnte nur mühsam seinen Triumph verbergen. Der Dicke ging, sich mehrfach umsehend, unschlüssig zur Werkstatt, um seinen Kaffee zu trinken. Die Jungen warteten, bis er verschwunden war; dann stürzten sich alle auf Klaus, drückten ihn tiefer in den Kohlenstaub, schlugen ihm auf die Schulter, rollten ihn durch die Kohle, lachten und wiederholten ständig: „Sie sind ein dummes Arschloch!“
Dabei stolzierten sie in allerlei Posen an Klaus vorbei; Franz Bork stelzte geckenhaft umher, schrie laut: „Arschloch!“ und warf sich dann erneut ins Getümmel.
Klaus guckte in die begeisterten Gesichter, zwischen denen die von Franz Bork und Heinz Klump hin und her wuselten.
„Selber Arschlöcher!“, dachte er und war nicht sicher, ob er sich freuen oder ärgern sollte. Aber er war doch erleichtert - das auf alle Fälle. Die Begeisterung hielt lange an, was noch in der Waschkaue etliche Wiederholung provozierte.
„Bist ´nen prima Kumpel, Klaus!“, rief einer und schrubbte ihm den Rücken, was sonst nur Paul gemacht hatte.

„Bist du wirklich Jude?“
„Ja, so´n bisschen!“
„Bisschen? Geht das? Jude ist man, oder nicht. Stimmt´s?“
„Dann bin ich eben einer.“
„Warum bist du dann nicht beschnitten, oder wie das heißt?“
„Meine Oma war dagegen. Der Junge wird nicht verstümmelt, soll sie immer gesagt haben.“
Sie rannten über die Brücke, an der Kokerei vorbei. Klaus hatte es immer eilig, seinen Bus zu bekommen und Paul hielt Schritt.
„Was denn jetzt? Bist du, oder bist du nicht?“
„Ja, meine Mutter ist Jüdin – war Jüdin. Mein Vater war kein Jude.“
„Wieso war? Sind sie tot?“
„Ja. Sie haben sie damals abgeholt, meine Mutter meine ich. Papa ist einfach mitgegangen; er wollte sie nicht allein lassen, sagt meine Oma. Sie ist noch heute böse darüber.“
„Mag sie keine Juden?“
„Quatsch! Aber sie hat Papa immer gewarnt. Er sollte sich scheiden lassen, hat sie ihm gesagt. Aber er wollte nicht; das hat sie ihm wohl übel genommen.“
„Und du? Wo bist du dann geblieben?“
„Ich war bei Oma und Opa – immer. Mama und Papa haben beide in einer Wäscherei gearbeitet. Deshalb mussten sie auf mich aufpassen; darum war ich nicht da, als sie kamen. War mein Glück! - Sonst hätten sie mich auch vergast!“
„Quatschkopf! Die haben doch keine Kinder vergast! Du spinnst!“
„Ach ne? Und meine Eltern haben sie auch nicht kaputt gemacht? Das träum ich wohl, he?“
Sie hasteten die Treppe runter, ihre schweren Schuhe dröhnten auf den eisernen Stufen.
„Was weiß denn ich! In der Schule haben wir das besprochen, auch das mit den Konzentrationslagern und den Arbeitslagern. Gut, das war Scheiße! Aber die haben doch keinen umgebracht, – keinen einzigen -, sagte unser Lehrer.“
„Dann hat dieser miese Dicke wohl doch recht? – Ja?“
„Nein! Mein ich doch nicht! Meine Oma hat vor einiger Zeit auch mal so was angedeutet; aber sie hat gesagt: Wer weiß, ob das alles stimmt! Die Leute reden viel und jetzt, wo wir den Krieg verloren haben, können sie uns ja alles vorwerfen.“
„Ich weiß aber, dass es stimmt! Warum glaubst du´s nicht?“
„Scheiße! – Wie soll ich das denn wissen? War ich vielleicht dabei? Wie viele sollen sie denn vergast haben? Hundert? Tausend? Oder ne´ Million?“
Sie liefen wortlos und mit unguten Gefühlen zum Parkplatz. Paul gab ihm, wie immer, beim Abschied die Hand.
„Danke für das Arschloch!“
„Gerne gemacht!“, antwortete Klaus und grinste flach. Sie mochten sich und das für immer, da war er sicher. Paul konnte sogar behaupten, sie hätten zehntausend Juden vergast, er würde zu ihm halten.
 

Kyra

Mitglied
Gute Geschichte

Hallo Breimann,

fast wäre mir die Geschichte durchgegangen....
mir gefällt sie, weil sie schön in den Alltag eingebettet ist. Der Mut und die Dramatik des Alltäglichen - ohne moralinsauer zu sein

Viele Grüße

Kyra
 

Breimann

Mitglied
Ein Beispoel

Hallo Kyra,
ich bin noch unterwegs, kann immer nur kurz an einen PC kommen. Nur soviel, dies ist ein Beispiel (der tumbe Altnazi und seine nickenden Zuhörer) für die Situation Ende der 50er und dann in den 60er Jahren. Ist es aber heute viel anders? Aus Alt- sind Neu- oder auch Neonazis geworden; aber sonst?
eduard
 



 
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