Es sollte ein schöner Freitag werden
Der letzte Arbeitstag einer ruhigen Woche begann viel versprechend. Die Sonnstrahlen fanden ihren Weg durch die Lamellen in mein Schlafzimmer. Voller Vorfreude auf den bevorstehenden Abend hielt es mich nicht lange im warmen Bett. Die Aufregung trieb mich schnell ins Büro. Das erste Mal seit langer Zeit, nach Wochen voller Hektik und Chaos blickte ich auf einen geordneten Schreibtisch. Welch ein Genuss war es, Platz zu nehmen, durchzuatmen. Es lag mir am Herzen, das Chaos in diesen ruhigeren Tagen zu beseitigen, nachdem die Stapel immer größer und größer geworden waren. Zur Wochenmitte hatte ich mir in einer ruhigen Minute sogar die zermürbende Betriebsamkeit und das Durcheinander zurückgewünscht, nur um auf diesen Freitag nicht so lange warten zu müssen.
Eine alte Liebe rief mich vergangenen Sonntagabend unerwartet an. Als ich abhob und seine sanfte Stimme hörte, war ich in Gedanken sofort beim letzten Abend. Ich erinnerte mich an seine grünen Augen, sein braunes, so entzückend fallendes Haar. Die erste Berührung, der lange Kuss, das Kribbeln, die Gänsehaut – wie konnte ich es nur in den letzten Monaten verdrängen, fragte ich mich, als augenblicklich alle Gefühle wieder da waren. Er war sich nicht sicher, ob er sich wieder melden sollte. Er sagte, er sei bald für ein paar Tage in der Nähe und fragte schüchtern, ob wir die Gelegenheit nutzen wollten. Es gab für mich nur eine Antwort. Wie lange litt ich doch unter der Sehnsucht, wie lange verteufelte ich die uns trennende Distanz, nachdem er in der Nacht den Motor startete, die Tür schloss und sein Lächeln hinter der dunklen Scheibe verschwand. Als er mit einer letzten grüßenden Geste um die Kurve bog und der Schatten seines kleinen Autos verschwand, war ich mir nicht sicher, ob wir uns jemals wieder sehen würden.
Pünktlich wie in den letzten Tagen wollte ich an diesem Freitag um 17 Uhr die Segel streichen, um ausreichend Zeit für die wichtigen Dinge des Lebens zu haben. Alles stand im Zeichen des bevorstehenden Abends. Er wollte um 20 Uhr ankommen. Eine Stunde fürs Einkaufen, eine Stunde fürs Baden, schick machen und aufräumen, und eine weitere für das Abendessen und den letzten Schliff der Wohnung nahm ich mir vor. Ja, das sollte reichlich genügen. Ebenso wollte ich im Büro nichts anbrennen lassen. Ich erledigte alle anfallenden Aufgaben und Telefonate gewissenhaft wie eh und je, baute keine neuen Türme auf und war zum Boss, so schwer es auch fiel, noch freundlicher als sonst. Ruhigen Gewissens wollte ich diese Woche beenden. Mein Herz pochte, die Aufregung stieg, umso wichtiger war es, dass ich ruhig blieb und den Überblick nicht verlor. Gar nicht so leicht, denn Oskar, mein Bürokollege, hatte wieder seinen typischen Freitag. Weil er gewöhnlich bis zum Freitagmittag den Plausch mit Gisela aus der Buchhaltung, Kati aus dem Einkauf, Isolde von der Poststelle und vor allem Reinhard, unserem Hausmeister, favorisiert und die anfallenden Tätigkeiten halbherzig nebenher erledigt oder besser gesagt stapelt oder in seinem Chaos versucht, neuen Überblick zu gewinnen, gilt es bei ihm ab Freitagmittag, wenn alle schon den Fokus aufs Wochenende richten, möglichst viel wettzumachen. Da er auf die Kooperation mit anderen Kollegen (dummerweise mit mir) angewiesen ist, um seine Aufgaben abzuschließen, werde ich vor allem freitags immer wieder aufs Neue gut eingespannt und mein Nervenkostüm auf die Probe gestellt. Während er in den letzten Tagen wie gewöhnlich zwischen 15 und 16 Uhr pfeilartig schnell in den Feierabend verschwand, erwartete ich für Freitag in diesem Zeitraum seine klassische Frage: „Wie lange bist du heute noch da?“ Mein Helferinstinkt sah gewöhnlich kein Zeitlimit vor, doch an diesem Tag lehnte ich mich weit aus dem Fenster: „Um zehn vor fünf muss ich gehen.“ Er verfiel sofort ins Stöhnen und Stottern, das mir bestens bekannt war, wenn in einer Stunde sein Telefon mal mehr als einmal klingelte.
„Oh, oh, da muss ich das noch schnell fertig machen, dass du das noch bearbeiten kannst. Ist wichtig! Der Chef wartet schon lange drauf. Muss heute noch gemacht werden!“
Ich verkniff mir, darauf etwas zu sagen, trank lieber eine letzte Tasse Kaffee. Inzwischen war es zehn vor fünf, und er strauchelte und stöhnte seit über einer Stunde über dem Fall. Zehn Minuten Reserve hatte ich eingeplant. Ich sah darüber hinweg. Um fünf nach fünf hatte ich Mühe, meinen Ärger zu unterdrücken. Doch mein Helferinstinkt hob meiner konsequenten Entschlossenheit, jetzt einfach aufzustehen und zu gehen, den Zeigefinger. Zum Glück reichte er mir die Unterlage und verschwand ebenso strauchelnd, stöhnend in den Feierabend, wie er an diesem Nachmittag gearbeitet hatte. Ich saß bis halb sechs und eilte danach zum Einkauf.
Frohen Mutes schwang ich meinen Wagen durch die Gänge. Es galt, eine verlorene halbe Stunde aufzuholen. Obst- und Gemüseabteilung - abgehakt. Fleischtheke – keine Probleme. Ein Dessert? Ja, ein Dessert! Zutaten - eingepackt. Getränke – ja. Ein paar Süßigkeiten? – Unbedingt! Etwas zu knabbern - fertig… Nein, der Wein. Kurz noch mal zurück. Wie war das noch mal…? Weiß oder rot, trocken oder lieblich? Ach, nehmen wir einen hiervon und einen davon. 17:54 Uhr, Endstation Kasse. Die Frage aller Fragen – die linke oder die rechte. Ich wählte mutig, aber instinktiv die linke, obwohl dort mehr Leute anstanden. Zögerlich ging es voran. Die Berge auf dem Band und in den Wägen vor mir waren höher als die Türme auf meinem Schreibtisch. Ich bildete mit meinen Wagen den unteren Durchschnitt, obwohl ich jede Menge, nach dem Motto lieber zu viel, als zu wenig, eingepackt hatte. Ein kleiner, übergewichtiger Junge mit einem einzelnen Glas Gurken stand hinter mir und schaute mit offenem Mund und ausdruckslosen Augen drein. Irgendwie tat er mir leid. Mein Helferinstinkt bat ihn nach vorne. Erst nach erneuter Aufforderung trat er zögerlich und schwerfällig vor meinen Wagen. Plumps, da war es geschehen, das Glas Gurken fiel zu Boden, die Brühe spritzte in alle Richtungen. Aufruhr im Supermarkt. Die Dame vor ihm konnte man sich in diesen Breiten schlecht vorstellen. Mit der Sonnenbrille im Haar, dem galanten, weißen Abendkleid und den hohen ebenso weißen Stöckelschuhen hätte ich sie eher auf einem Mailänder Boulevard erwartet. Theatralisch gestikulierend platzte es aus ihr heraus: „Sieh nur an, was du angerichtet hast! Kannst du nicht aufpassen? Du Tollpatsch!“ Der Junge schnaufte ein paar Mal tief und begann zu hecheln, als ob er keine Luft mehr bekäme, dann brach es aus ihm heraus. Aus den Augen schossen die Tränen und gesellten sich zum Gurkenwasser, aus seinem Munde folgte kreischendes Geheule. Derweil verstummte das Piepen des Scanners. Die Kassiererin erhob sich von ihrem Arbeitsplatz und blickte nach hinten. Sie verzog keine Miene, schüttelte nur den Kopf und verschwand für einige Minuten. Sie drückte einer jüngeren Angestellten einen Wischmop und dem Jungen ein neues Glas Gurken in die Hand. Mühsam ging es voran. 18:06 Uhr. Während die echauffierte Mailänderin an der Reihe war, tauchte hinter mir eine kleine Gestalt auf. Ein Omalein hielt eine große Wassermelone in ihren Händen. Um den Arm trug sie einen Stoffbeutel. Sie sah irgendwie hilflos aus. „Bitte, Sie dürfen vor.“ Sie lächelte und bedankte sich gleich dreimal. Es dauerte nicht lange, da war die Mailänderin fertig. Der Junge bezahlte das neue Glas Gurken und beförderte es unbeschadet nach draußen. Das Band bewegte sich weiter und stoppte mit der Melone und meinen Waren dahinter. Das Omalein holte aus ihrer Stofftasche eine Plastikflasche nach der anderen. Ein Wunder, was in so einen Beutel passt! „Diese nehmen wir nicht an. Und diese auch nicht.“ „Ach, was?“ Flaschen gingen hin und her, fielen zu Boden, wurden von mir aufgehoben. „Auf diese hier gibt es kein Pfand, sie können sie wegwerfen.“ „Ach, wirklich?“ Zuletzt war die Melone an der Reihe, für die noch 74 Cent zu bezahlen gewesen wären. Es entstand eine lange Diskussion. „Eigentlich hätte ich 26 Cent rausbekommen müssen.“ Das Omalein blickte in ihren Beutel und rechnete lange vor. „Vier Flaschen wollten sie nicht, das ist ein Euro, also müsste ich doch nur 24 Cent bezahlen.“ Die Kassiererin schaute auf den Kassenzettel, überlegte, rechnete, schaute hilflos drein, bis sie vom Omalein aufklärt wurde: „Die Melonen sind doch im Angebot - 1,99 Euro.“ Die Kassiererin telefonierte, stand auf, ging, kam nach endlosen Minuten zurück. „Nein, das Angebot trifft nur auf Honig- nicht auf Wassermelonen zu.“ Ungläubig blickte das Omalein drein. Sie überlegte. „Nein, dann will ich diese Melone nicht, ich hole mir zwei Bananen.“ Es schlug 18:15 Uhr, als alle meine Waren den Scanner passiert hatten und die Endsumme von 50,69 Euro am Bildschirm aufleuchtete. Eine lange Reihe bildete sich in der Zwischenzeit hinter mir. Ich wollte mein Kleingeld nicht vorzählen, da ich wohl nur noch auf 48 Euro gekommen wäre. Ich zahlte mit der Karte. Sehr zum Unmut der Anstehenden wollte das Gerät nicht auf Anhieb. Es dauerte einige Zeit, bis die Karte akzeptiert wurde. „Wir haben nicht ewig Zeit!“, rief einer von hinten und warf mir böse Blicke zu.
Um 18:37 Uhr war ich daheim und trug alles nach oben. Im Treppenhaus stand Brunhilde Protze, freundlich und Format füllend wie man es von ihr gewohnt war. „Nur fünf Minuten, nur fünf Minuten!“, auch das kannte ich von ihr. Ich wollte schon böse sagen „Nein, heute nicht!“, aber mein Helferinstinkt hielt mich zurück. „Kommense doch herein, setzen se sich doch hin.“ „Danke, Frau Protze, gerne wieder, aber heute nicht, ich habe wenig Zeit.“ Nachdem aus fünf Minuten fünfzehn wurden und alle Fernsehsender wieder auf ihrem gewöhnlichen Programmplatz waren, verabschiedete ich mich schnell und eilte nach oben. 18:53 Uhr. Noch 67 Minuten für Baden, Aufräumen, Abendessen. Das musste reichen. Ich begann zu kombinieren, stellte den Herd an, ließ das Badewasser ein, räumte nebenher auf, deckte den Tisch. Stellte die Weingläser bereit. Hier und da ein wenig, und alles wird gut. Ich legte mich ins Wasser, kam ins Schwitzen, duschte lieber, um zwischenzeitlich nach dem Essen zu sehen. Ich glühte und schwitzte, rotierte und eilte, verfluchte meinen Kollegen, den Supermarkt mit seinen Akteuren und Frau Protze. Der Gedanke an meinen Gast stimmte mich mild. Was konnten sie alle dafür, ich selbst und mein verdammter Helferinstinkt waren doch daran schuld. 19:42 Uhr. Das Essen sah gut aus. Ich ging ins Bad, putzte Zähne, frisierte mich und schlüpfte in die zurechtgelegte Kleidung. Alles wird gut. Ich griff zum Parfüm und sprühte ein wenig auf meinen Hals. Ich legte eine ruhige Platte auf, zündete die Kerzen an, schaute ein letztes Mal in den Spiegel. Ich ging zum Fenster. In wenigen Minuten würde er da sein. Ein Vibrieren riss mich aus der eingekehrten Ruhe und der erwartungsvollen Sehnsucht. Ich griff zum Handy und las: „Hallo mein Lieber, es tut mir leid. Meine Mutter ist gestürzt. Ich muss sie ins Krankenhaus begleiten. Rufe dich morgen an.“ Der Abend und die Nacht waren endlos lange.
Der letzte Arbeitstag einer ruhigen Woche begann viel versprechend. Die Sonnstrahlen fanden ihren Weg durch die Lamellen in mein Schlafzimmer. Voller Vorfreude auf den bevorstehenden Abend hielt es mich nicht lange im warmen Bett. Die Aufregung trieb mich schnell ins Büro. Das erste Mal seit langer Zeit, nach Wochen voller Hektik und Chaos blickte ich auf einen geordneten Schreibtisch. Welch ein Genuss war es, Platz zu nehmen, durchzuatmen. Es lag mir am Herzen, das Chaos in diesen ruhigeren Tagen zu beseitigen, nachdem die Stapel immer größer und größer geworden waren. Zur Wochenmitte hatte ich mir in einer ruhigen Minute sogar die zermürbende Betriebsamkeit und das Durcheinander zurückgewünscht, nur um auf diesen Freitag nicht so lange warten zu müssen.
Eine alte Liebe rief mich vergangenen Sonntagabend unerwartet an. Als ich abhob und seine sanfte Stimme hörte, war ich in Gedanken sofort beim letzten Abend. Ich erinnerte mich an seine grünen Augen, sein braunes, so entzückend fallendes Haar. Die erste Berührung, der lange Kuss, das Kribbeln, die Gänsehaut – wie konnte ich es nur in den letzten Monaten verdrängen, fragte ich mich, als augenblicklich alle Gefühle wieder da waren. Er war sich nicht sicher, ob er sich wieder melden sollte. Er sagte, er sei bald für ein paar Tage in der Nähe und fragte schüchtern, ob wir die Gelegenheit nutzen wollten. Es gab für mich nur eine Antwort. Wie lange litt ich doch unter der Sehnsucht, wie lange verteufelte ich die uns trennende Distanz, nachdem er in der Nacht den Motor startete, die Tür schloss und sein Lächeln hinter der dunklen Scheibe verschwand. Als er mit einer letzten grüßenden Geste um die Kurve bog und der Schatten seines kleinen Autos verschwand, war ich mir nicht sicher, ob wir uns jemals wieder sehen würden.
Pünktlich wie in den letzten Tagen wollte ich an diesem Freitag um 17 Uhr die Segel streichen, um ausreichend Zeit für die wichtigen Dinge des Lebens zu haben. Alles stand im Zeichen des bevorstehenden Abends. Er wollte um 20 Uhr ankommen. Eine Stunde fürs Einkaufen, eine Stunde fürs Baden, schick machen und aufräumen, und eine weitere für das Abendessen und den letzten Schliff der Wohnung nahm ich mir vor. Ja, das sollte reichlich genügen. Ebenso wollte ich im Büro nichts anbrennen lassen. Ich erledigte alle anfallenden Aufgaben und Telefonate gewissenhaft wie eh und je, baute keine neuen Türme auf und war zum Boss, so schwer es auch fiel, noch freundlicher als sonst. Ruhigen Gewissens wollte ich diese Woche beenden. Mein Herz pochte, die Aufregung stieg, umso wichtiger war es, dass ich ruhig blieb und den Überblick nicht verlor. Gar nicht so leicht, denn Oskar, mein Bürokollege, hatte wieder seinen typischen Freitag. Weil er gewöhnlich bis zum Freitagmittag den Plausch mit Gisela aus der Buchhaltung, Kati aus dem Einkauf, Isolde von der Poststelle und vor allem Reinhard, unserem Hausmeister, favorisiert und die anfallenden Tätigkeiten halbherzig nebenher erledigt oder besser gesagt stapelt oder in seinem Chaos versucht, neuen Überblick zu gewinnen, gilt es bei ihm ab Freitagmittag, wenn alle schon den Fokus aufs Wochenende richten, möglichst viel wettzumachen. Da er auf die Kooperation mit anderen Kollegen (dummerweise mit mir) angewiesen ist, um seine Aufgaben abzuschließen, werde ich vor allem freitags immer wieder aufs Neue gut eingespannt und mein Nervenkostüm auf die Probe gestellt. Während er in den letzten Tagen wie gewöhnlich zwischen 15 und 16 Uhr pfeilartig schnell in den Feierabend verschwand, erwartete ich für Freitag in diesem Zeitraum seine klassische Frage: „Wie lange bist du heute noch da?“ Mein Helferinstinkt sah gewöhnlich kein Zeitlimit vor, doch an diesem Tag lehnte ich mich weit aus dem Fenster: „Um zehn vor fünf muss ich gehen.“ Er verfiel sofort ins Stöhnen und Stottern, das mir bestens bekannt war, wenn in einer Stunde sein Telefon mal mehr als einmal klingelte.
„Oh, oh, da muss ich das noch schnell fertig machen, dass du das noch bearbeiten kannst. Ist wichtig! Der Chef wartet schon lange drauf. Muss heute noch gemacht werden!“
Ich verkniff mir, darauf etwas zu sagen, trank lieber eine letzte Tasse Kaffee. Inzwischen war es zehn vor fünf, und er strauchelte und stöhnte seit über einer Stunde über dem Fall. Zehn Minuten Reserve hatte ich eingeplant. Ich sah darüber hinweg. Um fünf nach fünf hatte ich Mühe, meinen Ärger zu unterdrücken. Doch mein Helferinstinkt hob meiner konsequenten Entschlossenheit, jetzt einfach aufzustehen und zu gehen, den Zeigefinger. Zum Glück reichte er mir die Unterlage und verschwand ebenso strauchelnd, stöhnend in den Feierabend, wie er an diesem Nachmittag gearbeitet hatte. Ich saß bis halb sechs und eilte danach zum Einkauf.
Frohen Mutes schwang ich meinen Wagen durch die Gänge. Es galt, eine verlorene halbe Stunde aufzuholen. Obst- und Gemüseabteilung - abgehakt. Fleischtheke – keine Probleme. Ein Dessert? Ja, ein Dessert! Zutaten - eingepackt. Getränke – ja. Ein paar Süßigkeiten? – Unbedingt! Etwas zu knabbern - fertig… Nein, der Wein. Kurz noch mal zurück. Wie war das noch mal…? Weiß oder rot, trocken oder lieblich? Ach, nehmen wir einen hiervon und einen davon. 17:54 Uhr, Endstation Kasse. Die Frage aller Fragen – die linke oder die rechte. Ich wählte mutig, aber instinktiv die linke, obwohl dort mehr Leute anstanden. Zögerlich ging es voran. Die Berge auf dem Band und in den Wägen vor mir waren höher als die Türme auf meinem Schreibtisch. Ich bildete mit meinen Wagen den unteren Durchschnitt, obwohl ich jede Menge, nach dem Motto lieber zu viel, als zu wenig, eingepackt hatte. Ein kleiner, übergewichtiger Junge mit einem einzelnen Glas Gurken stand hinter mir und schaute mit offenem Mund und ausdruckslosen Augen drein. Irgendwie tat er mir leid. Mein Helferinstinkt bat ihn nach vorne. Erst nach erneuter Aufforderung trat er zögerlich und schwerfällig vor meinen Wagen. Plumps, da war es geschehen, das Glas Gurken fiel zu Boden, die Brühe spritzte in alle Richtungen. Aufruhr im Supermarkt. Die Dame vor ihm konnte man sich in diesen Breiten schlecht vorstellen. Mit der Sonnenbrille im Haar, dem galanten, weißen Abendkleid und den hohen ebenso weißen Stöckelschuhen hätte ich sie eher auf einem Mailänder Boulevard erwartet. Theatralisch gestikulierend platzte es aus ihr heraus: „Sieh nur an, was du angerichtet hast! Kannst du nicht aufpassen? Du Tollpatsch!“ Der Junge schnaufte ein paar Mal tief und begann zu hecheln, als ob er keine Luft mehr bekäme, dann brach es aus ihm heraus. Aus den Augen schossen die Tränen und gesellten sich zum Gurkenwasser, aus seinem Munde folgte kreischendes Geheule. Derweil verstummte das Piepen des Scanners. Die Kassiererin erhob sich von ihrem Arbeitsplatz und blickte nach hinten. Sie verzog keine Miene, schüttelte nur den Kopf und verschwand für einige Minuten. Sie drückte einer jüngeren Angestellten einen Wischmop und dem Jungen ein neues Glas Gurken in die Hand. Mühsam ging es voran. 18:06 Uhr. Während die echauffierte Mailänderin an der Reihe war, tauchte hinter mir eine kleine Gestalt auf. Ein Omalein hielt eine große Wassermelone in ihren Händen. Um den Arm trug sie einen Stoffbeutel. Sie sah irgendwie hilflos aus. „Bitte, Sie dürfen vor.“ Sie lächelte und bedankte sich gleich dreimal. Es dauerte nicht lange, da war die Mailänderin fertig. Der Junge bezahlte das neue Glas Gurken und beförderte es unbeschadet nach draußen. Das Band bewegte sich weiter und stoppte mit der Melone und meinen Waren dahinter. Das Omalein holte aus ihrer Stofftasche eine Plastikflasche nach der anderen. Ein Wunder, was in so einen Beutel passt! „Diese nehmen wir nicht an. Und diese auch nicht.“ „Ach, was?“ Flaschen gingen hin und her, fielen zu Boden, wurden von mir aufgehoben. „Auf diese hier gibt es kein Pfand, sie können sie wegwerfen.“ „Ach, wirklich?“ Zuletzt war die Melone an der Reihe, für die noch 74 Cent zu bezahlen gewesen wären. Es entstand eine lange Diskussion. „Eigentlich hätte ich 26 Cent rausbekommen müssen.“ Das Omalein blickte in ihren Beutel und rechnete lange vor. „Vier Flaschen wollten sie nicht, das ist ein Euro, also müsste ich doch nur 24 Cent bezahlen.“ Die Kassiererin schaute auf den Kassenzettel, überlegte, rechnete, schaute hilflos drein, bis sie vom Omalein aufklärt wurde: „Die Melonen sind doch im Angebot - 1,99 Euro.“ Die Kassiererin telefonierte, stand auf, ging, kam nach endlosen Minuten zurück. „Nein, das Angebot trifft nur auf Honig- nicht auf Wassermelonen zu.“ Ungläubig blickte das Omalein drein. Sie überlegte. „Nein, dann will ich diese Melone nicht, ich hole mir zwei Bananen.“ Es schlug 18:15 Uhr, als alle meine Waren den Scanner passiert hatten und die Endsumme von 50,69 Euro am Bildschirm aufleuchtete. Eine lange Reihe bildete sich in der Zwischenzeit hinter mir. Ich wollte mein Kleingeld nicht vorzählen, da ich wohl nur noch auf 48 Euro gekommen wäre. Ich zahlte mit der Karte. Sehr zum Unmut der Anstehenden wollte das Gerät nicht auf Anhieb. Es dauerte einige Zeit, bis die Karte akzeptiert wurde. „Wir haben nicht ewig Zeit!“, rief einer von hinten und warf mir böse Blicke zu.
Um 18:37 Uhr war ich daheim und trug alles nach oben. Im Treppenhaus stand Brunhilde Protze, freundlich und Format füllend wie man es von ihr gewohnt war. „Nur fünf Minuten, nur fünf Minuten!“, auch das kannte ich von ihr. Ich wollte schon böse sagen „Nein, heute nicht!“, aber mein Helferinstinkt hielt mich zurück. „Kommense doch herein, setzen se sich doch hin.“ „Danke, Frau Protze, gerne wieder, aber heute nicht, ich habe wenig Zeit.“ Nachdem aus fünf Minuten fünfzehn wurden und alle Fernsehsender wieder auf ihrem gewöhnlichen Programmplatz waren, verabschiedete ich mich schnell und eilte nach oben. 18:53 Uhr. Noch 67 Minuten für Baden, Aufräumen, Abendessen. Das musste reichen. Ich begann zu kombinieren, stellte den Herd an, ließ das Badewasser ein, räumte nebenher auf, deckte den Tisch. Stellte die Weingläser bereit. Hier und da ein wenig, und alles wird gut. Ich legte mich ins Wasser, kam ins Schwitzen, duschte lieber, um zwischenzeitlich nach dem Essen zu sehen. Ich glühte und schwitzte, rotierte und eilte, verfluchte meinen Kollegen, den Supermarkt mit seinen Akteuren und Frau Protze. Der Gedanke an meinen Gast stimmte mich mild. Was konnten sie alle dafür, ich selbst und mein verdammter Helferinstinkt waren doch daran schuld. 19:42 Uhr. Das Essen sah gut aus. Ich ging ins Bad, putzte Zähne, frisierte mich und schlüpfte in die zurechtgelegte Kleidung. Alles wird gut. Ich griff zum Parfüm und sprühte ein wenig auf meinen Hals. Ich legte eine ruhige Platte auf, zündete die Kerzen an, schaute ein letztes Mal in den Spiegel. Ich ging zum Fenster. In wenigen Minuten würde er da sein. Ein Vibrieren riss mich aus der eingekehrten Ruhe und der erwartungsvollen Sehnsucht. Ich griff zum Handy und las: „Hallo mein Lieber, es tut mir leid. Meine Mutter ist gestürzt. Ich muss sie ins Krankenhaus begleiten. Rufe dich morgen an.“ Der Abend und die Nacht waren endlos lange.