Es stand ein Klavier in einem Garten zu Darenwede

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Hagen

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Es stand ein Klavier in einem Garten zu Darenwede



Aus dem Zug am Bahnsteig 2 flog ein Seesack, und dann folgte ihm ein Mann.

Behäbig stieg er aus, breitbeinig stand er auf dem Bahnsteig, blond und blauäugig, und langsam lud er sich den Seesack auf die breiten Schultern.

Kurt Dengelmann war von See heimgekehrt.

Aber keiner war da, auf dem kleinen Bahnhof zu Darenwede, um ihn zu begrüßen. Der Stationsvorsteher hob die Kelle, gab das Abfahrtssignal und die Lokomotive des Vorortzuges ging schwer in die Treibstangen der Kropfachse.

Kurt sah dem Zug lange nach, bis der Dampf aus dem Schlot der Lokomotive verweht und das Rollen der Räder auf den Stahlbändern verklungen war. Eine Lerche schwang sich jubilierend in den Himmel und aus der Bahnhofsgaststätte ertönte ‘Save Your Kisses For Me‘ von ‘Brotherhood of Man‘.

Kurt summte eine Strophe mit und beschloss noch schnell ein Bier zu trinken, bevor er seine Mutter überraschen würde, wie es sich für einen Jungen, der mit fünfzehn von zuhause abhaut, zur See geht, die Welt gesehen hat und dann kurz vor seinem dreißigsten Geburtstag als gestandener Seemann heimkehrt, um endlich in seinem Heimatort sesshaft zu werden. Er hatte viel Geld gespart, all die Jahre, das sollte für eine Existenzgründung reichen.

Da viele Münzen in seinen Taschen klimperten, legte er seine Brieftasche mit dem Ausweis, Sparbuch und allen Papieren in den Seesack, diesen in ein Schließfach, zog den Schlüssel ab und steckte ihn sorgsam ein. Es sollte ihm nicht so ergehen, wie dem Leichtmatrosen Küpers, dem damals in Shanghai sein Geld und alle Papiere abhanden gekommen waren.

Und Kurt Dengelmann ging in die Bahnhofsgaststätte und trank ein Bier, und noch eins. Obwohl kein bekanntes Gesicht da war, kam er erst mit einem Gast ins Gespräch und gab dem ein Bier aus, und alle andern kamen auch an die Theke, und Kurt spendierte jedem Bier und erzählte von dem Kaventsmann im Indischen Ozean „… wir waren mindestens fünf Minuten unter Wasser! Ein Glück, dass der Kessel nicht explodiert ist, denn die See ist sogar in den Schornstein geschwappt …“ und sie waren ganz schnell beim ‘Du‘ und bei ‘Kuddel‘ anstatt Kurt, und der gab noch eine Runde aus, „… ob ihr’s glaubt oder nicht, aber in der Sargassosee ist uns eine Seeschlange gefolgt! Sie hat sogar mit gloinigen Augen in die Bullaugen geguckt …“

Es wurde spät den Abend, Kuddel erzählte von dem Sturm in der Biskaya „… und wer mit dem Gesicht in Luv stand und den Mund öffnete oder gähnen musste, dem wurden die Zähne raus gebrochen und in den Schlund geweht, so ein Sturm war das …“, die Riesenwellen wurden größer und höher und die Seeschlangen länger und dicker, und als die Polizeistunde nahte, waren auf einmal alle verschwunden und der Wirt wollte kassieren und schließen.

Polizeistunde.

„‘türlich! Wenn Kuddel Dengelmann einen ausgibt, dann zahlt er auch!“

Und er griff in seine Taschen und holte sein Geld raus. Aber Markstücke waren nicht dabei; - Cruzeiro aus Brasilien, Gourde aus Haiti, Ngultrum aus Bhutan, Malawi-Kwacha, Maledivische Rupien, Tunesische Dinar, das alles rollte auf die Theke, „guck an, das’n Bolivar aus Venezuela, wir ham da mal Schnappgut genommen – aber was das denn für einen? Wo kommt der denn her?“ Kuddel tippte auf eine Münze von etwa 4 cm Durchmesser und einem Loch in der Mitte.

Der Wirt zuckte die Achseln. Überhaupt wollte er so ein Zeug nicht haben, denn die zwanzig verschiedene Währungen lagen auf der Theke, sowas hatte er noch nie gesehen.

Kuddel wollte dem Wirt alles geben und die Sache wäre durch, aber der Wirt wollte erst mal wissen, was die Münzen denn alle wert wären.

Das wusste Kuddel auch nicht, denn wenn er das wüsste, wäre er die Deutsche Bank! Isser die Deutsche Bank? Isser nich! Also brauch er das nicht zu wissen! – Aber er könnte ja mal eben seinen Seesack holen, da sind Scheckbuch, Sparbuch und das andere Zeug drin, und dann wollte er die Sache mal eben regeln und seine Mutter überraschen.

Kuddel strich die Münzen wieder ein, nahm den Schlüssel für das Schließfach, ging leicht schlingernd, etwa wie bei Windstärke acht, wie damals vor Port international de Port-au-Prince, als der Engländer sie fast gerammt hätte, dorthin und wollte seinen Seesack aus dem Fach befreien. Der Wirt folgte ihm, weil man kann ja nicht wissen bei diesen Seeleuten machen eine Mordszeche, schmeißen ein paar alte Münzen auf die Theke und sind auf einmal weg wie Schmidts Katze.

Sei es, dass Kuddels Hände derbe Arbeit gewohnt waren – Ankertrossen spleißen oder beim Schiffsdiesel Kolben ziehen; - möglicherweise spielte auch der Alkoholspiegel in Kuddels Blutbahn eine Rolle, jedenfalls ging nichts auf.

„Na, lass mich mal!“, grummelte der Wirt, murkste eine Weile rum, und dann brach der filigrane Schlüssel bei dem Versuch, das Schließfach zu öffnen ab, und Kuddel guckte total verbiestert, wie damals vor Kap Horn, als sich das kleine Echo auf dem Radar als Flugzeugträger in voller Fahrt auf querab herausstellte … verdammt, und diese Geschichte hatte er noch gar nicht erzählt. Der Kapitän war wieder mal besoffen, und er, Kurt Dengelmann hatte geistesgegenwärtig das Ruder rumgerissen …

Es nützte alles nix, der Polizeiobermeister Hinrich Ohlsen kam und wollte Kuddel mit auf die Wache nehmen, und da war Kuddel vergnatzt, „gib mal ne Spiere oder eine Spillspake oder sowas und ich mach‘ die Kiste mal eben auf! Wäre doch gelacht!“

Damals vor Singapur hatte er ganz andere Sachen aufgemacht! Da hatten sie Wassereinbruch im Kettenkasten, weil sie auf eine Mine aus dem Krieg gelaufen waren – funktionieren ja heute noch die Dinger – und die Schotten zum Vorschiff klemmten, das ist schließlich einen ganz anderen Schnack!

„Habbich auch mal eben fix aufgemacht, mit‘n simplen Schwengel vonne Bilgepump‘, damit wir ans Leck kamen, ‘wären ja sonst alle abgesoffen …“

Aber egal, und bezahlen wollte er die Sache ja, weil er wollte keinen Ärger machen, nur mal eben seine Mutter besuchen, schließlich wäre er ja hier geboren.

„Das kann jeder sagen“, meinte Polizeiobermeister Hinrich Ohlsen, und er sollte sich doch mal eben ausweisen. Das konnte Kuddel nicht, weil seine Papiere waren ja alle im Seesack, und der war im Schließfach, und davon war der Schlüssel ab. Nicht seine Schuld, aber er wollte die Büchse gern mal eben so aufmachen.

Mal eben mal so aufmachen, das ging gar nicht, weil Eigentum der Bundesbahn, und der Stationsvorsteher konnte erst morgen früh einen Schlosser der Bundesbahn aus der Stadt kommen lassen, der die Berechtigung zur Notöffnung besaß und bis dahin müsse er Polizeiobermeister Hinrich Ohlsen ‘die angetrunkene, mittellose Person ohne festen Wohnsitz, die sich nicht ausweisen konnte‘ in Gewahrsam nehmen. Müsse schließlich alles seine Ordnung haben in Darenwede.

Und auf dieser Ordnung bestand Kuddel auch, als der Polizeiobermeister Hinrich Ohlsen Kuddel auf der Wache alles abnehmen wollte, was er bei sich trug, bevor er ihn in die einzige Ausnüchterungszelle Darenwedes steckte. Von wegen ‘mittellos‘! Kuddel wollte gerne für sein gesamtes Bargeld unterschreiben, aber ‘dreiundneunzig Münzen unterschiedlicher Währung‘ akzeptierte er nicht!

Musste er das? Musste er nicht! Von wegen Mittellos!

Mit so viel Geld in der Tasche könnte er sogar noch einen Kameradschaftsabend der hiesigen Polizei finanzieren!

So einfach ließ Kurt Dengelmann sich nicht in den Bau stecken, das hier war schließlich was anderes, als damals in Paramaribo, als die Engländer von so einem aufgemuckelten Liberty-Schiff behauptet hatten, Großbritannien wäre eine Seemacht und ‘Britannia rule the waves‘ gegrölt hatten! Ausgerechnet am 25. November, dem Nationalfeiertag der Unabhängigkeit von den Niederlanden! Wir und die Holländer von dem andern Frachter haben den Zitronenlutschern dann mal eben gezeigt, wer denn nun was regiert!

Leider hatte die Hafenpolizei dort das etwas anders gesehen, aber damals in Suriname hatte die Sache doch ganz andere Dimensionen, die hatten da noch eine Militärregierung und es wäre fast zum Putsch gekommen deswegen – als das hier in Darenwede, und ist auch eine andere Geschichte!

Es wäre ja noch schöner, wenn er die Sache nicht mal eben klar machen könnte, wo sein ganzes Erspartes auf dem Bahnhof im Schließfach lag!

Hatte er den Schlüssel etwa abgebrochen? Hatte er nich! Geradeziehen wollte er die Sache, aber keiner ließ ihn!

Er verlangte eine genaue Liste seiner Barschaft, müsse schließlich alles seine Ordnung haben in Darenwede.

Da hatte er recht und der Polizeiobermeister Hinrich Ohlsen ein Problem; - genau gesagt zwei, denn wenn Kuddel Dengelmann weitere Geschichten von der christlichen Seefahrt erzählen würde, könnte er nicht nachdenken, schließlich hatte er ein Problem zu lösen. Kuddel versprach, in Darenwede keine weitere Geschichten von der christlichen Seefahrt zu erzählen, „… aber da war noch die Sache in Abidjan! Wir sollten eigentlich Kakao laden, aber in den Kisten waren Stoßzähne von Elefanten! Ich saß gerade mit General Robert Guéï, du weißt, der Robert Guéï, in einer Hafenkneipe …“

„Halt’s Maul!“ brüllte Polizeiobermeister Hinrich Ohlsen, wühlte in der untersten Schublade seines Schreibtisches und holte die Diensthandschellen der Darenweder Polizei hervor, „wir sind hier nicht in Abidjan und ich habe ein Problem zu lösen! Das Problem bist du!“

Angesichts der Diensthandschellen brüteten die beiden Herren in der Polizeiwache zu Darenwede über diesem Problem, erzählten sich gegenseitig Anekdoten aus ihrem Leben, fanden, dass jeder in Grunde ein netter Kerl sei, aber es gibt da Vorschriften – und dass Kuddel seine Mutter überraschen wollte, die wird die Sache schon klären, und ob der Kohlenbuddha noch in ihrem Garten stehen würde.

„Ja“, sagte Polizeiobermeister Hinrich Ohlsen, der steht noch dort. Aber die Heizer werfen nicht mehr mit Kohlebrocken.“

Polizeiobermeister Hinrich Ohlsen erzählte von Eierdieben und einem Feuerwerk, das ein bis über beide Ohren verliebter, vorzeitig berenteter Beamter des Katasteramts für seine Angebetete abgefeuert hatte, und er einschreiten musste, bis draußen die kleinen Vögel anfingen zu singen, der Bäcker seinen Laden aufschloss und der Stationsvorsteher anrief, dass vor Montag nichts zu machen sei, mit der Notöffnung des Schließfachs, und heute wäre ja schon Freitag, und die paar Tage würde man schon rumkriegen.

Noch ein Problem!

Polizeiobermeister Hinrich Ohlsen kochte Kaffee und wartete auf die Ablösung. Als Polizeimeister Peter Petersen ablösen kam, erzählte der beiläufig, dass er Frau Annegret Dengelmann soeben am Bahnhof getroffen hatte, sie war auf dem Weg in die Stadt, zu Tante Ruth, bei ihr wollte sie das Wochenende verbringen.

„Annegret Dengelmann ist meine Mutter“, sagte Kuddel.

„Dann is‘ bis Montag nix mit besuchen“, stellte Polizeiobermeister Hinrich Ohlsen lakonisch fest, „Der Zug ist gerade weg. – Was machen wir denn jetzt mit dir, der ‘mittellosen Person ohne festen Wohnsitz, die sich nicht ausweisen kann‘?“

Allgemeines Achselzucken, Polizeimeister Peter Petersen holte Brötchen und Hackepeter, man frühstückte, bis die Bank zu Darenwede öffnete. Polizeimeister Peter Petersen rief da an und verknuckfiedelte dem Direktor höchstpersönlich die ganze verfahrene Geschichte. Der Direktor versprach Fräulein Oetjen mal rüber zu schicken, weil ihr Opa sammelt Münzen und sie versteht da auch was von. Ansonsten müsse man mit den ‘dreiundneunzig Münzen unterschiedlicher Währung‘ am Montag zur Hauptstelle in der Stadt.

Polizeiobermeister Hinrich Ohlsen ging nach Hause, schlafen, Polizeimeister Peter Petersen versah seinen Dienst in der Amtsstube der Polizeiwache und war unabkömmlich wegen einer ‘mittellosen Person ohne festen Wohnsitz in der Amtsstube‘, als ein Bürger anrief und einen Eierdiebstahl meldete.

Kuddel saß derweil mit bleischweren Lidern auf dem Besucherstuhl, blätterte in dem Polizeimagazin, dachte trübe Gedanken und ließ seinen Blick hin und wieder über seine ‘Münzen unterschiedlicher Währung‘ auf dem Nussbaumschreibtisch gleiten.

Und dann kam Fräulein Oetjen, sah Kuddel, stutzte und hauchte: „Kurt? Kurt Dengelmann?“

Kuddel stutzte auch, hob seine bleischweren Lider und murmelte: „Rike? Rike Oetjen?“

Sie fielen sich in die Arme und hielten sich fest, bis sich der Polizeimeister Peter Petersen räusperte und darauf verwies, dass man sich auf der Darenweder Polizeiwache befand und nicht in Abidjan in einer Hafenkneipe. – Außerdem müsse er gleich los, wegen dem Eierdiebstahl, und Fräulein Oetjen sollte mal eben sagen, was die ‘dreiundneunzig Münzen unterschiedlicher Währung‘ wert seien und das beglaubigen, oder noch besser, sie mal eben in der Bank gegen D-Mark eintauschen, dem Bahnhofswirt sein Geld geben und die ‘Person ohne festen Wohnsitz‘ mitnehmen, schließlich war sie eine unbescholtene Bürgerin Darenwedes und könnte für ‘die Person ohne festen Wohnsitz‘ bürgen.

Das mit den dreiundneunzig Münzen unterschiedlicher Währung ging gar nicht, aber mitnehmen konnte sie Herrn Dengelmann und seine Münzen schon. Nach einigen Telefonaten – Fräulein Oetjen nahm sich in der Bank zwei Stunden frei – und dem Ausfüllen etlicher Formulare standen die beiden dann auf der Straße und erzählten sich, wie sie in der Schule nebeneinander gesessen und von einander abgeschrieben hatten. Sie von ihm in Mathe und er von ihr bei den Aufsätzen, oder war es umgekehrt?

Egal, jedenfalls hatten sie in der Scheune von Bauer Reimers die ersten zarten Küsse getauscht und sich heimlich verlobt.

Fräulein Oetjen kaufte noch schnell eine Zahnbürste und zwei Garnituren Unterwäsche, sie brachte Kuddel zu sich nach Hause, befahl ihm, sich auszuschlafen und begab sich wieder in die Bank.

Geweckt wurde Kuddel von den lieblichen Düften aus der Küche. Fräulein Oetjen hatte Koteletts zubereitet, dazu Bratkartoffeln mit Speck und Zwiebeln. Nicht nur davon war er begeistert, auch von dem Liebreiz seiner ehemaligen Klassenkameradin. Er konnte sich nicht erklären, wieso er damals abgehauen und zur See gegangen war.

In dem Lichtspieltheater Darenwedes war gerade „Zwei außer Rand und Band“ angelaufen, da gingen sie hin, aber sie bekamen nicht viel davon mit, wie sich Bud Spencer und Terence Hill durch den Film kloppten. Außer Rand und Band waren auch Rike und Kurt in der folgenden Nacht, aber auf eine ganz andere Weise …

Am nächsten Morgen fuhren die beiden in die Stadt und Rike kaufte für ihren Kurt einen neuen Anzug, einen schönen Anzug aus feinem Zwirn, und glatte, schwarze, wasserpolierte Oxfordschuhe, Socken, zwei Hemden und eine Krawatte aus Seide.

Man schlenderte auch beim Juwelier vorbei und besah sich Ringe im Schaufenster.

Rike hatte in zwei Wochen Geburtstag, ihren Dreißigsten, da wäre es doch ganz angebracht, die Feier mit einem Verlobungsring am Finger zu beenden.

Das fand Kuddel auch und bis dahin würde sich die Sache mit Kuddels Seesack geklärt haben, denn lumpen lassen, das hatte er sich noch nie.

Des Abends im ‘Grünen Jäger‘ tanzten sie festlich gewandet eng umschlungen und Wange an Wange. Sie bekamen nicht mit, wie sich das Gerücht, das Kurt Dengelmann wegen Fräulein Oetjen endlich heimgekehrt sei von See, ausbreitete wie ein Steppenbrand im Hochsommer. Man konnte das Fräulein von der Bank gut verstehen, dass es so lange auf ihren Seemann gewartet hatte, bei der stattlichen Erscheinung, und diese Ähnlichkeit! So ein schönes Paar!

Obwohl Fräulein Oetjen den Arzt aus dem Nachbarort hätte haben können, oder zumindest den Sohn vom Apotheker. Naja, wo die Liebe hinfällt. Gar mancher Junggeselle disponierte seine Zukunftspläne um.

Am folgenden Sonntag war es soweit, dass Rike ihrer Mutter ihren Zukünftigen vorstellte.

Frau Oetjen hatte den Kaffeetisch liebevoll gedeckt und sogar eine Brandteigtorte mit Aprikosenfüllung gebacken. Aber ihr Blick war trübe und meistens in eine unergründliche Ferne gerichtet. Das fiel der Tochter auf, war ihre Mutter doch ansonsten sehr lebensfroh und hatte stets ein Späßchen oder ein nettes Wort parat. Als die Torte zur Hälfte gegessen war und sich Rikes und Kurts Blicke wieder leidenschaftlich ineinander zu verflechten begannen, hub sie an, die Geschichte von dem Klavier – eigentlich war es ja ein Flügel, ein richtiger Konzertflügel der Marke ‘Steinway‘ – der da vor dem Gartenhäuschen unter der Linde in einem der Gärten gestanden hatte, zu erzählen: „Wisst ihr,“ begann Frau Oetjen und tat jedem noch ein Stück Torte auf, „damals im Krieg, als die Bombenangriffe immer schlimmer wurden, haben die wohlhabenden Städter ihre wertvollen Sachen zu Freunden oder Verwandten – wenn sie welche hatten – aufs Land gebracht. Da wo die das Einkaufszentrum gebaut haben, waren damals Gärten, so Schrebergärten mit Gartenhäuschen. Wahrscheinlich sollte der Flügel darein, ging aber nicht. So blieb er dann unter dem Baum stehen. Ein Bein war ab, aber man hatte ein paar Kisten darunter gestellt.“

Frau Oetjens Blick richtete sich auf einen imaginären Punkt irgendwo in der Ferne und sie erzählte vom Bund Deutscher Mädels, von dem sie als Landhelferin in Darenwede eingesetzt worden war. Zum Glück, denn fast hätte man sie nach Bergen-Belsen geschickt, als Aufsicht im KZ.

„Als der Krieg dann aus war“, fuhr Frau Oetjen fort, „wurde jeder Fußbreit Boden zum Anbau von Nahrungsmitteln genutzt, war ja knapp damals, alles war knapp, obwohl der Ami laufend sogenannte Care-Pakete schickte. In den Gärten haben die Frauen dann Bohnen, Möhren, Majoran, Kartoffeln und sowas angebaut, alles, was man essen konnte. Das haben Frauen gemacht, ich auch, denn die Männer waren ja nicht da. Entweder noch in Gefangenschaft oder im Krieg gefallen. Wir haben schwer gearbeitet damals, die einzige Abwechslung war ein junger Mann, der nachmittags kam und auf dem Klavier spielte. Wunderschöne Melodien. Die Frauen sind alle gekommen und haben zugehört. Ich erinnere mich noch genau an den Walzer aus ‘Carousel‘ von Richard Rodgers, das Musical war gerade am Broadway uraufgeführt worden …“

Den ‘Carousel Waltz‘ summend schenkte Frau Oetjen nochmal Kaffee nach.

„Tja, und dann kam er auf einmal nicht mehr. – Aber zwei von uns Frauen waren schwanger …“ Frau Oetjen sah Kurt fest in die Augen, „deine Mutter mit dir und ich mit Rike …“



Epilog:
Kurt besuchte am folgenden Montag seine Mutter, aber er erzählte nicht, dass er über die Sache mit dem Klavier Bescheid wusste. Am Montag wurde auch das Schließfach geöffnet und Kurt zahlte die Rechnung beim Bahnhofswirt, er legte sogar noch ein Scheinchen oben drauf, wegen der Unannehmlichkeiten.

Das war gegen 17 Uhr 55, und um 18 Uhr 01 stellte der Wirt zwei große Biergläser unter den Zapfhahn, eins für Kuddel und eins für den Polizeimeister Peter Petersen, der mitgekommen war, um die Transaktion zu überwachen.

Bemerkenswert ist noch, das Polizeimeister Peter Petersen, der um 18 Uhr Dienstschluss hatte, gegen 22 Uhr 17 von dem Polizeiobermeister Hinrich Ohlsen in die einzige Ausnüchterungszelle Darenwedes eingeliefert wurde.

Nach altem Brauch musste Fräulein Rike Oetjen an ihrem Dreißigsten Geburtstag an der Kirche Darenwedes ‘Klinken putzen‘*.

Sie wurde von Claas Thiedeke, der zu diesem Zeitpunkt die Darenweder Metzgerei unter Konkursverwaltung betrieb, zwei Monate später geehelicht.

Sie brachte sieben Monate später einen gesunden Jungen zur Welt; - von kräftiger Statur, blond und blauäugig.

Aber da war Kurt Dengelmann längst wieder auf See, und die Metzgerei schrieb wieder schwarze Zahlen.

Zu denken gibt allerdings, das jedes Mal nach dem Besuch der Eheleute Thiedeke zur heiligen Messe eine mehr oder weniger exotische Münze im Klingelbeutel zu finden ist …



Aus dem Brauch des Domtreppenfegens zum 30. Geburtstag eines Manns entwickelt sich später die weibliche Variante, das sogenannte ‘Klinkenputzen‘, bei dem eine ledige Frau an ihrem dreißigsten Geburtstag die Klinken der Domtüren zu putzen hat. Die ledige Frau hat solange zu putzen, bis sie ein Junggeselle ‘freiküsst‘. Sollte sie diesen Junggesellen nicht ehelichen, wird sie ihr Leben lang unverheiratet bleiben.

Seit Ende der 1950er Jahre wird der Brauch zunehmend ausgeübt. Inzwischen wurde der ursprünglich bremische Brauch von anderen Städten übernommen und ist mittlerweile in Norddeutschland weit verbreitet als „Treppe(n)fegen“ oder „Klinkenputzen“ anzutreffen, wobei nicht zwangsläufig die Treppen oder Klinken eines Doms zu fegen oder zu putzen sind. In Osnabrück etwa fegen die ledigen 30-Jährigen die Treppen des Stadttheaters. In kleineren Ortschaften, wie etwa Darenwede, dient auch die Kirche als ‘Bühne‘ für den althergebrachten Brauch. Durch derartige Anpassungen konnte sich der Brauch von Bremen aus inzwischen in eine Vielzahl weiterer Städte verbreiten.
 



 
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