Es wird ein Informatiker gesucht.

Laiger

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Einfaches Spiel, denk ich mir, das ist ja genau mein Ding, denk ich mir. Ich rufe die Nummer an, und vereinbare einen Termin für das Einreichen meiner Bewerbung als E-Mail. Man braucht beides um sich heute zu beweisen, um sich als würdig erkennen zu geben, die höfliche informelle Bitte der Anhörung und die ihr stets kurzerhand folgende bürokratisch einwandfreie formelle Aufforderung der Anstellung, denk ich mir. Zumindest bin ich damit bisher immer gut gefahren, natürlich wird man auch mal gefeuert oder entlassen, doch genau das gehört dazu, dieser Rausschmiss, dieses Zeichen der unmittelbaren und sehnlichst erwünschten Ersetzbarkeit, die über jedem einzelnen Arbeitsantritt, ja genau genommen schon über der Bewerbung wie ein Tag der Abrechnung droht. Das Einstellen ist das Zuckerbrot, das Entlassen die Peitsche. Die meisten der armseligen Schlucker fürchten die Peitsche, doch nicht mit mir, dafür bin ich zu abgeklärt, ich kenne die Mechanismen, das System, die Angst wird mich nicht einnehmen, niemals, ich stelle mich der Elite, ich fordere sie heraus, den Faustkampf gewinne ich natürlich immer, sie fallen wie die Fliegen, gehen einfach K.O., ich übe jeden Tag eine halbe Stunde mindestens, alleine vorm Schlafen, im Gegensatz zu diesen Schwächlingen, diesen endlos weichgespülten Schlipsträgern. Aber die Gesetze nun mal, diese über der Menschenwürde stehenden Gesetze, die übertrumpfen leider selbst mich.
Naja, jedenfalls suche ich wieder.

Informatiker zu sein ist in etwa wie Gärtner zu sein, oder Friedhofswärter. Man pflegt das System, jätet das Unkraut, also die zu entfernenden Fremdkörper, die das eigens erbaute hochsensitive Biotop in Gefahr bringen, die Keime müssen unterbunden werden, ansonsten kann man es gleich lassen. Doch wie jeder gute Informatiker weiß, alleine kann man sich nie alle Namen der Instanzen merken, es sind zu viele, man braucht eine Übersicht, ein Lexikon, und darauf greift man dann zu im Alltag, da erkennt man, was einem von Nutzen sein kann und was schleunigst behoben werden muss.

Ich bewerbe mich also, und vier Wochen später bin ich eingestellt, aufgrund der üppigen Dokumentation meiner Fähigkeiten keineswegs überraschend. Ab diesem Moment betrachten sie mich als einen der ihren, meine bisherigen Erfahrungen haben ausgereicht, zumindest zum Zeitpunkt, in der Sekunde, ein paar Tage später wäre ich vielleicht bereits veraltet gewesen. Bald schon wird man in die Wirtschaftsprognosen schauen, das Schicksal wird sich ausbuchstabieren, und der Blick in die Zukunft wird mich als alsbald entwertet erblicken. Dann wird das Unkraut gejätet, und alles was mir bleibt ist der Distelstich, das Einschlagen der Visage, die Genugtuung sie für 30 Minuten bewusstlos geprügelt zu haben, ihnen diese Zeit gestohlen zu haben, an die sie keine Erinnerung haben werden. Zeit ist Geld, und Geld verdienen ist ihr höchstes Gut. Das Geld kann man ihnen nicht nehmen, unmöglich, sie besitzen alle Eigentumsrechte und der Staat hat sich ihrem Anspruch gegenüber verpflichtet, sich dem Kapital unterwürfig gemacht. Also stehle ich ihnen die Zeit. Ich schlag sie windelweich, und wenn sie aufwachen sind sie reicher als zuvor, und sie werden nicht wissen, woher oder warum.

Nach den ersten paar Arbeitstagen teile ich mir mit den anderen Arbeitnehmern das Leid der Bezahlung, unsere Ausbeute ist gering, unser Gemeinschaftsdenken wächst dagegen beachtlich. Josef und Raul, Bettina und Leander, Stephanie und ich, Daniel und Torgen, wir sind alle ebenbürtig, und Peter von der Buchhaltung, doch er ist nicht in unserem Bürokomplex, er ist so gesehen ein Außenstehender.
Wir sind zwischen Ende 20 und Anfang 30, das Level an Eifer ist unterschiedlich, genauso wie das Level an Selbstachtung. Doch ich verstehe mich gut mit ihnen. Ich höre die anderen lachen und lache mit, mir wird geholfen und ich biete Hilfe an, ich stifte zur Rebellion und finde Anklang. Doch ich spüre, dass sich hier keine echten Revolutionisten befinden, ihnen fehlt der Wille zur Selbstaufgabe, die meisten haben eben dann doch Hunde und Kinder und dergleichen. Schade, denke ich, doch das ist noch kein Rückschlag für den Plan. Ich werde dennoch meine Pflicht erfüllen.

Mein Chef heißt Sinclair, wie ein Amerikaner, gesehen habe ich ihn erst zweimal, doch ich kann bestätigen, er stinkt auch wie einer. Das erste Mal bei meinem Vorstellungsgespräch, eine seiner wenigen Pflichten, hier erfuhr ich sein Aussehen und Auftreten, plump und gemütlich, fast schon ätzend, das zweite Mal bei der Weihnachtsfeier, hier erfuhr ich seine Persönlichkeit, herausfordernd, simpel, überzeugt, peinlich, und seine Umgebung, bürgerlich, reich, penibel.

Er war als einziger besoffen. Ich trinke nie, es liegt mir nicht, meine Sinneswahrnehmung schätze ich als überdurchschnittlich gestochen ein, und darauf bin ich stolz, also auf meine Selbsteinschätzung. Die anderen haben wenig getrunken, wegen den bereits erwähnten Anhängseln. Ich werde ihn mindestens noch einmal wiedersehen, entweder bei meiner Entlassung oder wenn ich ihm die Fresse poliere, da ist mir die zweite Variante deutlich lieber, noch lieber als sonst, weswegen ich hoffe, das mein Werdegang in der Firma auf diese Weise sein Ende finden wird.

Meine Kollegen nennen den Chef hinter seinem Rücken immer den „hellen Sünder“, doch ich habe nie erfahren warum. Insider hinterfragt man nicht, man akzeptiert die dadurch vollzogene Ausgrenzung und bleibt höflich, denn genau dasselbe würde man in deren Position erwarten, es ist ein Machtspiel wie jedes andere, da muss man immer selbst erkennen, wann es sich lohnt zu kämpfen, und wann man kapituliert. Ich vermute hinter dem Namen eine Anspielung auf die damalige Sklavenzeit und den in den USA herrschenden Rassismus, Segregation gab es dort auch, ja, es ist im Grunde naheliegend. Personenkult verabscheue ich, und Erinnerungskult ist nur Personenkult der Masse.
Ansonsten erzählen sie wenig über ihn, er erledigt seine Funktion und beobachtet aus seinem Versteck. Alles in allem scheint er typisch zu sein, und das ist so negativ gemeint wie es klingt.

Die nächsten Monate sind ruhig, nur einem wurde gekündigt, sein Nachfolger ist klein und rund, ein Arschkriecher mit Drang zum Ducken, der von mir erhoffte Mitstreiter bleibt somit leider noch aus. Ich habe herausgefunden, wo Sinclair wohnt, ihm ist es nämlich bereits auf der Weihnachtsfeier vor mir rausgerutscht, als er betrunken war habe ich ihn ausgefragt, er hat eine Frau und derzeit keine Geliebte, zwei Kinder, zu deren Sexualität er mir keine klare Auskunft geben konnte, und 4 Meerschweinchen, 2 für jedes Balg. Sein Haus ist im Süden der Stadt, 5 Kilometer
von mir entfernt, doch das hindert mich nicht, ich fahre gerne Fahrrad. Er hat mich auf eine unbestimmte Zeit vertröstet, „Wir könnten Sie ja mal zum Abendessen einladen“, doch ich wollte nicht nachhaken. Ich habe es nur kurz abgenickt und verschmitzt gegrinst.

Ich habe bis jetzt gewartet, der Moment war noch nicht gekommen, außerdem ist die Bezahlung gut, sowas muss man ausnutzen. Des Weiteren weiß ich ja jetzt, wo ich ihn finden kann, kein Grund die Sache zu überstürzen. An dem Tag, als der neue sich auf dem Platz von Raul breitmacht, überlege ich mir den Ablauf. Als erstes muss der Ort bestimmt werden, ich entscheide mich für seine Wohnungstür, die muss er täglich mindestens zweimal passieren, wenn er die Hecke schneiden will sogar viermal, das potenziert sich schnell. Immer wenn ich aufstehe, ins Bett gehe, auf dem Klo sitze, ich müsste bei jeder Handlung daran denken wie sein Kopf von diesem einen Moment eingenommen wird, Tag für Tag, es würde mir immer ein Lächeln auf die Lippen zaubern, manchmal würde es vielleicht sogar meinen ganzen Körper erfassen, ja, dann würde ich mich nicht mehr halten können und das Lachen würde in Hysterie überspringen, es würde mich zerreißen. Alleine die Vorstellung erfüllt meinen ganzen Körper mit Antizipation, es ist also beschlossene Sache. Als zweites die Tageszeit. Der Morgen ist mir zu unsicher, ich weiß weder seine Routine noch die Einstellung seines Weckers, er könnte sogar einer von denen sein, die die Schlummerfunktion benutzen, und das wäre alles kein Problem, ich könnte klingeln, aber was ist wenn dann seine Frau oder eines der Kinder die Tür öffnen würde ? Ich müsste ihnen alles erklären, dass ich gekommen bin um dem Herrn des Hauses eine rein zuhauen, dass sie ihn doch bitte rufen sollen, dass ich nicht zum Essen bleiben will, das Ganze wirkt dann doch mehr als umständlich, im Erklären war ich nie besonders gut, ich müsste die Aktion absagen. Der Abend verfällt leider in dieselbe Falle, Kinder sind meist am Abend da, vor allem in dem Alter, sie sind zu jung um auszugehen, Spaß zu haben, der Frau werden ebenso abendliche Pläne außerhalb des Hauses fremd sein. Nein, das ist alles vergebens.

Ich werde zu ihm fahren, doch er muss krank sein, und ich muss sicherstellen, dass er krank ist, ich könnte ihn vergiften, nur leicht natürlich, es in den Kaffee mischen, ich müsste mich nur am Vortag in sein Büro schleichen, das wäre einfach, und wenn er krank ist, dann werde ich, an einem Wochentag, am Mittag zuschlagen, wenn kein Feiertag ist, da sind die Kinder in der Schule, ich fahre bereits früh zu ihm, um auf den richtigen Moment zu warten, ich bespähe den Garten, bis die Frau hinausläuft, sie wird einen Moment der Entspannung benötigen, und dann klingle ich vorne an der Tür, und er wird aufmachen - aber er ist krank, er würde nie aufmachen, er würde nach seiner Frau schreien, sie solle aufmachen, jemand ist an der Tür. Ich könnte die Frau im Garten fesseln, und mundtot machen, es müsste lautlos sein, und dann vorne klingeln, er würde merken dass sie nicht öffnet und genervt zur Tür schlurfen, und dann stünde ich vor dem Türrahmen und könnte seelenruhig auf ihn einprügeln.

Ich bin unzufrieden mit dieser Idee, und beschließe auf eine Einladung seinerseits zum Abendessen zu bestehen und beim Abschied den Moment abzupassen.

Ich klopfe an seine Bürotür, die Sekretärin öffnet mir und ich werde herein gebeten. Ich schmeichle sein Ego und taste mich vor in sein Gedächtnis. Es klappt, er geht auf mich ein, wirft mir einen Knochen zu: „Ja, das habe ich ja ganz vergessen, ich wollte Sie schon lange näher kennenlernen, kommen Sie doch vorbei, wie wäre es mit nächsten Samstag ? Ich kläre das noch ab mit der Dame und gebe ihnen Bescheid, hier ist aber schon die Adresse.“
Er übergibt mir zur Machtdemonstration eine seiner Visitenkarten, auf die er mit Kuli seine Privatadresse geschrieben hat, daraufhin bekunde ich meine ehrliche Dankbarkeit und scheuche die Sekretärin wieder hinein.

Die Dame nickte das Abendessen wahrscheinlich einfach ab, jedenfalls trat Sinclair am Tag darauf an meinen Arbeitsplatz und versprach, dass es klappen würde, und verkündete den Zeitpunkt meines Eintreffens. Ich bestätigte seine Annahme und grinste ihn an. Er ging zügig wieder in sein Büro, sein Kopf war voller Zweifel über sich selbst.

Es läuft alles zu reibungslos, das nimmt den ganzen Spaß, das Planen verliert den Reiz. Ich warte ruhig auf den Tag der Abrechnung, als einziger über seine Relevanz wissend, und bereite mich vor, indem ich an dem davor liegenden Freitag meinen Schreibtisch räume. Stephanie fragt mich, wofür ich dies tue und ob ich eine neue Anstellung gefunden habe, ein besseres Angebot, eine Promotion auf der ewigen Leiter des Wartens. Sie vermutet sofort in mir einen Verräter erwischt zu haben. Ich verneine. „Nein, nein, ich würde nie illoyal meinem Arbeitgeber gegenüber sein, doch ich plane in der Tat etwas großes, und du wirst mich am Montag bewundern für meine Beharrlichkeit. Irgendwann wirst du einsehen, dass die Welt komplex ist, und dann wirst du an mich und diesen Tag denken, und dir wünschen mir gefolgt zu sein.“
Sie versteht nicht, bleibt stumm, schaut entsetzt und verängstigt, doch sie wird nichts dagegen unternehmen, und bald wird sie verstehen, und mich zum Märtyrer erklären.
Ich verabschiede mich bei allen, selbst bei Peter, und verlasse pünktlich das Gebäude. Ich blicke nicht zurück, meine Zukunft hindert mich am Versuch, und tauche ein in die frühabendliche undurchdringliche Masse Sodoms.

Ich schlafe schlecht, wende mich, verweile einige Zeit im Halbschlaf. Der Morgen verläuft nach Plan, aber die Anspannung zieht sich durch meine Handlungen und gibt mir nie einen klaren Moment. Nach jedem Handgriff sprühe ich mich erneut mit Parfum ein. Ich nehme Frühstück und Mittag zu mir.
Bevor ich durch meine Tür schreiten kann erstarrt mein Körper. Ich kann an nichts denken, irgendwas ergreift mich, nimmt Besitz von mir. Ich blicke für eine Weile regungslos auf den Knauf und wünsche ein anderes Leben. Meine geschlossene Faust schleudert sich direkt auf den Spion und durchbricht die Stille, ich aber bleibe stumm. Etwas verlässt mich, etwas bedauert mich, ich spüre die Enttäuschung, doch mit jeder weiteren Sekunde verblasst sie mehr. Ich öffne die Tür. Ich schreite durch. Ich wende mich. Ich schließe doppelt zu.
Dann verlasse ich meine Wohnung, und schwinge mich auf mein Fahrrad. Der Weg ist kurz, das Wetter mild. Das Schicksal steuert den Lenker, nicht ich, niemand sonst, und es geleitet mich sicher vor sein Haus. Ich verwahre es an einem sicheren Ort und beginne mit der Begutachtung.

Sein Anwesen ist weder protzig noch beschämend. Vielmehr strahlt es eine beneidenswerte Besonnenheit aus. Ich versuche, mich nicht einlullen zu lassen und trete durch das Gartentor. Dieser Eingang ist mindestens 2 Jahre alt, der Rost wird bald schon einsetzen. Der Kiesweg zur Haustür ist eingestaubt, und als ich mich vorbeuge, erfühle ich, dass sich unter dem Rasen lauter Würmer tummeln. Man könnte mit Recht behaupten, dass der mir erhobene Empfang miserabel ist, doch ich warte noch mit meiner Meinung, ich halte mich bedeckt, und klopfe an die Tür.

Sofort höre ich gehuschte Bewegungen und geflüsterte Aufforderungen. Nach 3 Sekunden, vielleicht auch etwas weniger, erscheint Mr. Sinclair vor meinen Augen. Er trägt einen recht schicken, aber dem Anlass entsprechenden Anzug, und es überrascht mich dies zugeben zu müssen, aber in diesem Augenblick, als wir uns gegenüber standen und keiner etwas zu dem anderen gesagt hatte, da kam es mir so vor, als ob wir gar nicht so verschieden waren, als ob wir einander ähnlich waren, einander glichen, womöglich sogar noch mehr. Diese Gedanken kamen mir in dem Moment. Ich habe es später erkannt.

Bei seiner Begrüßung schreit er etwas laut, er wirkt unbeholfen, und mir wird wieder bewusst, wer hier eigentlich vor mir steht. Seine Frau, etwas abseits von ihm, und weit von mir entfernt, flüstert daraufhin einen ähnlich klingenden Satz, ich fasse es als ein „Schön Sie endlich hier zu haben“ auf und erwidere die übertrieben gespielte Freude mit der mir am ehesten noch bekömmliche Art.

Sie sieht aus wie auf den Handybildern des Chefs, bescheiden dreinblickend, süß, schüchtern, ängstlich, fromm. Es besteht kein Zweifel, dass sie aus Deutschland kommt. Sie trägt ihr Lieblingskleid, was sie bereits zu etlichen Feiern trug, um sich beschützt zu fühlen. Ihre Augen versprechen, dass wir wenig Worte wechseln werden. Ihre Statur verhindert, dass ich Gelüste entwickle.

Es ist mir unverständlich warum dieses Ehepaar in einer eigentlich einstudierten, durch unzählige Geschäftsessen bereits automatisierten Geste so miserabel miteinander abgestimmt ist. Müsste man in dem Alter nicht erprobt sein ? Wo bleibt die klassische Nonchalance ? Wo ist die normalerweise dargebotene Überlegenheit ? Ich bleibe weiterhin wachsam, noch ist die Schlacht nicht gewonnen.

Man bittet mich herein, nimmt mir den Mantel ab, hängt ihn auf, und der Herr beginnt die Führung durch das Haus. Ich fühle mich schnell gelangweilt, erkenne ich doch schon vorm Betreten eines jeden Zimmers eben jene von den auf der Weihnachtsfeier mir gezeigten Bildern wieder. Ja, Küche, Flur, Wohnzimmer, Stube, Rumpelkammer, erstes Bad, Flur, Treppe, Flur, zweites Bad, Zimmer des Großen, Zimmer der Kleinen, Arbeitszimmer, Schlafzimmer, Diele, jedes Haus ist ein und dasselbe, die Unterschiede sind marginal, kaum zu erkennen, mikroskopisch klein, winzig, ich bemühe mich gar nicht erst, sondern schweife ab mit den Gedanken, ich denke an die Zukunft und die Vergangenheit, und plötzlich befinde ich mich wieder vor dem Chef, stehend, und aus heiterem Himmel fragt er mich:
„Darf ich Sie für eine Geschichte begeistern ?“

Wir sind alleine, seine Frau holt gerade die Kinder aus dem Garten und weist sie abermals in die abgesprochene Ordnung für den Abend ein. Wir stehen vor beiden Kinderzimmern, inmitten des Flures, und durch die nun offenen Türen erkenne ich in dem mir gegenüberliegenden Raum einen kleinen Schreibtisch und den Käfig mit zwei der dazugehörigen Pelzknäuel darin.

Ich zögere, wittere Gefahr, doch die Herausforderung reizt mich, ich kann nicht widerstehen, und willige ein.
Er beginnt mit der angekündigten Geschichte.

Ich schalte wieder ab, zumindest zum Teil, dieser ganze Tag hat meine Nerven strapaziert, und dieses Haus verstärkt die Wirkung, ich entwickele regelrechten Hass auf die Wände, die Möbel, die Gardinen. Ich versuche mich auf das Scharren des einen Knäuels zu konzentrieren, auf seine rhythmischen Angstschreie, auf sein lebenslänglich andauerndes Betteln um den Tod. Es beruhigt mich, ich fühle, wie sich meine Muskeln entspannen.

Ach ja, die Geschichte, …
Es handelt sich offenbar um eine Fabel, nach genauerem Zuhören erzählt er offenbar die von dem Hasen und dem Igel:

„… Der Hase aber rennt und rennt, doch er scheint immer zu langsam zu sein, …“

Warum erzählt er mir jetzt diese altbackene Kindergeschichte ? Hat er sie etwa erst kürzlich für sich entdeckt ? Ist er stolz darauf, seinen Kindern so ein Ammenmärchen vorgetragen zu haben ? Will er von mir eine Zustimmung, Sympathie, oder soll ich ihm danach im Austausch auch eine Gute-Nacht-Geschichte aufsagen ? Wenn er jetzt schon mit so einem armseligen Versuch die Konversation aufsuchen muss, wie soll dann erst der restliche Abend werden ?

„Was er nicht weiß, ist, dass der Igel einen Bruder hat, der am anderen Ende …“

Ich fange an, mir für den Fall der Fälle ebenfalls eine Fabel zu überlegen. Ein Fisch und ein Bär, die beide vom Fuchs eingeladen werden, und der Fisch versteckt sich im Magen des Bären, um jegliche soziale Interaktion zu vermeiden, der Bär ist nämlich nur noch vegan. Daraufhin fragt die Maus den Löwen, ob er nicht auch …

„Was denken sie über diese Geschichte ?“

Was ich denke ? Was ich wirklich denke ? Ich bin der Hase, Sie sind der Igel. Ich spiele fair. Ich kann rennen und rennen, mich noch so sehr anstrengen, doch ich werde niemals mein Ziel erreichen. Sie können sich entspannen, stehen bleiben, ihr Rennen wurde bereits für Sie gewonnen, ihre Eltern sind die Verantwortlichen, die Strippenzieher, sie haben die nötigen Vorkehrungen getroffen. Ich bin der Einzelgänger, der ewige Trottel, und über wen lachen die Zuschauer ? Über mich. Meine Ambition wird belächelt, die Abgeklärtheit des Spiels ist jedem Außenstehenden bewusst, doch solange ich unwissend bleibe dreht sich das Rad, solange spinnt sich die Geschichte weiter, solange diene ich zur Unterhaltung. Was Sie nur noch nicht begriffen haben, ist folgendes: Ich habe verstanden, ich bin mir dessen bewusst, ich renne nicht mehr, und Sie werden teuer für ihre Vergehen bezahlen.

„Eine interessante Fabel, gar vielseitig. Es scheint mir so, als ob hier der Hinterlistigere gewinnt.
Für den Markt ist das Ergebnis entscheidend, die individuelle Leistung eines Teilnehmers, der Igel wusste zu glänzen, ökonomisch zu handeln, die Minmax-Gleichung ging auf und er wird deswegen vom
Kunden bevorzugt werden. Man könnte sagen, dass der Igel die Regularien gebeugt und ganz klar betrogen hat, doch hier ist nun mal alles erlaubt, es entspricht den Regeln des Krieges, hier ist jeder frei, der Igel hat sich somit wahrlich durchgesetzt, und der Hase hat ausgedient. Hieran wird verdeutlicht, dass jedes Individuum die gleichen Chancen besitzt, jeder kann Gewinner sein, man muss sich nur seiner Fähigkeiten bedienen.“

„Recht haben Sie ! Recht haben Sie ! Also, Sie sind mir ja einer, wirklich.“ Dabei feixt er mich an, so als ob wir gerade zusammen einen Klingelstreich begangen hätten. "Allerdings, ..."

Gerade jetzt ruft uns seine Frau zum Essen. Mein Hunger ist ausreichend groß, und ich setze mich sogleich in Bewegung. Er wird von meiner Beschleunigung erfasst und schnellt sogleich vor, um mich hinunter zu geleiten.

Der Tisch ist gedeckt, die Bälger sitzen ordentlich an den ihnen zugewiesenen Plätzen, und auch sonst ist der Anblick wahrhaft sinnlich.

Die Tochter verkörpert mit dem dazu passenden Kleid ganz und gar die junge Variante der Mutter, auch sie wird mich also nichts substanzielles fragen.
Der Sohn trägt einen Anzug in Kindergröße, er wirkt streitsüchtig und verzogen, ihn kann ich daher schlecht einschätzen und nehme mir vor, ihm am Tisch im Auge zu behalten.

Wir setzen uns alle, Sinclair am Kopfende, ich ihm Gegenüber, die Kinder zu meinen Seiten, die Frau rechts von ihm. Das Abendmahl ist angerichtet, es gibt Rotkraut mit Klößen und Rinderbraten. Das Essen sieht solide aus, ich bediene mich als Erster und achte darauf, meinen Teller ausgewogen zu befüllen. Die Mutter gibt den Kindern ihren Anteil, danach kommt der Teller des Chefs. Seine Portion fällt unmerklich größer aus als die meine, doch ich versuche nicht seine Frau dafür verantwortlich zu machen, ich bin der festen Überzeugung, dass ihr Machtspiele weder in der Theorie noch in der Praxis, weder im familiären noch im geschäftlichen geläufig sind. Nein, ich lege mich hierbei fest: Es trifft sie keine Schuld.

Wir essen, der Junge schlingt dabei. Alle anderen benehmen sich vernünftig. Sie fragt, ob jemand Nachschlag will, ich verneine, die anderen bejahen, also beuge ich mich. Wir essen erneut. Er schlingt erneut. Erneut kommt die Nachfrage, nun verneinen alle. Dann springt die Frau auf und bringt die Nachspeise, Butterkekse mit Erdbeersoße. Ich lehne angewidert ab. Sie beteuert, dass es eine Spezialität sei, doch nun habe ich mein Limit erreicht und verweigere mich. Dies ist die Grenze des guten Geschmacks, und diese Grenze muss eingehalten werden. Und wenn ich alleine dafür sorgen muss, dann ergebe ich mich ganz der Aufgabe.

Als endlich alle fertig sind, werden die Kinder vom Tisch entlassen. Sie verabschieden sich von mir und gehen geschlossen nach oben. Ihre Gesichter gleichen jeweils dem eines gebrochenen Hundes, ihr Pflichtbewusstsein übertrumpft jegliche andere Regung.

Ich habe kein Wort mit ihnen gewechselt, mit Ausnahme der Begrüßung und Verabschiedung. Es wurde keine Frage von ihnen gestellt, ich wurde ihnen nicht weiter erklärt. Die Mutter wird sie über mich bereits genügend unterrichtet haben, wobei es da ja eigentlich eh nichts zu erzählen gäbe.
Allgemein wurde während der gesamten Essenseinnahme ausschließlich über das Essen selbst geredet, und sogar das geschah knapp, präzise, jede Bemerkung war kürzer als ein Pistolenschuss: "Schmeckt ?", "Gut.", "Lecker !", "Salzig.", "Soße ?", "Gerne.", "Satt."

Wie dem auch sei, die Kinder sind nun gegangen, ich hoffe sie damit aus meinem Leben verabschiedet zu haben. Das Mädchen war zu fromm und der Junge zu gierig, sie werden zu krummen Gestalten heranwachsen. Diese Faktoren sind leider zum Großteil meist erblich bedingt.

Die Frau beginnt sogleich mit dem Abräumen des Tisches, der Chef gebietet mir mit einem einzigen gezielten Wink der Hand aufzustehen und ihm ins Wohnzimmer zu folgen.
Ich nehme Platz und betrachte sein mysteriös unaussagekräftiges Profil, während er für sich und mich ein Glas Whiskey zubereitet.
Als er mir seine Kreation in die Hand drückt, fragt er:
„Soll ich ihnen meine persönliche Interpretation der Geschichte sagen ?“

Ich bin verunsichert, doch bleibe ruhig, nicke, und höre zu. Nebenbei trinke ich, doch nur einen Schluck. Regeln können wenn nötig gebeugt werden, die Welt verändert sich stetig, warum sollte der Charakter davon unabhängig funktionieren.

„Nun, es stimmt, was sie sagten. Die meisten gehen mit dieser Interpretation, und recht haben sie ja auch alle. Doch ich verstand die Geschichte immer unter einem anderen Licht. Nicht Listigkeit ist entscheidend, nicht das Austricksen ist die Moral, oder das Prinzip des ökonomischen Jonglieren der Ressourcen. Es geht vielmehr um die Macht der Kooperation, genauer, um die Kraft der Solidarität. Wir können uns aufspalten in verschiedene Zweige, konkurrierende Lager, die einen sind Hasen, die anderen Igel, doch wer sich in wem widerspiegeln vermag ist vollkommen belanglos. Ziel muss sein, Igel und Hase zu vereinen, der Wettkampf muss abgeblasen werden, um Frieden und das Wohl aller zu erreichen. Sehen Sie es nicht auch so ? Ich lade normalerweise keine Angestellten ein, nicht weil ich sie nicht schätzen würde, denn das tue ich, jeden einzelnen. Ich möchte einfach keinen sozialen Druck ausüben in einer Situation, in der ich klar am längeren Hebel sitze und einschüchternd wirken kann. Doch bei ihnen habe ich da gewisse Tendenzen gespürt. Sind Sie nicht auch der Ansicht ?“

Was eine Scheiße, die der Ami da von sich gibt. Es ist eine Falle, ich muss mich von ihm entschieden distanzieren. Nein, natürlich sind wir verschiedener Meinung, wir sind verschiedene Menschen, Klassen, unser ganzes Weltbild ist grundlegend unterschiedlich. Einer Meinung zu sein ist ausgeschlossen. Wenn diese Leute Einigung und Akzeptanz heucheln, wittere ich immerzu den dahinter lauernden Gewinn, der durch Überstunden und vorgetäuscht nötiger Arbeitsethik meinerseits geschaffen wird, und damit den Betrug, welcher jegliche Handlung dieser Wichser bestimmt. Jetzt nochmal vollen Einsatz zeigen, sich beweisen, um später in ungewisser Zeit dem Sozialismus zu huldigen. Wer sich hier aufgrund von Zusprüchen des Kapitalisten auf einen unbenannten Umbruch einlullen lässt, dessen Schicksal wird im nächsten Moment bereits besiegelt sein.

Immerhin beruhigt mich der Whiskey ein wenig, er betäubt, der Hass in mir findet keinen Ausgang.

Nein, ich habe mir versprochen, meinen Idealen zu folgen, meinen eigenen Vorstellungen, keine Kompromisse, keine Abweichungen von der Utopie. Ich werde nicht zur Marionette, schon gar nicht von diesem Hampelmann, Möchtegern, der seine Kinder nicht mal vernünftig erziehen kann. Ein Mensch ohne Regeln ist er, in meinen Augen nicht mehr wert als ein Tier, ein Nutztier, und dass kann man schlagen, sollte man schlagen, wie sollen sie denn sonst ihren Platz verstehen ? Wie soll sonst deren Verstand geschult werden ? Auch ich habe meinen Verstand eingerenkt bekommen, auch ich habe gelernt. Die Mittel und Wege sind schmerzhaft, aber nicht verhandelbar. Dies nun ist meine Tat, die Strafe des Himmels, die herabregnet und alles in ihrem Wege vernichten wird.

Aber selbst für den simplen Hieb bin ich zu schwach, zumindest im Augenblick, es muss am Alkohol liegen.
Ich kann weder verbrennen, noch löschen, nicht vergiften, nicht töten. Ich bin wertlos geworden, und von nun an ungeeignet für diese Rolle.

Auf einmal spüre ich den Drang zur Flucht.
Ich trinke nicht aus, ignoriere seinen Kommentar, springe auf. Stolziere zur Tür, greife meinen Mantel, öffne ruckartig die Tür, drehe mich um. Verstumme. Erstarre. Er ist mir nach gelaufen, er hat nichts gesagt, sein Gesicht ist vollkommen ausdruckslos. Was denkt er über mich ? Hält er mich wirklich für fähig ?

Vollkommene Stille durchzieht den Raum. Doch ich versuche einen Durchbruch. „Ich kann nicht mit ihnen ins Geschäft kommen“, flüstere ich. Er regt sich nicht. Wir schweigen erneut, eine Ewigkeit lang.

Ich erhebe meine Hand. Ich halte sie hinter meinem Kopf. Ich balle die Faust. Ich blicke in seine Augen. Auf einmal blitzt seine Seele vor mir auf, und seine Persönlichkeit, seine Kühnheit, sie platzt hervor, seine Menschlichkeit quillt aus ihm heraus, und sie beginnt auf seiner Haut zu lodern. Es ist ein Tanz, der über seinen Körper hinaus eingeleitet wird und alles einnimmt. Dann folgt eine Eruption des Ganzen. Sie berührt mich, durchströmt mich. Ich zittere, zuerst im Herzen, dann im Oberkörper, in den Beinen, zum Schluss erreicht es die Fingerspitzen. Mein Denken friert komplett ein.

Jetzt spüre ich alles. Es lässt sich nicht mehr aufhalten. Ich umarme ihn. Ich trete nach hinten. Ich drehe mich um. Ich schreite voran. Ich kehre nicht zurück. Nie mehr. Ich spüre in meinem Rücken das warme Licht der Deckenlampe im Flur, das mir durch den Türrahmen hindurch den vernebelten Kiesweg erhellt. Dann plötzlich, von einen Schritt auf den nächsten, betrete ich die Tiefe der Nacht, öffne das Eingangstor, und schwinde für immer in den Abgrund. Ich habe verloren, und diese Niederlage wird mich mein Leben lang zeichnen.
 
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FrederikH

Mitglied
Hallo Laiger,

spannende Geschichte! Stellenweise arg dick aufgetragen, aber das passt ja zu so einer Figur, die sich selbst in geradezu theatralischem Maße wichtig nimmt. Für meinen persönlichen Geschmack könnte man die Wende des Chefs vorher schon über kleinere Hinweise andeuten - nicht nur für Leser:innen, sondern auch für unserer Protagonisten, der sich sonst für mich doch etwas leicht einlullen lässt. Passt auch so, aber denke man kann da noch dran schleifen.

Viele Grüße

FrederikH
 

Laiger

Mitglied
Hallo FrederikH !


Danke für das Feedback :D

Ich persönlich sehe die "Wendung", die der Protagonist damit durchlebt, nicht als ruckartig (Er gibt ja in gewissem Maße bereits vorher nach, zügelt sich aber; er übertreibt oft nur, um sich selbst von dem zuvor positiv Wahrgenommenen abzulenken oder schweigt es tot - falls der Eindruck nicht entsteht ist es mein Fehler). Und es ist ja lediglich diese eine kleine Geste, dieses Eingeständnis, was sofort wieder verworfen wird. Er wendet sich ja ab, und entscheidet sich damit gegen die "Erleuchtung" oder "Erweckung" und gegen den Schritt nach vorne.

Das war zumindest meine Auffassung :)


Vielen Lieben Dank nochmal !
 

FrederikH

Mitglied
Ich finde man merkt schon das Zaudern des Protagonisten an vielen Stellen - das hat auch gut geklappt. Nur die Wende des Chefs kam etwas unangekündigt. Der wirkte für mich zu stark den Erwartungen unseres Protags entsprechend in seiner Lebenswelt. Aber ist auch nur ein Gedanke
 

Laiger

Mitglied
Das stimmt schon :D

So wie es jetzt ist dient es als Twist für beide - Leser und Protagonist - zum gleichen Zeitpunkt. Man hätte es auch versteckt einbauen können, ich habe zum Beispiel faktisch fast nichts zum Arbeitsalltag geschrieben, was bei dieser Konstellation ja auch als fragwürdig eingestuft werden kann ^^
 



 
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