Esme

Bo-ehd

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Manch einer behauptet heute noch, das Anwesen am Abernathy Brook sei ein Spukhaus. Es heißt, welche Familie auch immer dort wohnte, mindestens ein Mitglied (natürlich ein weibliches) hätte hexische Kräfte besessen, hätte aus der Hand lesen, mit Geistern reden oder die Zukunft aus hingeworfenen Hühnerknochen deuten können. Das ist natürlich für jeden Realisten totaler Humbug. Gewiss, das alte Landhaus wechselte aus Gründen, die alle Beteiligten eigenartigerweise für sich behalten, im Durchschnitt alle zehn Jahre den Besitzer, aber was sagt das schon? Die jetzigen wohnen schon zwölf Jahre in diesem idyllisch gelegenen Landhaus, und nichts, rein gar nichts spricht dafür, dass sich dort ein Spuk eingenistet oder sich ein ungebetener Gast seinen Auftritt verschafft haben könnte. Es gab auf dem ganzen Anwesen nichts in Weiß, was auf das Gewand eines Geistes oder einen geheimnisvollen Schleier aus der Welt der Gespenster schließen ließ.

Bob Cunningham, das Familienoberhaupt, war Architekt, hatte in London für die Olympiade gearbeitet, richtig gut Geld verdient und sich mit seinen Millionen in diese ländlichen Gefilde zurückgezogen, um hier in der Hügellandschaft von Gloucestershire jagen und fischen zu gehen. Wenn Not am Mann war, half er seiner alten Firma mit ein paar Entwürfen im Jahr. Ansonsten galt seine Aufmerksamkeit neben seinen Hobbys seiner Frau und den beiden Kindern Alice und Frederic. Seine Frau Joyce war Illustratorin und arbeitete von zu Hause aus für einen Verlag, der Kinder- und Märchenbücher herausgibt.

Da wäre allerdings noch eine fünfte Person: Esmeralda Witherford, Bobs Ur-Ur-Großmutter, kurz Esme genannt. Sie war stolze 99 Jahre alt, was zur Folge hatte, dass sie aufgrund ihres hohen Alters von allen anderen Familienmitgliedern hofiert und in besonderem Maße umsorgt wurde. Die ganze Familie war darauf aus, sie über die 100er-Hürde zu bringen, was dazu geführt hat, dass man ihr jegliche Beschäftigung weggenommen hat, nur um sie zu schonen. Das war natürlich gar nicht in ihrem Sinne, denn wenn eines für ihr hohes Alter verantwortlich gewesen war, dann waren es die täglichen Pflichten vom Gemüseputzen und Rosenschneiden übers Broteschmieren für die Schulverpflegung bis zur Versorgung der Haustiere.

Esme gewöhnte sich zum Erstaunen aller relativ schnell an den faden Tagesablauf. Die viele Freizeit, die sie fortan genoss, nutzte sie, indem sie sich auf dem Grundstück umsah, wie sie es nannte. Das machte sie trotz ihrer stetig nachlassenden Sehkraft zu einer herausragenden Beobachterin, denn je mehr ihre Augen nachließen, desto intensiver 'sah' sie mit den Ohren. Ihr Interesse galt dabei der Natur um Abernathy Brook, besonders der Vogelwelt. Und da sie eine schweigsame Seele war und so gut wie nie über die Dinge sprach, die sie beobachtet hatte, war ihr Verhalten in der Familie sehr unauffällig, was Grundlage für einen unerschütterlichen Burgfrieden war.

Der Tagesablauf bei den Cunninghams war ihr, ja, langweilig. Die Kinder gingen tagsüber in die Schule, Bob in sein Büro im Obergeschoss oder zum Fischen, wenn das Wetter danach war, und Joyce zeichnete, vorzugsweise im Garten unter dem Walnussbaum sitzend, ihre Märchenfiguren. Und Esme? Esme war überall und nirgendwo und bemühte sich, unauffällig zu bleiben, um niemandem lästig zu sein. So waren die Jahre vergangen.

Am Morgen des 21. Juni aber, einem Sonntag, wurde die Routine der Tagesabläufe unterbrochen. Bob war um kurz vor sechs in fertiger Anglermontur aufgebrochen, um ein paar Forellen für die Sonnenwendfeier zu fangen. Das machte er in jedem Jahr, denn die Kinder hatten ihren Spaß daran, die Fische an grünen Weidenstecken über die glühenden Holzscheite ihres Miniatur-Sonnenwendfeuers zu halten und sie dann in schönster Survival-Romantik und Fastfoodmanier von den Spießen zu nagen.

Wenn Bob einen Fang nach Hause bringen musste, weil er für das Tagesessen vorgesehen war, ging er stets an den Badger's Pool, ein dreißig Meter breiter tiefer Gumpen unterhalb eines Wehrbalkens. Dort hatten die Forellen perfekte Unterstände, und wenn er seine künstlichen Fliegen in der richtigen Tiefe anbot, bekam er regelmäßig einige bis zwei Pfund schwere Brocken an den Haken. In der Regel dauerte es eine gute Stunde, bis er genug für die Familie gefangen hatte, so dass er zum Frühstück oder kurz danach wieder zu Hause war. Aber an diesem Tag schien ihm kein Anglerglück beschieden zu sein.

„Ist heute wohl kein Wetter zum Angeln“, mutmaßte Joyce.

„Beim Angeln ist nie ein Tag wie der andere. Er wird schon kommen, wenn sein Korb voll ist“, gab sich der fünfzehnjährige Frederic fachkundig.

Auch die etwas jüngere Alice gab ihren Kommentar: „Der Pool ist überfischt. Da geht doch inzwischen jeder hin, sogar die Schwarzangler feiern dort Party.“

Die drei ereiferten sich über Anglerschicksale an Sonntagvormittagen, wobei die Kommentare immer mehr ins Ironische abglitten. Nur Esme saß mit versteinertem Gesicht am Tisch, nahm einen Schluck Kaffee, tauchte lustlos eine kaltgewordene Scheibe Toastbrot in die Tasse, wollte hineinbeißen, legte sie aber zurück auf den Teller. Ihre Augen waren feucht und starr und dominierten das aschfahle Gesicht.

„Ist dir nicht gut, Esme?“, fragte Joyce. „Du bist weiß im Gesicht wie ein Stück Ziegenkäse.“

Esme winkte ab. „Ist schon gut, meine Liebe. Mir ist nur etwas schwindelig. Es gibt Tage, da sollte man gar nicht erst aufstehen.“

„Willst du dich nicht ein bisschen hinlegen?“

„Nein, lass mal. Ich gehe lieber raus und setze mich in meinen Vorgarten. Hilf mir mal hoch.“

Sie hatte heute nicht die Kraft, allein aufzustehen, und ließ sich deshalb von Joyce und Alice stützen. Zusammen brachten sie sie hinaus vor das Haus und ließen sie auf ihrem Lieblingsstuhl Platz nehmen.

„Alice, hol mir bitte eine Decke, mich friert. Und du, Joyce, bitte meine Schmerztabletten. Mir tut alles weh, von oben bis unten.“

Als Joyce mit den Tabletten zurückkam, fragte sie Esme direkt: „Großmutter, ist etwas mit dir? Verheimlichst du uns etwas? Soll ich Doktor Collins rufen?“

„Nein, lass mal. Mein Körper meldet sich nur manchmal, wenn er nicht mehr will. Heute ist wieder so ein Tag. Lass mich hier draußen einfach ein bisschen sitzen.“ Sie ließ sich von Joyce zudecken, schloss die Augen und sagte emotionslos: „Joyce, ich muss dir was sagen: Ich habe ihn gesehen, ich habe ihn wirklich gesehen.“

Ihre Schwiegertochter wusste die Zeichen ihrer wirr anmutenden Bemerkungen zu deuten und rief Dr. Collins an: „Doktor, Esme ist sehr schwach. Ich glaube, sie will von uns gehen. Sie sitzt mit ihrer schwarzen Kleidung bewegungslos da wie eine alte Frau vom Balkan, als warte sie nur darauf, sich dem Sensenmann anzuvertrauen. Es ist kaum mit anzusehen. Sie wirkt apathisch und tieftraurig. Ich glaube, sie verliert ihren Lebenswillen. Und sie erzählt, dass sie den Tod gesehen habe.“

Dr. Collins hörte geduldig zu und versuchte, Joyce rücksichtsvoll auf das Schlimmste vorzubereiten. Für ihn war der Sachverhalt eindeutig. „Sie geht auf die Hundert zu, Joyce. Ihr müsst vorbereitet sein. Seid dankbar, wenn sie ohne große Schmerzen und in Frieden einschläft.“ Ähnlich hatte sich zuvor Pfarrer Maiden geäußert. Er sei bereit, wenn er gebraucht würde, ließ er wissen, und würde zu jeder Zeit kommen.

Esmes Schlaf dauerte nur wenige Minuten. Als sie aufgewacht war, rückte sie sich in dem alten Teakholz-Stuhl zurecht und starrte mit ihren wässrigen Augen auf den Hof. Joyce beobachtete sie vom Küchenfenster aus, und als sie sah, dass sie wie versteinert dasaß und jegliches Lebenszeichen vermissen ließ, trat sie zu ihr.

„Geht es dir ein bisschen besser, Großmutter?“, fragte sie besorgt.

„Das ist kein guter Tag, Joyce, ich hasse solche Tage“, sagte sie wehleidig und fuhr mit leiser Stimme fort: „Joyce, ich habe ihn gesehen. Ich habe ihn tatsächlich gesehen, wie er mit seinem langen schwarzen Mantel hier vorbeistolziert ist. Er sah furchtbar aus, glaub mir, ich habe ihn jetzt noch vor Augen. Was für eine schrecklich düstere Gestalt! Einfach grauenvoll!“ Sie hatte kaum ausgeredet, da überfiel sie ein leichter Husten, der sie so sehr anstrengte, dass es ihr die Röte unter die lederne Haut ihres faltigen Gesichts trieb.

Joyce hätte heulen können beim Anblick der alten Frau. „Wen hast du gesehen, Großmutter?“, fragte sie abermals, als hätte sie nicht recht verstanden.

„Ich habe den Tod gesehen, Joyce. Ich habe diesem schrecklichen Kerl ins Antlitz geschaut, und der Anblick nimmt mir noch jetzt die Luft zum Atmen. Es ist nicht schön, wenn man weiß, was er vorhat. Er wird heute sein Werk vollenden, Joyce, glaub mir, ich weiß es.“

Joyce nickte ihr verständnisvoll zu und ging mit Tränen in den Augen ins Haus zurück, um die Kinder darauf vorzubereiten, dass ihre Großmutter wahrscheinlich in Kürze von ihnen gehen wird. „Wenn nur Bob zurückkäme“, flehte sie halblaut. „So lange ist er noch nie zum Fischen geblieben. Jetzt schläft Großmutter ein, und er vergnügt sich beim Angeln!“ Sie schaute auf die Uhr. „Ach, vielleicht hat er jemanden am Wasser getroffen“, kam es ihr, „wie letzten Monat erst, als er den ganzen Tag mit zwei Angelfreunden verbracht hatte.“ Sie schaute ein zweites Mal nervös auf die Uhr. „Ich muss uns etwas zum Mittagessen machen. Die Kinder werden Hunger haben.“

In diesem Moment fuhr auf der anderen Seite des Hauses ein Polizeiauto vor. Ein Beamter betrat das Haus, und plötzlich hörte man Schreie, so laut und erschütternd, wie sie nur eine verwundete Seele hervorbringen kann. Joyce stürzte aus dem Haus, rannte zu Esme und berichtete mit tränenerstickter Stimme, dass Bob ertrunken sei.

Die Botschaft kam für Esme nicht überraschend. „Ich habe es gewusst“, stammelte sie mit schmerzerfüllter Stimme. „Und ich habe befürchtet, dass der grässliche schwarze Kerl nicht mich holen will, sondern es auf einen von euch abgesehen hat.“
 

DocSchneider

Foren-Redakteur
Teammitglied
Hallo Bo-ehd,

eine interessante Geschichte!

Einiges verstehe ich aber nicht: Wieso ist Bob denn ertrunken? Wo war die Gefahrenquelle im Wortsinn? Am Badger's Pool?

Es deutet nichts darauf hin, dass Bob ertrinken könnte. Er ist ein erfahrener Angler. Extra so, um die Pointe vorzubereiten?

Und wie spät ist es denn inzwischen am Sonntag, als die Familie zusammensitzt?
Eine Zeitangabe würde das Verständnis erleichtern.

Esme bewegt sich an guten Tagen alleine überall hin? Dann wäre sie für 99 Jahre noch wirklich gut in Form!

Die Geschichte ist sehr detailverliebt, vielleicht kannst du da einiges streichen.

Mit Gruß
DS
 

Bo-ehd

Mitglied
Hallo Doc,

Einiges verstehe ich aber nicht: Wieso ist Bob denn ertrunken? Wo war die Gefahrenquelle im Wortsinn? Am Badger's Pool?

Es deutet nichts darauf hin, dass Bob ertrinken könnte. Er ist ein erfahrener Angler. Extra so, um die Pointe vorzubereiten?
Ja. Es hätte nichts gebracht, genauer darauf einzugehen, denn das ist nicht das Thema. Sicherlich ginge das in einem Nebensätzchen oder einfach nur ergänzt: Er ist an einer tiefen Stelle die Böschung hintergerutscht, dann sind die Wathosen blitzschnell voll Wasser gelaufen und haben ihn in die Tiefe gezogen.
Eine solche Ergänzung hätte stark abgelenkt. Und im Übrigen: Solche Details sind nicht üblich, wenn man einer alten Frau eine Todesnachricht überbringt. Bei einem Autounfall sagt man ja auch nicht, wie lang die Bremsspur war.


Und wie spät ist es denn inzwischen am Sonntag, als die Familie zusammensitzt?
Eine Zeitangabe würde das Verständnis erleichtern.
Aus dem Kontext ergibt sich, dass es um die Mittagszeit oder kurz danach war. Ist das wichtig?

Esme bewegt sich an guten Tagen alleine überall hin? Dann wäre sie für 99 Jahre noch wirklich gut in Form!
Sie bewegt sich mühsam und schwerfällig, u.a. weil ihr alles wehtut. Siehe Kontext. Joyce hilft...

Die Geschichte ist sehr detailverliebt
Ich habe das Bild vom Familienleben bewusst genau gezeichnet, weil ja sonst in dem Haus nicht viel passiert. Meine Stilmittel sind hier nur die Alltagsbeschreibung und die Dialoge. So kommt es zu den beiden Pointen "Geist/Hexe/Hellseherin im Haus" (siehe Einstieg) und die Falschbeurteilung des Todeskandidaten.

Gruß
Bo-ehd
 

DocSchneider

Foren-Redakteur
Teammitglied
Und wie spät ist es denn inzwischen am Sonntag, als die Familie zusammensitzt?
Eine Zeitangabe würde das Verständnis erleichtern.
Aus dem Kontext ergibt sich, dass es um die Mittagszeit oder kurz danach war. Ist das wichtig?

Du schreibst im Text:

Bob war um kurz vor sechs in fertiger Anglermontur aufgebrochen, um ein paar Forellen für die Sonnenwendfeier zu fangen.

Deshalb hatte ich auf eine neue Zeitangabe gewartet.

Es ist nicht so wichtig, aber ich hätte es besser gefunden, wenn dort evt gestanden hätte: Als er aber um zwölf Uhr noch immer nicht aufgetaucht war ...

Die anderen Antworten verstehe ich. Alles ok.

Gruß DS
 



 
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