Rainer Zufall
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Ewige Liebe Andrea
Adrian Rotlieb wusste es, sein letztes Stündlein hatte geschlagen. Die Ärzte konnten ihm keine Hoffnung mehr machen, der Krebs hatte ihn niedergerungen. Doch Adrians Geist war heute hellwach, er schwelgte in Erinnerungen. Erinnerungen an seine Jugend. Und damit kam auch die Erinnerung an den Vorabend. Er hatte sein jüngstes, und vermutlich damit auch sein letztes Buch bei einer Lesung vorgestellt. Es war eine Autobiografie mit dem Titel 'Ewige Liebe Andrea'.
Alle Frauen mit diesem Namen, die dort hin kamen, bekamen von ihm ein kleines Geschenk. Zu seinem Erstaunen waren alle Damen, die er in seinem Buch beschrieben hatte, auch anwesend. Das hatte ihn beinahe in Panik versetzt, denn das hatte er natürlich nicht erwartet. Doch der Abend verlief zunächst überaus harmonisch.
„Guten Abend, meine verehrten Damen und Herren, ja ein paar Herren sind tatsächlich auch da“, hatte Adrian die etwa fünfzig Besucher begrüßt. „Ich habe dieses Buch geschrieben, weil ich mich immer wieder an diesen seltsamen Umstand erinnerte, dass es in meiner Jugendzeit offenbar sehr viele junge Damen gab, die den Namen Andrea trugen. Vielleicht hatte ich aber auch einfach eine Vorliebe für diesen Namen“, schmunzelte er.
„Waren Sie in all diese Mädchen verliebt?“, kam von einem jungen Mann die Frage.
„Nun, ja, ich glaube, das könnte man sagen. Die einen mehr, die anderen weniger. Gefühle ließen sie jedoch alle in mir aufflammen. Je älter ich wurde, je deutlicher verspürte ich den Drang, diesen Gefühlen auch nachzugeben. Deshalb erinnere mich an die erste Andrea sehr gerne zurück. Sie hatte das, was man Sexappeal nennt. Und das bereits mit noch nicht ganz vierzehn Jahren. Stellen Sie sich das mal vor.“
„Erzählen Sie von ihr“, bat eine wahrlich atemberaubende Blondine.
Adrian stutzte, schaute sie genauer an. Mein Gott, dachte er, Andrea. Das war diese Andrea.
Langsam setzte er an: „Ja, diese Andrea war ein Traum. Wir waren damals ein kleines Grüppchen, zwei Jungs, zwei Mädels. Wir machten viel zusammen. Aber mit vierzehn dachten wir natürlich noch nicht so unbedingt an feste Beziehungen. Da war auch nichts. Wir waren auf dem Gymnasium zu über zwanzig Jungs mit genau vier Mädchen in der achten Klasse. Die drei anderen waren aber in der Tat eher langweilig. Doch Andrea, ich nenne sie im Buch wegen ihrer blonden Lockenpracht Andrea Hellblond, sie überstrahlte damit alles. Und schon in diesem zarten Alter von vierzehn Jahren konnte diese kesse Blondine mit einer enormen erotischen Ausstrahlung glänzen. Und das Unglaubliche war auch noch, dass sie, wenn sie sich scheinbar nur mit der Freundin unterhielt, wir aber trotzdem daneben standen, dass sie uns in präzisen Zahlen wissen ließ, wie wir uns diese heiße Braut vorzustellen hatten: 96-65-96.“
„Adrian, das trifft auch heute noch ganz exakt zu“, ließ diese Aussage der zuvor Fragenden jedes noch so kleine Gemurmel auf der Stelle verstummen.
Adrian schluckte. Er hatte es geahnt. Das war seine Andrea Hellblond. Ihre frechen grünen Augen musterten Adrian. Dann ging sie auf ihn zu. Auf dem Weg begann sie, die Arme zu öffnen. Adrian erhob sich unsicher. Doch Andrea war fest entschlossen. Sie trat auf ihn zu und umarmte ihn sehr liebevoll.
„Du warst immer ein anständiger und lieber Freund, Adrian. Niemals warst Du aufdringlich, obwohl ich jetzt erahnen kann, dass Du mich gewollt hättest.“
„Oh, Andrea. Ich habe sehr oft an Dich gedacht, als wir die Schule fertig hatten.“
„Sogar während Deines Bundeswehrdienstes hast Du mir geschrieben. Zwischen den Zeilen habe ich sehr wohl Deine Liebeserklärung erkannt. Aber da war ich schon verheiratet“, verriet sie der Zuhörerschaft ohne Scham.
„Klar hattest Du mich deshalb in Deiner Antwort, die ich beim besten Willen nicht erwartet hatte, sehr liebevoll darum gebeten, von weiteren Kontaktaufnahmen abzusehen. Dafür hatte ich Verständnis.“
„Es ist schön, Dich hier jetzt wiederzusehen, Adrian“, gestand sie und drückte ihm einen zarten Kuss auf die Wange, bevor sie zurück zu ihrem Platz ging.
„Es ist mir ebenfalls eine Freude, Dich hier begrüßen zu dürfen, liebe Andrea. Aber jetzt werde ich vielleicht zu meinem Thema zurückkommen, wenn Du erlaubst“, schmunzelte Adrian mit deutlich geröteten Wangen.
„Wer war die nächste, die Ihnen süße Träume bescherte?“, wollte ein Mann mittleren Alters wissen.
„Mit fünfzehn begann für mich die Zeit der Jugendfreizeiten. Zwei benachbarte Kirchengemeinden organisierten viele unvergessliche Fahrten. Und da gab es natürlich auch eine Andrea. Sie hatte kastanienbraunes Haar und war ein apartes Mädchen mit einem liebenswert charmanten Charakter und einem Blick zum Dahinschmelzen. Wenn sie mich mit ihren tiefbraunen Augen ansah, dann geriet ich sofort ins Träumen. Leider war sie da schon fest mit dem Sohn der Küsterin verbandelt.“
„Dann schau Dir Deine Gäste mal genauer an, lieber Adrian“, stand eine Frau auf, ebenso der Mann an ihrer Seite.
„Andrea! Martin!“, entfuhr es Adrian. „Das fasse ich nicht. „Ihr seid...“
„Wir hatten letzte Woche Silberne Hochzeit.“
„Na, herzlichen Glückwunsch. Kommt her zu mir und lasst Euch knuddeln“, bat Adrian voller Freude und stand wieder auf.
„Als ich Deinen Namen las, dachte ich mir: Da gehen wir hin“, offenbarte Andrea und nahm Adrian in den Arm.
„Ich sehe schon, das wird heute ein sehr persönlicher Abend“, ahnte Adrian schon jetzt, denn er erblickte schon seine nächste Kandidatin.
Die kam selbstbewusst auf ihn zu. Adrian bekam feuchte Hände. Es war Andrea Schwarz, wie sie in seinem Buch wegen ihrer pechschwarzen Haare hieß. Sie hatte den leicht unterkühlten Esprit einer typischen Französin, was auch ihr zweiter Vorname vermuten ließ.
Sofort sprach er sie an: „Andrea, ich hoffe, Du nimmst mir nicht übel, was ich über Dich preisgegeben habe“, fürchtete Adrian Schelte.
„Wir waren gute Freunde, aber niemals mehr. Ich hatte zwar durchaus gespürt, dass Du mehr gewollt hättest, aber Du warst einfach viel zu schüchtern und unbedarft. Vielleicht mochte ich Dich gerade deshalb so sehr.“
In seinem Buch erwähnte Adrian, dass Andrea durchaus offen für intimere Freundschaften ohne weitere Verpflichtungen war, er sich aber nie getraut hatte, diese Option in Erwägung zu ziehen, aus Angst, sie würde ihm dann die Freundschaft kündigen. Schließlich hatte die damals Sechzehnjährige einen festen Freund. Außerdem hatte ihre Mutter seiner Mutter einmal gesagt, dass Andrea mit jedem ins Bett ginge, dass sie wohl nichts für einen so anständigen Jungen, wie Adrian wäre. Trotzdem trafen sie sich auch in den nächsten zwei Jahren regelmäßig, weil Adrian nichts auf dieses Gerede gab. Passiert ist jedoch in der Tat nie etwas. Mit achtzehn machten sie gemeinsam Abitur. Danach trennten sich ihre Wege.
„Hier, das bist Du“, zeigte er ihr die Stelle im Buch, in der er sie beschrieb.
„Oh, naja, ganz falsch war es wohl nicht, denke ich. Aber ich bin Dir nicht böse. Keineswegs, denn ich glaube, ich wäre gerne mit Dir ins Bett gegangen – ich hätte Dir die Unschuld genommen, nicht wahr?“, lachte sie frivol.
Adrian lächelte, bat Andrea in seine Arme. Hingebungsvoll tauschten sie Küsschen aus, bevor Adrian sich etwas abrupt löste. „Danke, dass Du da bist“, erklärte er sehr charmant.
„Mir ging es, wie den anderen. Dein Name hat mich gelockt“, lachte sie und ging zu ihrem Platz zurück.
„Ja, meine lieben Damen und Herren, Sie erfahren hier Details aus meinem Leben, die ich zwar im Buch ganz ähnlich skizziert habe, aber der heutige Tag wäre als eine Art Traum als Nachspann sicher sehr gut geeignet“, bedauerte Adrian, dass sein Buch nun unvollendet wirkte.
Sicher war auch jemand von der Presse da, hoffte Adrian, dass es eine Aufzeichnung dieser Veranstaltung geben würde. Es sollte ein großes Glück sein, dass dem tatsächlich so war.
„So, meine lieben Damen und Herren. Jetzt wird es heiß. Ja, und ich habe Deinen Rat befolgt, mir meine heutigen Gäste genauer anzusehen, liebe Andrea“, sprach er die Kastanienbraune an. „Ich habe da jemanden entdeckt. Also sollte ich sehen, dass ich mich nicht zu sehr verstricke. Ich begrüße auch das rothaarige Exemplar meiner Damen mit dem Namen Andrea.“
Diesmal stand er sofort auf und ging dieser Frau entgegen, die da in der letzten Reihe saß.
„Adrian!“, schmachtete sie. „Ich gestehe, ich hatte nach Dir nie wieder einen so tollen Mann.“
„Oh, oh, Du legst die Latte aber gleich verdammt hoch. Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll, meine Liebe.“
„Na, dass ich in Deiner Erinnerung die Beste war. Was sonst?“, prustete sie und krümmte sich vor Lachen.
„Du bringst mich in Verlegenheit, liebe Andrea.“
„Komm in meine Arme!“, forderte sie vehement und drückte ihn ganz fest an sich.
Die Rothaarige war sich ihrer Wirkung sehr wohl bewusst. Sie trug ein recht kurzes, azurblaues Kleid mit sehr schmalen Schulterträgern und einem atemberaubenden Dekollete, das ihre Traumfigur perfekt zur Geltung brachte. Auch heute war Adrian schüchtern darum bemüht, seine Hände nicht allzu nah an die gefährlichen Stellen zu legen. Das Kleid ließ ihm jedoch kaum eine Wahl.
„Oh, Andrea, Du erdrückst mich ja“, lachte Adrian.
„Du sollst mich ja auch richtig spüren“, summte sie ihm ins Ohr. „So wie damals.“
„Du bist noch immer hinreißend schön, das muss ich Dir lassen. Und Du weißt, wie Du Deine bezaubernden Reize einzusetzen hast, nicht wahr?“
„Sag bloß, Du hast was Besseres gefunden? Nein, das will ich so gar nicht beantworten haben. Es waren fünf traumhafte Jahre mit Dir.“
„Das denke ich auch, das kann ich guten Gewissens bestätigen. Wer weiß, was geschehen wäre, wenn Du nicht nach Kanada gegangen wärst. Das war mir einfach zu weit weg“, lachte Adrian.
„Du hast auch was aus Dir gemacht, Du bist ein erfolgreicher Autor geworden. Ich bin Auslandskorrespondentin in Berlin. Ich hätte vorher fragen sollen, aber ich habe diese Veranstaltung bis hierher aufgezeichnet. Ist das okay?“
„Das ist wunderbar. Mach weiter damit“, freute sich Adrian.
„Gut, dann mach mal weiter“, meinte sie und ging wieder zu ihrem Platz.
Adrian ging sehr langsam hinter seinen Tisch, denn er verspürte einen übel stechenden Schmerz im Bauch. Er krümmte sich ein wenig, in der Hoffnung, dass es wieder nachließe. Doch es wurde noch schlimmer. Er holte etwas aus der Hosentasche und drückte auf den roten Knopf des Notfallrufers. Dann schrie er plötzlich vor Schmerzen und brach hinter dem Tisch zusammen.
„Adrian!“, schrie die rothaarige Andrea als Erste von allen und rannte zu ihm. „Oh, mein Gott! Adrian, was ist los?“
Doch er antwortete nicht. Dann sah die Frau den Rufknopf in seiner Hand. Verdammt, er ahnte, dass das passieren könnte, dachte sie. Sie beugte sich über ihn und versuchte sich als Ersthelfer. Und tatsächlich kam er wieder zu Bewusstsein. Sofort nahm sie seinen Kopf in beide Hände und küsste ihn auf die Stirn.
„Es ist wieder gut, Liebes“, stammelte er undeutlich.
„Was war das, zum Teufel? Adrian!“
Inzwischen waren die Sanitäter herein gekommen und eine recht hübsche, aber dennoch eher unauffällige Frau trat hinter Andrea. „Würden Sie bitte mal weg gehen“, klang ihr Ton etwas zu grob.
„Hey, was soll das? Ich habe schon erste Hilfe geleistet. Er kann wieder sprechen“, blaffte Andrea zurück.
„Adrian“, beugte sich die andere Frau zu ihm.
„Wer ist diese Frau, Adrian“, wollte Andrea den Mann beschützen.
„Andrea, das ist meine Frau Helene.“
„Oh... Oh, Entschuldigung“, sprang Andrea hektisch auf. „Tut mir leid. Ich konnte nicht wissen...“
„Schon gut. Und wer sind Sie, wenn ich fragen darf?“, wollte Helene das Gespräch suchen.
„Ich...“, war die Rothaarige plötzlich schüchtern. „Ich denke, das gehört jetzt nicht hierher. Sagen wir, eine frühere Studienkollegin, okay?“
„So geheimnisvoll?“, wurde Helene neugierig.
„Ich sagte schon, das gehört jetzt nicht hierher.“
„Sie sind Andrea, ja? Die Rothaarige“, bewunderte Helene die Frau ein wenig neidisch. „Wenn man bedenkt, dass Sie auch in unserem Alter sind... Also, ich habe es nicht geschafft, so schlank und makellos zu bleiben“, lächelte sie.
„Die inneren Werte zählen, Frau Rotlieb. Wie lange sind Sie schon verheiratet?“
„In drei Wochen sind es fünfundzwanzig Jahre, aber...“, brach die Ehefrau mit einem Seufzer ab und wandte sich ab, um sich endlich um Adrian zu kümmern. „Liebling, wie schlimm ist es jetzt?“
„Du weißt, was der Arzt gesagt hat.“
Helene stand auf und bat den Kurator, die Veranstaltung zu beenden. Die Leute verließen den Saal, doch die vier Damen, die Adrian neben seiner Ehefrau heute wieder so nahe standen, blieben, als sei es selbstverständlich. Und sie begleiteten ihn auch ins Krankenhaus.
Zwei Tage später starb Adrian an Magenkrebs. Tags drauf erschien der Artikel zu dieser Veranstaltung. Und Andrea, die Rothaarige, verfasste einen sehr emotionalen Nachruf. Das hatten die fünf Damen miteinander besprochen.
Only the good die young – was für eine abgenutzte Floskel... Aber sie trifft immer wieder zu.
Adrian war wahrlich ein Guter. Er trat in unser aller Leben, immer mit dem Wunsch, niemanden unzufrieden zurückzulassen. Er war ein liebenswerter, kluger und gütiger Mensch, er konnte gut mit seinen Mitmenschen, und sie schätzten ihn. Das hatte er auch verdient. Er war einer jener Menschen, an die man sich immer gerne erinnerte. Und das wird auch so bleiben, denn die größte Sünde ist das Vergessen, doch die werden wir nicht begehen. Wenn es einen Himmel gibt, dann ist er jetzt dort. Und dort werden wir ihn, so Gott will, in einer noch unbestimmten Zukunft wiedersehen. Das wäre gewiss etwas, worauf man sich an seinem jüngsten Tag würde freuen können. Ganz sicher. Wir sehen uns wieder, Adrian.
Ewige Liebe Andrea
Adrian Rotlieb wusste es, sein letztes Stündlein hatte geschlagen. Die Ärzte konnten ihm keine Hoffnung mehr machen, der Krebs hatte ihn niedergerungen. Doch Adrians Geist war heute hellwach, er schwelgte in Erinnerungen. Erinnerungen an seine Jugend. Und damit kam auch die Erinnerung an den Vorabend. Er hatte sein jüngstes, und vermutlich damit auch sein letztes Buch bei einer Lesung vorgestellt. Es war eine Autobiografie mit dem Titel 'Ewige Liebe Andrea'.
Alle Frauen mit diesem Namen, die dort hin kamen, bekamen von ihm ein kleines Geschenk. Zu seinem Erstaunen waren alle Damen, die er in seinem Buch beschrieben hatte, auch anwesend. Das hatte ihn beinahe in Panik versetzt, denn das hatte er natürlich nicht erwartet. Doch der Abend verlief zunächst überaus harmonisch.
„Guten Abend, meine verehrten Damen und Herren, ja ein paar Herren sind tatsächlich auch da“, hatte Adrian die etwa fünfzig Besucher begrüßt. „Ich habe dieses Buch geschrieben, weil ich mich immer wieder an diesen seltsamen Umstand erinnerte, dass es in meiner Jugendzeit offenbar sehr viele junge Damen gab, die den Namen Andrea trugen. Vielleicht hatte ich aber auch einfach eine Vorliebe für diesen Namen“, schmunzelte er.
„Waren Sie in all diese Mädchen verliebt?“, kam von einem jungen Mann die Frage.
„Nun, ja, ich glaube, das könnte man sagen. Die einen mehr, die anderen weniger. Gefühle ließen sie jedoch alle in mir aufflammen. Je älter ich wurde, je deutlicher verspürte ich den Drang, diesen Gefühlen auch nachzugeben. Deshalb erinnere mich an die erste Andrea sehr gerne zurück. Sie hatte das, was man Sexappeal nennt. Und das bereits mit noch nicht ganz vierzehn Jahren. Stellen Sie sich das mal vor.“
„Erzählen Sie von ihr“, bat eine wahrlich atemberaubende Blondine.
Adrian stutzte, schaute sie genauer an. Mein Gott, dachte er, Andrea. Das war diese Andrea.
Langsam setzte er an: „Ja, diese Andrea war ein Traum. Wir waren damals ein kleines Grüppchen, zwei Jungs, zwei Mädels. Wir machten viel zusammen. Aber mit vierzehn dachten wir natürlich noch nicht so unbedingt an feste Beziehungen. Da war auch nichts. Wir waren auf dem Gymnasium zu über zwanzig Jungs mit genau vier Mädchen in der achten Klasse. Die drei anderen waren aber in der Tat eher langweilig. Doch Andrea, ich nenne sie im Buch wegen ihrer blonden Lockenpracht Andrea Hellblond, sie überstrahlte damit alles. Und schon in diesem zarten Alter von vierzehn Jahren konnte diese kesse Blondine mit einer enormen erotischen Ausstrahlung glänzen. Und das Unglaubliche war auch noch, dass sie, wenn sie sich scheinbar nur mit der Freundin unterhielt, wir aber trotzdem daneben standen, dass sie uns in präzisen Zahlen wissen ließ, wie wir uns diese heiße Braut vorzustellen hatten: 96-65-96.“
„Adrian, das trifft auch heute noch ganz exakt zu“, ließ diese Aussage der zuvor Fragenden jedes noch so kleine Gemurmel auf der Stelle verstummen.
Adrian schluckte. Er hatte es geahnt. Das war seine Andrea Hellblond. Ihre frechen grünen Augen musterten Adrian. Dann ging sie auf ihn zu. Auf dem Weg begann sie, die Arme zu öffnen. Adrian erhob sich unsicher. Doch Andrea war fest entschlossen. Sie trat auf ihn zu und umarmte ihn sehr liebevoll.
„Du warst immer ein anständiger und lieber Freund, Adrian. Niemals warst Du aufdringlich, obwohl ich jetzt erahnen kann, dass Du mich gewollt hättest.“
„Oh, Andrea. Ich habe sehr oft an Dich gedacht, als wir die Schule fertig hatten.“
„Sogar während Deines Bundeswehrdienstes hast Du mir geschrieben. Zwischen den Zeilen habe ich sehr wohl Deine Liebeserklärung erkannt. Aber da war ich schon verheiratet“, verriet sie der Zuhörerschaft ohne Scham.
„Klar hattest Du mich deshalb in Deiner Antwort, die ich beim besten Willen nicht erwartet hatte, sehr liebevoll darum gebeten, von weiteren Kontaktaufnahmen abzusehen. Dafür hatte ich Verständnis.“
„Es ist schön, Dich hier jetzt wiederzusehen, Adrian“, gestand sie und drückte ihm einen zarten Kuss auf die Wange, bevor sie zurück zu ihrem Platz ging.
„Es ist mir ebenfalls eine Freude, Dich hier begrüßen zu dürfen, liebe Andrea. Aber jetzt werde ich vielleicht zu meinem Thema zurückkommen, wenn Du erlaubst“, schmunzelte Adrian mit deutlich geröteten Wangen.
„Wer war die nächste, die Ihnen süße Träume bescherte?“, wollte ein Mann mittleren Alters wissen.
„Mit fünfzehn begann für mich die Zeit der Jugendfreizeiten. Zwei benachbarte Kirchengemeinden organisierten viele unvergessliche Fahrten. Und da gab es natürlich auch eine Andrea. Sie hatte kastanienbraunes Haar und war ein apartes Mädchen mit einem liebenswert charmanten Charakter und einem Blick zum Dahinschmelzen. Wenn sie mich mit ihren tiefbraunen Augen ansah, dann geriet ich sofort ins Träumen. Leider war sie da schon fest mit dem Sohn der Küsterin verbandelt.“
„Dann schau Dir Deine Gäste mal genauer an, lieber Adrian“, stand eine Frau auf, ebenso der Mann an ihrer Seite.
„Andrea! Martin!“, entfuhr es Adrian. „Das fasse ich nicht. „Ihr seid...“
„Wir hatten letzte Woche Silberne Hochzeit.“
„Na, herzlichen Glückwunsch. Kommt her zu mir und lasst Euch knuddeln“, bat Adrian voller Freude und stand wieder auf.
„Als ich Deinen Namen las, dachte ich mir: Da gehen wir hin“, offenbarte Andrea und nahm Adrian in den Arm.
„Ich sehe schon, das wird heute ein sehr persönlicher Abend“, ahnte Adrian schon jetzt, denn er erblickte schon seine nächste Kandidatin.
Die kam selbstbewusst auf ihn zu. Adrian bekam feuchte Hände. Es war Andrea Schwarz, wie sie in seinem Buch wegen ihrer pechschwarzen Haare hieß. Sie hatte den leicht unterkühlten Esprit einer typischen Französin, was auch ihr zweiter Vorname vermuten ließ.
Sofort sprach er sie an: „Andrea, ich hoffe, Du nimmst mir nicht übel, was ich über Dich preisgegeben habe“, fürchtete Adrian Schelte.
„Wir waren gute Freunde, aber niemals mehr. Ich hatte zwar durchaus gespürt, dass Du mehr gewollt hättest, aber Du warst einfach viel zu schüchtern und unbedarft. Vielleicht mochte ich Dich gerade deshalb so sehr.“
In seinem Buch erwähnte Adrian, dass Andrea durchaus offen für intimere Freundschaften ohne weitere Verpflichtungen war, er sich aber nie getraut hatte, diese Option in Erwägung zu ziehen, aus Angst, sie würde ihm dann die Freundschaft kündigen. Schließlich hatte die damals Sechzehnjährige einen festen Freund. Außerdem hatte ihre Mutter seiner Mutter einmal gesagt, dass Andrea mit jedem ins Bett ginge, dass sie wohl nichts für einen so anständigen Jungen, wie Adrian wäre. Trotzdem trafen sie sich auch in den nächsten zwei Jahren regelmäßig, weil Adrian nichts auf dieses Gerede gab. Passiert ist jedoch in der Tat nie etwas. Mit achtzehn machten sie gemeinsam Abitur. Danach trennten sich ihre Wege.
„Hier, das bist Du“, zeigte er ihr die Stelle im Buch, in der er sie beschrieb.
„Oh, naja, ganz falsch war es wohl nicht, denke ich. Aber ich bin Dir nicht böse. Keineswegs, denn ich glaube, ich wäre gerne mit Dir ins Bett gegangen – ich hätte Dir die Unschuld genommen, nicht wahr?“, lachte sie frivol.
Adrian lächelte, bat Andrea in seine Arme. Hingebungsvoll tauschten sie Küsschen aus, bevor Adrian sich etwas abrupt löste. „Danke, dass Du da bist“, erklärte er sehr charmant.
„Mir ging es, wie den anderen. Dein Name hat mich gelockt“, lachte sie und ging zu ihrem Platz zurück.
„Ja, meine lieben Damen und Herren, Sie erfahren hier Details aus meinem Leben, die ich zwar im Buch ganz ähnlich skizziert habe, aber der heutige Tag wäre als eine Art Traum als Nachspann sicher sehr gut geeignet“, bedauerte Adrian, dass sein Buch nun unvollendet wirkte.
Sicher war auch jemand von der Presse da, hoffte Adrian, dass es eine Aufzeichnung dieser Veranstaltung geben würde. Es sollte ein großes Glück sein, dass dem tatsächlich so war.
„So, meine lieben Damen und Herren. Jetzt wird es heiß. Ja, und ich habe Deinen Rat befolgt, mir meine heutigen Gäste genauer anzusehen, liebe Andrea“, sprach er die Kastanienbraune an. „Ich habe da jemanden entdeckt. Also sollte ich sehen, dass ich mich nicht zu sehr verstricke. Ich begrüße auch das rothaarige Exemplar meiner Damen mit dem Namen Andrea.“
Diesmal stand er sofort auf und ging dieser Frau entgegen, die da in der letzten Reihe saß.
„Adrian!“, schmachtete sie. „Ich gestehe, ich hatte nach Dir nie wieder einen so tollen Mann.“
„Oh, oh, Du legst die Latte aber gleich verdammt hoch. Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll, meine Liebe.“
„Na, dass ich in Deiner Erinnerung die Beste war. Was sonst?“, prustete sie und krümmte sich vor Lachen.
„Du bringst mich in Verlegenheit, liebe Andrea.“
„Komm in meine Arme!“, forderte sie vehement und drückte ihn ganz fest an sich.
Die Rothaarige war sich ihrer Wirkung sehr wohl bewusst. Sie trug ein recht kurzes, azurblaues Kleid mit sehr schmalen Schulterträgern und einem atemberaubenden Dekollete, das ihre Traumfigur perfekt zur Geltung brachte. Auch heute war Adrian schüchtern darum bemüht, seine Hände nicht allzu nah an die gefährlichen Stellen zu legen. Das Kleid ließ ihm jedoch kaum eine Wahl.
„Oh, Andrea, Du erdrückst mich ja“, lachte Adrian.
„Du sollst mich ja auch richtig spüren“, summte sie ihm ins Ohr. „So wie damals.“
„Du bist noch immer hinreißend schön, das muss ich Dir lassen. Und Du weißt, wie Du Deine bezaubernden Reize einzusetzen hast, nicht wahr?“
„Sag bloß, Du hast was Besseres gefunden? Nein, das will ich so gar nicht beantworten haben. Es waren fünf traumhafte Jahre mit Dir.“
„Das denke ich auch, das kann ich guten Gewissens bestätigen. Wer weiß, was geschehen wäre, wenn Du nicht nach Kanada gegangen wärst. Das war mir einfach zu weit weg“, lachte Adrian.
„Du hast auch was aus Dir gemacht, Du bist ein erfolgreicher Autor geworden. Ich bin Auslandskorrespondentin in Berlin. Ich hätte vorher fragen sollen, aber ich habe diese Veranstaltung bis hierher aufgezeichnet. Ist das okay?“
„Das ist wunderbar. Mach weiter damit“, freute sich Adrian.
„Gut, dann mach mal weiter“, meinte sie und ging wieder zu ihrem Platz.
Adrian ging sehr langsam hinter seinen Tisch, denn er verspürte einen übel stechenden Schmerz im Bauch. Er krümmte sich ein wenig, in der Hoffnung, dass es wieder nachließe. Doch es wurde noch schlimmer. Er holte etwas aus der Hosentasche und drückte auf den roten Knopf des Notfallrufers. Dann schrie er plötzlich vor Schmerzen und brach hinter dem Tisch zusammen.
„Adrian!“, schrie die rothaarige Andrea als Erste von allen und rannte zu ihm. „Oh, mein Gott! Adrian, was ist los?“
Doch er antwortete nicht. Dann sah die Frau den Rufknopf in seiner Hand. Verdammt, er ahnte, dass das passieren könnte, dachte sie. Sie beugte sich über ihn und versuchte sich als Ersthelfer. Und tatsächlich kam er wieder zu Bewusstsein. Sofort nahm sie seinen Kopf in beide Hände und küsste ihn auf die Stirn.
„Es ist wieder gut, Liebes“, stammelte er undeutlich.
„Was war das, zum Teufel? Adrian!“
Inzwischen waren die Sanitäter herein gekommen und eine recht hübsche, aber dennoch eher unauffällige Frau trat hinter Andrea. „Würden Sie bitte mal weg gehen“, klang ihr Ton etwas zu grob.
„Hey, was soll das? Ich habe schon erste Hilfe geleistet. Er kann wieder sprechen“, blaffte Andrea zurück.
„Adrian“, beugte sich die andere Frau zu ihm.
„Wer ist diese Frau, Adrian“, wollte Andrea den Mann beschützen.
„Andrea, das ist meine Frau Helene.“
„Oh... Oh, Entschuldigung“, sprang Andrea hektisch auf. „Tut mir leid. Ich konnte nicht wissen...“
„Schon gut. Und wer sind Sie, wenn ich fragen darf?“, wollte Helene das Gespräch suchen.
„Ich...“, war die Rothaarige plötzlich schüchtern. „Ich denke, das gehört jetzt nicht hierher. Sagen wir, eine frühere Studienkollegin, okay?“
„So geheimnisvoll?“, wurde Helene neugierig.
„Ich sagte schon, das gehört jetzt nicht hierher.“
„Sie sind Andrea, ja? Die Rothaarige“, bewunderte Helene die Frau ein wenig neidisch. „Wenn man bedenkt, dass Sie auch in unserem Alter sind... Also, ich habe es nicht geschafft, so schlank und makellos zu bleiben“, lächelte sie.
„Die inneren Werte zählen, Frau Rotlieb. Wie lange sind Sie schon verheiratet?“
„In drei Wochen sind es fünfundzwanzig Jahre, aber...“, brach die Ehefrau mit einem Seufzer ab und wandte sich ab, um sich endlich um Adrian zu kümmern. „Liebling, wie schlimm ist es jetzt?“
„Du weißt, was der Arzt gesagt hat.“
Helene stand auf und bat den Kurator, die Veranstaltung zu beenden. Die Leute verließen den Saal, doch die vier Damen, die Adrian neben seiner Ehefrau heute wieder so nahe standen, blieben, als sei es selbstverständlich. Und sie begleiteten ihn auch ins Krankenhaus.
Zwei Tage später starb Adrian an Magenkrebs. Tags drauf erschien der Artikel zu dieser Veranstaltung. Und Andrea, die Rothaarige, verfasste einen sehr emotionalen Nachruf. Das hatten die fünf Damen miteinander besprochen.
Only the good die young – was für eine abgenutzte Floskel... Aber sie trifft immer wieder zu.
Adrian war wahrlich ein Guter. Er trat in unser aller Leben, immer mit dem Wunsch, niemanden unzufrieden zurückzulassen. Er war ein liebenswerter, kluger und gütiger Mensch, er konnte gut mit seinen Mitmenschen, und sie schätzten ihn. Das hatte er auch verdient. Er war einer jener Menschen, an die man sich immer gerne erinnerte. Und das wird auch so bleiben, denn die größte Sünde ist das Vergessen, doch die werden wir nicht begehen. Wenn es einen Himmel gibt, dann ist er jetzt dort. Und dort werden wir ihn, so Gott will, in einer noch unbestimmten Zukunft wiedersehen. Das wäre gewiss etwas, worauf man sich an seinem jüngsten Tag würde freuen können. Ganz sicher. Wir sehen uns wieder, Adrian.
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