Experimental-Poemiod_1

0. init

- tante elsas, anwesend, nachmittägliches kuchenkränzchen, das heitere setting,
es wird kaffee getrunken, vom trockengebäck aus der unablässig tiffany-imitierenden glasschale genommen,
- für den kleinen thomas werden knielange und später kratzende strümpfe aus brauner und trotzdem unpolitischer schafswolle gestrickt,
- und mechthilde, die gute, häkelt sich an topflappen mit grünen borden langsam ihrem immer deutlicher aufscheinenden asthmatischen tod entgegen,
der schlagartig eintreten wird, sobald sie das linke obere fach ihres altholz-küchenschrankes mit weiteren 28 fertigen topflappen, sauber gestapelt, aufgefüllt haben wird
- während elisabeth, die viel älter aussehende als sie ist, und deshalb aus verzweiflung gesichtsjung gebliebene, und kürzlichem nur-zum-schein-bedauerten ehegesponst-verlust,
in bester redelaune die bereits neunte tasse kaffee durch ihre gurgel hinunterspült,
- und margot, fast wie in trance danebensitzt, und den irgendwo halb gelesenen und den rest deutlich geahnten satz auf sich mehr und mehr verschlingenden gedankenpfaden zu erschleichen sucht:

"zum suchen zu früh, zum finden zu spät"

(so kann man das nicht stehenlassen, das muss viel dichter werden, also:)

1. verdicht

red’ was du willst, schreit der bauer auffahrend, dass ihm die unteren zwei joppenknöpfe aufspringen, sich gänzlich zum sohn umdrehend,
es wird so gemacht, wie ich’s will,
noch hab ICH hier das sagen auf’m hof,
dann dreht sich der bauer noch ein stück weiter, ergreift den schweren holzknüppel mit beiden händen,
und prügelt damit ersatzweise, statt auf den sohn, auf den vor ihm geduldig wartenden maurischen esel ein

"unser täglich prügel gib uns jetzt, und vergib dem prügelndenden, den prügeln, und ihren nachkommen"
sagt der esel da plötzlich unter tränen im brechenden auge,
denn wenn die sonne untergeht an jenem tag, wird das eselchen verherrlicht sein,
irdisch: wirbelsäulenbruch und leberriss mit folgender innerer verblutung aufgrund spießender gebrochener rippenserienfraktur linksseitig,
und dabei steigt eben gerade nebelkrähenkälte aus einem kryogenen tiefofen auf

2. noch verdichter

erinnere dich, der übermannshohe stahlblechblanke kühlschrank im keller der pathologie,


(auf genau vier grad plus eingeregelt, wo wasser und die toten die größte dichte haben),
mit seiner foetalen geborgenheit umfängt er drei handwerker, die von einem braunkohlenbagger dreissig endlose meter lang ins bodenlose gestürtzt waren,
weil ein seil sie sicherheitsverband, wie lustig,
als ich sie auf ihren metalltragen zur leichenschauenden untersuchung herausschob, sah ich sie seltsam klar in ihrem eigenblut schwimmen,
eine sektion würde schwierig werden, da fast jeder kochen in ihren leblosen leibern mehrfach zerbetscht oder in teile zerbrochen war,
offene brüche, fast offene, gedeckte brüche, fleisch und knochenmatsch vermengt, ich konnts mir aussuchen,
aber ich sollte ja die arten der inneren verblutungen bestimmen, wegen der versicherungen und geldern, ihren witwen - zustehend,
während ihre leiber bei den sektionen auf dem tisch zur befundung weit offenstehen,
auch dieser zusammenhang faszinierend, lustig und absurd gleichermaßen

3. superdicht

wie der beginn knapp vorm ersten aller tage
und komme ich zum ende, weil mein stern mich verlässt, und das licht für die andere erdseite mitnehmen muss,
hat das wasser ein ende?, der himmel?, die luft?, die hoffnung ein ende?, das ende selbst ein ende?
alles geht immer weiter, und enden sind auf der falschen seite stehen und die neuen aus enden aussprießenden anfänge nicht sehen,
man darf den faden der zeit nie von der falschen seite her betrachten, sonst ein zuende, wo es noch nichtmal angefangen hat,
ist wie bei margot und dem kaffeekränzchen,
zum suchen eines späten freiers für ihr nächstes auch dann wieder vermurkstes leben noch viel zu früh,
zum finden irgendeines sich erbarmenen endes aller enden aber bereits lange zu spät

so versetze ich margot als körperliche ikonographie ihrer selbst in den herrgottswinkel einer bauernstube,
eines älteren heruntergekommenen fachwerk-almbauern-hauses irgendwo im alpinen,
kulisse, ein ansteigender hoher felsiger berg hinterm haus, wirft bei schönwetter ewig einen ganzschatten aufs haus,
vor dem haus ein sich weit öffnender talgrund mit schlängelndem im sonnenschein lichtblitze werfendem flüsschen,
das soll sein, wo fuchs und hase frühmorgens vorm jagdbeginn sich gegenseitig neugierend abtastend noch einmal freundlich grüßen,
und alles so friedlich , die gesamte szenerie, dass man förmlich fühlen kann, so kann das nicht sein und bleiben,
marthe, wie sich margot aus ihr erfindlichem grund jetzt nennt, sieht es von ihrem herrgottswinkel in der dunklen bauernstube aus kommen:
das unglück kommt übers land, und sein name ist "das unglück", nicht mehr, nicht weniger,
mit das-ungeheuere-unglück ist mehr als genug gesagt, das unglück hinlänglich beschrieben,
denn man darfs nicht noch zusätzlich herausfordern, indem mans genauer bespricht,

oder gar beim wirklichen namen nennt

epilog: super-superverdichtet

kann sein, dass wir besser den krümmungsradius erweitern sollten, sonst wirds vielleicht zu dicht,
und das ganze fliegt uns um die ohren?
aber darüber soll jetzt brav der leser nachdenken, und sich mit dem obigen text als vorlage sein höchsteigenes und wirkliches gedicht selbst im kopf gedankenschreiben

waha, dichter am nirgendwo
 
@mondnein: keine lust "brav" zu sein oder zu werden? / "brave" = vor dem Dreißigjährigen Krieg kaum zu finden, damals in der Soldatensprache mit kämpferischem Sinn von südeuropäischem Vorfahr bestückt, vorher schon seit dem 15. Jahrhundert im Sinn „geeignet, brauchbar, tüchtig“ von französisch brave → fr, über italienisch oder älter spanisch bravo → estapfer, tüchtig, wild“ und vulgärlateinisch brabus aus lateinisch barbarus → laausländisch, fremd“ / dann könnte ich dir nur mit dem sephirotbaum und alchemie entgegenkommen ...
 

mondnein

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"als Soldat und brav" - damit schließt der Soldat in Goethes Faust seinen letzten Gesang; und Thomas Mann zitiert diesen eigenartigen Adverbial-Nachklapp als eine Kapitelüberschrift im "Zauberberg".
 



 
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