"EXS" - Part I (Nur Mut!)

Markus Veith

Mitglied
Sonntag, 06. Mai 2001 11 : 25 Uhr
Ernsts Geschichte begann an einem Vormittag, an dem bereits - was für eine Geschichte eigentlich ungewöhnlich ist - alles erledigt war. Die Steuererklärung war gemacht, nötige Briefe geschrieben und abgeschickt und seine dreckige Wäsche stapelte sich nicht mehr in der Schlafzimmerecke. (Er hatte sie tags zuvor zu seiner Mutter gebracht.) Er musste nicht einkaufen und hätte er gemusst, hätte er nichts bekommen. Zu allem Übel prasselte draußen ein Regen nieder, in den man seinen Hund alleine hinausschickt, würde dieser sich erdreisten, beim Gassi auf eine pudelnasse Leinenperson zu bestehen. Nun, Ernst besaß keinen Hund und das Problem stellte sich somit nicht. ‚Leider', dachte er seufzend und wunderte sich nicht einmal darüber.
Ihm war stinklangweilig.
Daran war an sich nichts auszusetzen. Ihm war schon häufig langweilig gewesen, doch nur, weil er zu dem, was er hätte machen können, keine Lust gehabt hatte. Jetzt wünschte er sich eine Aufgabe, und sei sie auch ein nötiges Übel, zu dessen Erledigung er sich aufraffen müssen könnte, um zu tun, was getan werden musste.
Aber es war ja nichts mehr zu tun. Nach Gesellschaft war ihm nicht, und Kino hasste er. Letztendlich fiel ihm noch Lesen als denkbarer Zeitvertreib ein, aber die letzten fünf Bücher, die er zur Hand genommen hatte, waren solche Enttäuschungen gewesen, dass er sie schon nach wenigen Kapiteln gegen die Zimmerwand geworfen hatte. Nicht einmal Musik konnte Ernst befriedigend unterhalten. Eher wahllos hatte er eine alte, lange nicht gehörte Kassette aus dem Musikschrank gekramt und eingelegt. Ein einst eigenhändig zusammengestellter Mix alter Genesis-Lieder dudelte bombastisch gelangweilt vor sich hin. ("Da waren sie noch nicht so poppig", pflegte er stets zu kommentieren, wenn er Besuch hatte und die Aufnahme als musikalische Untermalung einlegte.) Missmutig stand Ernst nun am linken Wohnzimmerfenster und verfolgte mit den Blicken die Wassertropfen, die sich an der Scheibe herabschlängelten. Er seufzte hingebungsvoll.
Da ließ eine Bewegung jenseits der Straße die flüchtenden Scheibenregentropfen unscharf werden. In der Hausnummer 58 war ein älterer Herr damit beschäftigt, die Innenseite eines Fensters zu putzen.
‚Blödsinnig', kommentierten Ernsts Gedanken. ‚Weiß doch jeder, dass das wenig bringt.' Missbilligend schüttelte er den Kopf.
‚Er hat aber zu tun.'
Der widersprechende Gedanke ließ ihn aufmerken. ‚Zumindest nutzt er die Zeit, in der es noch regnet, um zumindest die Fensterinnenseiten zu putzen.'
Auf der Stirn des jungen Mannes hoben sich überrascht die Brauen und sein Blick verengte sich auf das Fensterglas direkt vor ihm. Auf gräuliche Flecken, die ihm eigentlich nicht erst jetzt, sondern stets nervend auffielen, wenn ihm ein Nachmittag mal Sonne ins Zimmer schickte.

Ernst konnte nicht von sich behaupten, ein properer General der Hygiene zu sein. Er hielt seine Wohnung in einem Zustand, der Sauberkeit in einem verträglichen Verhältnis zum Arbeitsaufwand abwog. Was bedeutete, dass er Küche und Bad höchstens halbjährlich wischte und ab und an mal mit dem Staubsauger durch die Zimmer ging. Die Fenster kamen in der Regel sogar nur einmal im Jahr dran. Doch angesichts seiner Langeweile sah Ernst sich nun doch genötigt, das Putzjahr auf zehn Monate zu verkürzen.

In der Küche ließ er heißes Wasser in einen Eimer. In einer hinteren Ecke des Spülenschrankes fand er noch einige brauchbare Lappen und ein Fensterleder. Dann räumte er die Blumentöpfe von der Wohnzimmerfensterbank und stellte sie auf den Glastisch vorm Sofa. Um an die Oberlichter zu kommen, benötigte er seine Leiter. Er zerrte sie aus der Abstellkammer. Seine Wohnung befand sich in der dritten Etage eines Altbaus. Dementsprechend großzügig war die Größe seiner Fenster.
Ernst seufzte hingebungsvoll.
Nachdem er das Gestell sinnvoll plaziert hatte und den Lappen in das heiße Wasser tauchte, stieg ihm der Duft des Neutralreinigers aus dem weißen Schaum entgegen. Ernst war dieser Geruch sympathisch. Mit einem Male vermittelte er ihm die eigenartige Regung, sich und seiner Umgebung etwas Gutes zu tun. Mit sauberer Arbeit.
Er begann mit dem Oberlicht. Grobes Feuchtwischen. Dunkles Wassers sammelte sich auf der Unterkante des Fensterrahmens. Als der ältere Herr von gegenüber ihn bei seiner Tätigkeit entdeckte, winkte er Ernst ermunternd zu.
Der junge Mann winkte zurück.
Dabei regneten ein paar Tropfen von seiner schaumüberzogenen Hand.

Hier wollen wir das Bild kurz verharren lassen. Sehen Sie sich diese kleinen, in der Luft verharrenden, von einer freundlich zurückwinkenden Hand spritzenden Wasserbällchen genau an.
Auf einige Menschen hat Schmutz eine eigenartige Wirkung. Den einen ist absolut jede Art von Unreinheit ein Staubkorn im Auge. Die Omnipräsenz von Dreck ist für jene Zeitgenossen ein kaum zu bändigendes Gräuel.
Den anderen ist ein grauer Flockenteppich auf Mobiliar vollkommen schnuppe, solange Schränke unüberschaubar und hoch genug sind, um keinen Blick auf ihre Ebenen werfen zu müssen.
Ernst gehörte zu dieser zweiten Kategorie. Wegen seiner Hausstauballergie hatte Putzen für ihn immer auch etwas mit juckenden Körperpartien und Niesen zu tun und sein allumfassendes Argument, dass, wirbele man zu viel Staub auf, man dadurch nur Ärger bekäme, unterstützte ihn mit nicht gänzlich von der Hand zu weisender Logik.
Schmutz hatte für ihn immer eine Komparsen-Rolle gespielt, die sich im Hintergrund hielt, ihm nicht großartig auffiel und ihn dadurch nicht weiter störte.
Bisher war Ernst sogar der Meinung gewesen, seiner Zweieinhalbzimmerwohnung würde ohne das feine graue Tuch, das sich mit der Zeit wie ein Schutzfilm über alles zog, fast etwas fehlen. Und er machte es sich nicht zu seinem Problem, wenn Besuchern seiner vier Wände die Nase rümpften und die Kaffeetassenränder auf den Tischen oder die vollgestellte Spüle bemängelten. Er begründete diese offenbaren Sehensunwürdigkeiten mit der weisen Erkenntnis, dies sei im Grunde genommen wie der Säureschutzmantel einer Haut. - Jawohl, bisher war Ernst sein Leben lang der nicht allein auf Ignoranz und Faulheit basierenden Ansicht gewesen, Staub sei in gewisser Weise natürlich.
Wie gesagt: Bisher ...
Also wollen wir den Pausenknopf wieder aus der Abfolge der Ereignisse drücken und schauen, was passierte:

Ernst hatte innegehalten, die Hand noch erhoben. Sein Blick folgte einer Bewegung, verursacht durch mehrere Seifenwassertropfen, die neben ihm die grünen Fächerfinger einer üppigen Zimmerpalme zum Wippen gebracht hatten. Auf den breiten Blättern war eine Anzahl kleiner grauer Wölbungen schaumigen Wassers entstanden, die sich zur Neigung hin ausbeulten, kurz darauf in sauberen Bahnen am Grün herunter rannen, um auf das nächst untere Blatt zu plitschen und schließlich in einem matten Grau zu versiegen.
Der junge Mann blinzelte auf die gewaschenen Schweife herab und wunderte sich über ihr helles Grün. Dann ließ er seinen Blick aus seiner erhobenen Perspektive umherwandern. Er entdeckte kleine dreckigschaumige Lachen auf der Fensterbank. Auch auf der Oberfläche des schwedischen Billigschrankes links neben dem Fenster waren Seifenwassertropfen gelandet und hatten kleine, dunkelfeuchte Flecken auf dem Holz hinterlassen. Ernst schaute und schaute und fand und fand immer mehr. Kleine saubere Oasen in staubigen Wüsten. Krater in flaumigen Deckschichten.
Langsam kletterte er von der Leiter herab, um sich die Palmenblätter näher zu betrachten; oder besser: um vollkommen verdutzt auf ihre besprenkelte Oberfläche zu gaffen. Er benetzte seine Fingerspitzen im Eimer und rieb an mehreren Blättern, die mit ihrem gleichmäßigen Olivgrau immer sehr glücklich auf ihn gewirkt hatten. Das neue Triebe stets von weitaus frischerer Farbe waren, hatte er immer für, na ja, eben für natürlich gehalten. Dass in letzter Zeit vermehrt Blätter abgefallen waren, nicht nur von der Palme, sondern auch von anderen Pflanzen, hatte er sich mit Kalk im Gießwasser erklärt.
Nun klebte ein feuchter Schmier an seinen Fingern, auf den Blättern kräuselten sich klamme Krumen und der saubergeriebene Kreis blickte ihm wie ein trauriges Auge entgegen.
Ernst gaffte immer noch. Und in seinen Augen begann es, wenn auch nicht beunruhigend, so doch merkbar, zu flackern.
"You better start doing it right!" scholl es aus den Boxen. "Let the dance begin!"

Wenig später war die Wanne im Badezimmer mit so vielen diversen Topfpflanzen angefüllt, wie hineingepasst hatten. Aus dem Duschkopf prasselte Wasser in sanftem Strahl auf sie nieder. Ernst kniete vor dem kurzfristig zweckentfremdeten Bassin und bearbeitete ein Blatt nach dem anderen mit einem weichen Lappen. Der Wannenrand drückte ihm schmerzend gegen den mageren Brustkorb, seine Miene war angestrengt, sein Blick und seine Bewegungen nervös. Die ganze Zeit nagte er an seiner Unterlippe.
Doch der Erfolg seiner spontan eingeschobenen Säuberungsaktion war nicht zu übersehen: Das Grün schien nun um einiges heller zu sein. Es reckte sich ihm erfrischt entgegen, als öffneten sich unter dem Wasserstrahl asthmatische Poren und atmeten erleichtert durch.
Ernst überkam eine seltsam väterliche Regung. Seine Topfpflanzen kamen ihm mit einem Male wie eigene Kinder vor, die seiner Hilfe bedurften, deren schweres Leiden er um ein Haar unterbewertet hatte, und die er nun, nach erfolgreicher Operation, wieder genesen sah. Während des Duschens sprach er sogar leise mit ihnen, einfühlsam und tröstend, es werde nun alles wieder gut.
Als er kein dreckiges Blatt mehr entdecken konnte, drehte er zufrieden am Kran, trocknete sich die Hände und kehrte ins Wohnzimmer zurück, um das unterbrochene Fensterputzen fortzusetzen. Er wollte seine Pflänzchen noch eine Weile in der Wanne lassen, damit sie sich nach ihrer Wasserkur in Ruhe erholen und austropfen konnten.

Lächelnd kletterte Ernst die Sprossen der Leiter empor. Es war ihm ein plötzliches, inneres Bedürfnis gewesen, erst das Überleben seiner grünen Mitbewohner zu sichern. Leben ging vor Möbelholz; das war ihm die Unterbrechung wert. Glücklich tätschelte er die nun um einiges helleren Blätter der großen Zimmerpalme, zwinkerte ihr wie einem alten, guten Kameraden zu. Dann nahm er die Fensterreiniger-Sprühflasche und bestäubte das Glas mit sauber riechenden Wolken. Nun konnte er sich weiter dem eigenen Wohlbefinden widmen.
Doch aus irgend einem Grunde war Ernst überhaupt nicht wohl zu Mute. Irritiert hielt er einige Male im Putzen inne, weil er sich die Ursache eines überraschenden, sogar heftigen Unbehagens zunächst nicht erklären konnte. Aber mehr und mehr wurde ihm bewusst, dass er sich beobachtet fühlte. Er konnte nicht sagen, woher diese Ahnung auf ihn lauernder Blicke herrührte, er hatte nur den unangenehmen Verdacht, dass ihm jemand von irgendwoher auf die wischenden Hände starrte.
Stirnrunzelnd suchte er in der verregneten Straße unter ihm nach Gaffern. Doch bei diesem Sauwetter war draußen niemand zu sehen. Selbst der ältere Herr von gegenüber war fort und hatte die Jalousien vor die halbsauberen Fenster gezogen. Ernst versuchte in die anderen gardinenverschleierten Wohnungen zu spähen, aber auch dort konnte er niemanden entdecken.
Wobei es weniger der Umstand war, dass er den Beobachter nicht sehen konnte. Viel mehr störte Ernst die Art des unsichtbaren Interesses. Diese Blicke, wo immer sie auch herkamen, starrten nicht mit dem Bedürfnis, Ernsts ungewohnte und möglicherweise etwas ungelenke Arbeitsweise zu kritisieren. Es war nicht diese Art von Unbehaglichkeit, die verhöhnt oder sich über jemanden lustig macht. Diese nicht auszumachenden Blicke waren ihm gänzlich neu. - Sie waren gierig.
Ernst schüttelte den Kopf und tat das störende Gefühl als unbegründete und sicherlich bald vorübergehende Paranoia ab.
Aber es ließ ihn einfach nicht los. Schließlich schaute er sogar hinter sich - und wurde sich plötzlich bewusst, dass dies die Richtung sein musste, aus der er belauert wurde.
Irritiert spähte er in seinem Wohnzimmer umher, konnte aber nichts Außergewöhnliches entdecken, wand sich also kopfschüttelnd wieder seiner Arbeit zu. Doch so sehr er sich auch auf den Reinigungsdurchgang des zweiten Fensters konzentrierte, das starrende Gefühl bürstete ihm sämtliche Nackenhaare in die Höhe. Ernst schaute noch einmal. Konnte wieder nichts entdecken. Zwang sich zur Ruhe. Beschloss, sich nicht mehr stören zu lassen. Es regnete noch. Es war natürlich weiterhin Sonntag und er wollte sich nicht mehr von seinem Vorhaben abhalten lassen, zumindest die straßenwärtigen Scheiben so weit zu reinigen, wie es das Regenwetter zuließ.
Sein Lederlappen quietschte fester und hektischer über das Glas. In den Dichtungen des alten Fensters knirschte es leise. Beim Heruntersteigen von der Leiter zitterte er so heftig, dass das ganze Gestell bedrohlich wackelte. Dieses Gefühl starrender Blicke in seinem Rücken; der immer panischer werdende und nur notdürftig unterdrückte Drang, sich immer wieder umzudrehen; der Gedanke, die ganze Wohnung auf den Kopf zu stellen, um endlich die Ursache dieser unheimlichen Verfolgung zu entdecken; sich aber gleichzeitig nicht der eigenen Lächerlichkeit preiszugeben und ein verunsichertes "Ist da wer?" in den außer ihn menschenleeren Raum zu wimmern, steigerte sich zunehmend, bis Ernst es endlich geschafft hatte, den Lederlappen in den Eimer warf, dass es spritzte und sich rückwärts an die Wand presste. Schweiß stand ihm auf der Stirn. Sein Kiefer schmerzte vom Druck seiner Zähne. In seinen Schläfen glaubte er, sein Blut brodeln zu spüren, hektisch wie kochendes Wasser. Sein Blick flimmerte über seine Wohnzimmereinrichtung wie über ein schlecht überschaubares Gelände, in dem sich Scharfschützen aufhalten konnten. Aber so lange und verunsichert er auch umherschaute - er war allein. In diesem Moment erschien ihm der Gedanke, sich von der rückendeckenden Wand fortzutrauen, schier unmöglich.
Neben ihm prasselte der Regen stärker gegen das Fenster. Einem plötzlich Impuls nachgebend, die subtile Brisanz dieses viel zu stillen Geräusches keinen Augenblick länger ertragen zu können, stürzte Ernst auf seine längst verstummte Musikanlage zu. Drehte die Kassette. Hämmerte auf Knöpfe ein.
Endlich übertönte Musik die widerwärtige Stille.
"I am the one, who guided you this far ...", klang es beruhigend.
Nie hatte Ernst Phil Collins' knitterigen Singsang lieber gehört. Im Grunde wäre ihm jede Stimme recht gewesen. War sie auch nur von Magnetband, so war sie doch präsenter als dieses unbegründbare Gefühl, das nun unter der Beschallung langsam die unsichtbare Bedrohung sinken ließ. Ernst atmete erleichtert auf.
Er verharrte noch eine Weile. Das nächste Lied begann. Es war um einiges furioser als das erste auf der Kassettenseite und vertrieb die letzten Schatten der seltsamen Empfindung. Und je länger er dort an der Anlage auf dem Boden saß, um so lächerlicher kam er sich vor. Was sollte denn dieses alberne Getue? Er schmunzelte verächtlich. Das war doch kindisch. Wer sollte ihn hier denn schon beobachten? Und wenn schon? Er hatte doch nichts zu verbergen. ‚Also los, Ernst, alter Narr', dachte er bei sich, ‚spinn nicht rum, kümmere dich weiter um deine Pflänzchen. Nutz die öde Zeit. Mach dich nützlich, solang es noch regnet.'
Seine Dummheit selbst belächelnd stand er auf, um ins Badezimmer zu gehen. "Kindisch", schalt er sich selbst.
"You better watch out", sang die Stimme hinter ihm. "I've got you, I've got you. You'll never get away."

Ernst holte die Grünpflanzen aus der Wanne heraus und stellte sie wieder überall in der Wohnung auf ihren Platz, drehte sie liebevoll in die lichtgünstigste Position und strich bei jeder noch einmal zärtlich über ein Blatt. Er wollte, es sei ihm, als lächelten ihn einige wuchsreife Triebe an. Anschließend duschte er durch die Wanne, um die beim Putzen heruntergefallene Erdkrumen und Hydrokulturkörnchen fortzuspülen.
Im Abfluss gluckerte und rieselte es bedrohlich. Ernsts versuchte, das erneute Flimmern in seinen Augenwinkeln und das Aufrichten seiner Nackenhaare zu ignorieren, schaute möglichst unbeteiligt nach oben, als habe er das seltsame Geräusch unter den Löchern des Abflusssiebes nicht bemerkt. Gar nichts bemerkt! Überhaupt nichts!
Gerne hätte er seinen Blick nach draußen abgelenkt. Aber das Badezimmer besaß kein Fenster. Nur einen Luftabzug. - Den Luftabzug. Den Ernst nie bewusst wahrnahm. Selbst während seiner langen Badeorgien nicht. Weil er immer genau darunter saß. Weil ihm auf der anderen Wannenseite der Abfluss ins Gesäß drückte. Irgendwo hinter dem Schutzgitter summte die verborgene Lüftungsmaschinerie. Sie begann stets zu rotieren, sobald man den Lichtschalter betätigte. Das gleichmäßige Raunen war schon lange zu einem unmerklichen Bestandteil der WC-Besuche geworden. Ernst beachtete es so wenig wie ein Senderemblem in der Ecke eines Fernsehbildes. Aber nun starrte er zu der Apparatur hinauf. Seine Augen weiteten sich und das nervöse Flimmern ließ den Blick erzittern.
In den vier Jahren, die er bereits in seiner Wohnung lebte, hatte er nie auch nur einen Gedanken daran verschwendet, wie viel Staub offenbar auch in der kleinräumigen Badezimmerluft herumschwebte und sich wasserdampfklamm an den schmalen Gitterstäben festsetzen konnte. Eine graue pelzige Schicht überzog das Gitter, als sei ihm ein nasses Rattenfell gewachsen.

Plötzlich hatte Ernst es sehr eilig. Er stolperte in den Flur, riss die Tür der Abstellkammer auf, kramte den Staubsauger hervor, rupfte ihm den Bürstenkopf ab, rannte zurück ins Bad. Hüpfend rollte der Sauger hinter ihm her, rammte den Türrahmen, wurde brutal weitergezerrt. Ernst trampelte auf den Trittschalter ein, das Gerät heulte gequält auf, röchelte. Sein Besitzer stemmte das Rohr an das verdreckte Lüftungsgitter - doch nur wenige Flusen verschwanden in ihn. Ernst ächzte, hielt die Hand vor die Rohröffnung und bemerkte, wie schwach der Sog nur war. Er schaute hektisch auf die Anzeige im Saugergehäuse und schloss, dass Rot wohl einen vollen Staubbeutel bedeutete. Er versuchte die Klappe zu öffnen. Ein Fingernagel brach ab. Schließlich klappte sie auf. Gleich einem prallen Magen wölbte sich ihm der Beutel entgegen. Ernst zerrte an der Papplasche. Sie klemmte. Ernst zerrte fester, fluchte. Mit einem wütenden Ruck sprengte er den Beutel aus dem Gehäuse. Das spröde Papier riss ...

Halten wir doch noch einmal kurz dieses Bild an. In der Bewegung erstarrt, kleben graue Flocken in der Luft, dazwischen Holzsplitter, Schraubenmuttern, die irgendwo fehlten, winzige Glassplitter, trockenes Farnlaub und Millionen Partikel machen das Bild hektisch und unscharf. Allein Ernsts Kopf ist deutlich zu erkennen. Seine verzerrten Mundwinkel. Seine aufeinandergepressten Zähne. Vor allem aber seine entsetzt geweiteten Augen, die sich im nächsten Augenblick zudrücken werden, in diesem Moment jedoch den begangenen Fehler bereits als hochgradiges Dilemma erkennen.

Jeder hat doch schon einmal von Murphys Gesetz gehört, oder?
Von diesem auf unerträgliche Weise immer und überall funktionierenden Prinzip, deren oft zitiertes Beispiel besagt, dass ein Schmierwurstbrot, das mit dem Belag voran auf dreckigem Boden landet, weniger nach irgend einer Gravitationsregel, als vielmehr danach handelt, dem Brotschmierer einfachen, ehrlichen und dadurch boshaften Ärger zu bereiten, indem es das tut, was es murphigesetzgemäß tun muss, nämlich das am wenigsten gewollte, was somit für den Schmierer zwar ärgerlich bleibt, doch gleichzeitig auf skurille Weise legal wird. Physikern, Fatalisten, Zufallswissenschaftlern und unverbesserlichen Optimisten werden sich nun die Haare sträuben. Das nehme ich in Kauf, solange die meisten meiner Mitmenschen "Stimmt!" sagen und lachen.
Denn das Gesetz von jenem Murphy hat einen raffinierten Vorteil: Es ermöglicht, jedes Mißgeschick - und sei es noch so tölpelhaft - rechtmäßig zu entschuldigen und somit auf die leichte Schulter zu nehmen.
Dazu muss man allerdings auch eine leichte Schulter haben.
Ernst besaß ein solches Körperteil nicht ...
Nun, lassen wir den Geschehnissen weiterhin ihren Lauf.

Ernst öffnete vorsichtig die Lider und starrte durch den feingrauen Nebel, der langsam herabsank. Auf die Badewanne, in denen sich Staub in schwarzen Restpfützen bündelte. Auf die ehemals blau-weiße WC-Teppichkarnitur, deren Fasern nun von einer dicken Schmutzschicht überdeckt wurden. Auf die kleinen Staubdünen, die von den Kanten herabrieselten. Und schließlich auf den schlaffen Beutel in seiner Hand, aus dessen klaffenden Riss nun noch ein letztens unachtsam aufgesaugter Pfennig in die Wanne klimperte und dort auf dem verdreckten Email noch einen kurzen Kreiseltanz aufführte, als wolle er sich damit dafür entschuldigen, sich verspätet zu haben.
Entgeistert starrte Ernst auf die schmale Spur der kleinen Münze. Sein Blick flimmerte immer heftiger. Sein Atem war ein Besorgnis erregendes Pfeifen. In der Panik, es könnten sich in seinem Umfeld weitere Moleküle bewegen und eine noch verhängnisvollere Lawine auslösen, wagte er sich nicht zu rühren, spürte aber, wie sich sein ganzer Körper versteifte und vor Anspannung zitterte. Unendlich langsam hob er schließlich den Kopf und wandte sich dem Spiegelschrank zu. Sein blondes Haar war aschgrau, das helle Muster seines geliebten Gammelpullovers kaum wiederzuerkennen. Seine Mundwinkel zuckten wie wild in alle Richtungen, als könnten sie sich nicht entscheiden, ob sie hysterisch lachen oder losplärren wollten. Seine Nasenflügel hoben und senkten sich. In diesem Augenblick bemerkte Ernst plötzlich mit aller zur Verfügung stehender Intensität all die charakteristischen Symptome: Juckreiz unterm Kinn, Kitzeln in der Nase, der Atem wollte nicht mehr aus den Lungen, seine Augen brannten wie Feuer und Tränen drückten sich hervor.
Aus dem Wohnzimmer krächzte Peter Gabriels Stimme. "Follow on! With a twist of the world we go!"

Der erste Nieser explodierte so heftig, dass Staub aus dem Waschbecken wirbelte. Beim zweiten taumelte Ernst gegen den Türrahmen. Beim dritten glaubte er, seine Bronchien flögen auseinander. Der vierte nahm ihm vorübergehend die Orientierung. Kurz vorm fünften fand er sie wieder und stolperte in den Flur. Beim sechsten war er im Schlafzimmer und wühlte im Medizinschränkchen herum. Schachteln mit unaussprechlichen Präparaten, Tuben, Fläschchen, halbzerdrückte Tablettenleisten und lose Beipackzettel landeten im Wäschekorb darunter. Immer wieder wurde Ernsts Suche von Niesern unterbrochen. Tränen trübten seinen hektisch suchenden Blick und rannen ihm die Wangen hinunter. Flocken schwebten möglichst unbeteiligt von der Oberseite des nie abgestaubten Schränkchens.
Endlich fand Ernst die Packung mit dem Antiallergikum. Hastig friemelte er sie auf und drückte sich eine Zyrtec-Tablette in die zitternde Handfläche.
Doch mit dem Schlucken der Pille dachte der Niesreiz natürlich längst nicht daran, die Erschütterungen sofort einzustellen. Eruptionsartig schüttelten sie weiterhin Ernsts Körper. Die Haut an seinem Hals fühlte sich an, als werde sie von Dutzenden Nadeln traktiert. Er glaubte, wahnsinnig werden zu müssen und rieb und kratzte, was den Juckreiz nur wenig milderte. Hilflos wankte er aus dem Zimmer. ‚Ich brauche Luft!', schrie eine verzweifelte innere Stimme. ‚Ich brauche klare, saubere, staubfreie Luft!'
Da hieb ihm plötzliche Panik eine unsichtbare Faust in die Magengrube.
Vor Schreck prallte Ernst mit dem Rücken gegen die Wohnzimmerwand. Aller Atem stöhnte sich aus seinen Lungen. Wie Tausend Augenpaare, die direkt vor ihm alle gleichzeitig die Lider sperrangelweit aufrissen, überraschte ihn erneut die Präsenz lauernder Blicke.
Doch diese Empfindung war nun kein Gefühl mehr. - Jetzt war sie Gewissheit. So intensiv, so allgegenwärtig, dass es ihm fast die Sinne raubte. Mit einem Male wurde ihm bewusst, was ihn die ganze Zeit beobachtete, welch Kosmos seine kleine Wohnung war und wer tatsächlich über ihn herrschte. Plötzlich schien ihm, seine Augen seien hinter den Tränen so scharf wie Elektronenmikroskope und er sah: Er war in keinster Weise allein.

Jahrelang hatten sie sich in wolligen, grauen Schichten sämtlicher Oberflächen versteckt, hatten geduldig gewartet und sich munter vermehrt. Nun lugten sie über die Kante des Deckenfluters und aus den ausgetrockneten Augen mehrerer toter Mücken und Fliegen. Sie linsten zwischen den Rillen der Zentralheizung hervor und äugten von den Bücherreihen und seiner Musikanlage herab. Gafften ihn aus Teetassen, Kuchenkrümeln, dem Aschenbecher und aus dem Innern der verschiedenen Exemplare seiner Bierglassammlung an. Sie schauten um Ecken herum und sogar durch die Wände seiner Wohnung hindurch. In der Küche glotzten sie aus der rötlichen Pfütze, in der die Mülltüte seit einiger Zeit stand. planschten vergnügt in dem Saft-Pool einiger, schon etwas älterer Tomaten. Sie spähten aus dem nie ausgewechselten Filter der Dunstabzugshaube und stierten aus der Lache einstmals übergekochter Milch, die erst verdunstet, dann angebacken und nun als Krustenlandschaft die Herdplatten umsäumte. In den Geschirrtürmen auf der Spülenanrichte feierten sie wahre Orgien und Ernst befürchtete, dass sie sich auch hinter der Tür des Kühlschrankes in einem vor einigen Tagen nicht aufgegessenen Kartoffelauflauf über seine Panik amüsierten. Im Schlafzimmer knabberten sie im Federkissenrestaurant an Ernsts Schuppen. Unter dem Bett hatten sie maßstabgerechte Großstädte errichtet, überbevölkert und in eigener Scheiße erstickend. In der Abstellkammer lagen sie auf Konserven und - groteskerweise - auf uralten Waschmittelpackungen dicht an dicht nebeneinander und genossen den wohlig warmen Schatten. Im Badezimmer übten sie Freeclimbing in Kachelfugen und hingen im Abfluss, bangend darauf wartend, dass Ernst sie mit einem Wattestäbchen vor dem Sturz in die Kanalisation errettete und als langen, haarigen Popel aus den Löchern zwirbelte.
Ernst sah sie alle. Und er wußte, sie sahen ihn. Die ganze Zeit. Tag und nacht. Seit Wochen und Monaten.
Ein weiteres Bild tauchte vor seinem flimmernden Geiste auf. Es war der unerträglich stumm tadelnde, maßlos enttäuschte Blick seiner Frau Mama. Unter dieser enormen Gewissensbelastung brach sein Verstand vollends zusammen.
"It's always been Ethel. Jacob, wake up, you've got to tidy your room now!" sang jemand, der sich als Rasenmäher ausgab.
Regen prasselte ans Fenster. Ernst seufzte. Dann zählte er mit zitternden Fingern nach, wie viele Zyrtecs er noch hatte - und machte sich an die Arbeit.


Fortsetzung folgt ...
 
P

pirx

Gast
Hi Markus,

und wieder hast Du es geschafft, aus einem Nichts eine tolle Geschichte zu machen. Zumindest, soweit sie bisher vorliegt.

Den Namen finde ich nicht so tragisch. Ich weiß, daß Du den Typen mit Absicht so genannt hast. Jemand, dem langweilig ist, und daher auf die Idee kommt, bei strömendem Regen Fenster zu putzen, muß einen völlig bescheuerten Namen haben. Und Ernst gehört dazu. Meine Favoriten wären Ludger, Herbert, Horst. Ich will niemandem zu nahe treten, der so heißt, aber diese Namen habe ich bereits alle in meinen Romanen untergebracht, weil ich sie so schrecklich finde. Der furchtbare Name als Synonym des Antihelden. Und so verstehe ich Ernst in dieser Geschichte.

Und jetzt bin ich ganz gepannt auf die Fortsetzung. Du machst es hier spannender als in einer Daily Soap, Markus.

Mit besten kollegialen Grüßen

Pirx
 

Markus Veith

Mitglied
Vielen Dank

Hallo, Pirx!
Du hast recht, der Name hat schon seine Bedeutung. Er hängt mit dem Titel zusammen, der zu einen die sprachliche Abkürzung von Exzess und gleichzeitig die Initialen des Protagonisten. Ich weiß, es erscheint mir selbst noch ein wenig plump, diese Parallele, und ich denke, dieser Titel ist "nur" ein Arbeitstitel.
Es ist nun übrigens auch "EXS - Part II" auf der Seite. Danach kommt noch ein dritter Teil und der 'Putz-Wahn' hat erstmal ein Ende, wenn auch noch nicht die Geschichte.
Ich hoffe, ihr bleibt dabei.
Mit literarischen Grüßen
Markus Veith
 



 
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