(F) Was macht das Faultier im Kühlschrank oder Altersheim "Heldenruh"

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Pinky

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"Verzeihung, ist dieser Platz noch frei?"
Das Einhorn sah von seinem Buch auf und blickte intellektuell über seine randlose Brille. Vor ihm stand ein Troll, zwar schon etwas gebeugt vom Alter, aber immer noch gut über zwei Meter groß mit verfilztem, braunem Fell und einem Rest jenes gefährlichen Funkelns in den Augen, dass diese Rasse so ruhelos durch die Berge streifen und über zufällig vorüberkommende Reisende herfallen ließ.
"Natürlich, warum nicht", meinte das Einhorn und rückte ein Stück zur Seite. Mit einem dankbaren Lächeln nahm der Troll auf der weißgestrichenen Parkbank Platz, dann wandte sich das Einhorn wieder seiner Lektüre zu.
Einige Minuten herrschte Schweigen, während der das Einhorn weiter durch seine randlose Brille hindurch schmökerte und sich gelegentlich über das ergraute Bärtchen strich und der Troll einfach nur dasaß, sich umsah und nicht recht wusste, wohin er seine Hände geben sollte. Schließlich meinte der Troll:
"Schön hier."
Das Einhorn hob wieder den Kopf und schaute sich um, als müsse es sich das Aussehen des Parks erst wieder in Erinnerung rufen, ehe es ein Urteil abgeben konnte. Es war ein weiterläufiger Park mit breiten, säuberlich geharkten Kieswegen und sorgfältig gestutzten Bäumen überall auf den Grundstück. Südlich stand sogar ein gar nicht so kleiner Wald und einen Gemüsegarten mit einem weißen Lattenzaun gab es auch. Den Hügel hinauf befand sich das große, weiße Hauptgebäude mit den Zimmern und den Speise- und Gemeinschaftssälen und einem höhlenartigen Zubau für Drachen und ähnliche Untiere. Und der hohe Maschendrahtzaun am Rande des Grundstücks war so weit entfernt, dass er gar nicht auffiel.
"Mhm", stimmte das Einhorn schließlich zu.
"Man könnte fast vergessen, dass wir in einem Altersheim sind“, fuhr der Troll fort. Etwas wie Schwermut klang in seiner Stimme mit.
"Nun, streng genommen ist es ja auch ein Erholungs- und Rehabilitierungszentrum", widersprach das Einhorn.
"Jaja, natürlich. Und wenn die Leute davon sprechen, die Wege für die Reisenden sicherer zu machen, gehen sie auch auf Trolljagd."
Das Einhorn klappte sein Buch zu und nahm die Brille ab. Dann wandte es seine volle Aufmerksamkeit dem Troll zu.
"Naja, Sie müssen zugeben, dass Ihre Rasse nicht ganz unschuldig ist an der hohen Reisendensterblichkeit."
"Ach, es sind doch viel mehr durch Steinschlag umgekommen als durch einen Troll."
"So? Und wer war für den Steinschlag verantwortlich?"
Der Troll schwieg kurz etwas betreten, dann meinte er bedauernd: "Sie wissen ja, wie Kinder sind. Die müssen doch auch irgendwo spielen."
"Wem sagen Sie das! Was wir schon für Probleme hatten, nur weil die lieben Kleinen unvorsichtig waren beim Herumtollen. Kaum hat so eine Königstochter ein Einhornfohlen gesehen, gibt sie so lange keine Ruhe, bis sie auch eins hat. Und der werte Herr Papa hat natürlich nichts besseres zu tun, als sofort die halben Heerscharen durch den Wald zu schicken, um dem Töchterlein den Wunsch zu erfüllen. Die trampeln uns dann das ganze Wohnzimmer nieder, aber sowie die Prinzessin endlich ein Fohlen hat, will sie es schon nicht mehr."
"Wie wahr, wie wahr!" seufzte der Troll. "Was wir Menschen in der Wohnung herumliegen hatten! Nur weil die Kleinen jeden vorüberziehenden Händler immer gleich haben wollen. Und zwei Wochen später ist er schon nicht mehr interessant, weil ein neuer vorüberkommt. Meine Frau hat mir ja hundert Mal gesagt, ich soll die Kleinen nicht so verwöhnen, aber man will ja auch kein Rabenvater sein, nicht wahr?"
"Tja, die holde Weiblichkeit!" meinte das Einhorn mit halbverträumten Blick. "Die machte einem das Leben auch nicht grade leichter. Meiner hab ich ständig zu wenig verdient. Ich glaube, sie hätte mir am liebsten mein Horn abgesägt, um es zu verkaufen."
Der Troll nickte voller Anteilnahme. Auch er hatte sich in seinem Leben viel mitgemacht mit seiner Frau. Wie lange das gedauert hatte, bis sie eine passende Wohnung gefunden hatten, als sie zusammengezogen waren!
"Ob Sie es glauben, oder nicht, aber ich seit ich hier bin, kann ich nicht ruhig schlafen, weil ich ständig glaube, die Pfleger würden ebenfalls versuchen, mein Horn zu stehlen." Unsicher betrachtete der Troll die kleine Sägescharte am Horn des Einhorns, beschloss jedoch, sie nicht zu erwähnen.
"Was soll ich sagen?" klagte er stattdessen. "Gestern ging ich hier im Park spazieren, da hat doch glatt der alte Barbar aus Zimmer dreiundfünfzig versucht, mich zu erschlagen!"
"Alte Gewohnheiten wird man eben nur schwer los", rezitierte das Einhorn gelehrig. Auch er ertappte sich immer wieder dabei, dass er nach Jungfrauen Ausschau hielt, die er herumtragen könnte.
"Aber Hauptsache, wir sind gesund", erwiderte der Troll darauf, bloß, um das Gespräch aufrechtzuerhalten. Und dann überlegte er, ob er mit einem Vortrag über all seine Wehwehchen ansetzen sollte, meinte jedoch schließlich nur: "Und schlecht geht es uns hier ja auch nicht."
"Oh nein, keineswegs", stimmte das Einhorn zu. Es dachte an das große Schachspiel, in dem die Senioren selbst die Figuren sein konnten - so gab es stets einen waschechten König mit seiner Gattin als Dame sofern diese noch lebte. Das Einhorn spielte gerne Schach, wenn es auch immer wieder Streitereien mit den Zentauren gab, wer besser als Springer geeignet war. Und jedes zweite Wochenende gab es das große Turnier gegen die Pfleger. Das hielt sie geistig gesund. Und die Senioren auch.
"Zu Hause hatten wir immerhin keinen Kühlschrank, in dem ein Faultier hängt", unterbrach der Troll die Gedankengänge des Einhorns. Genaugenommen hatten sie in den Bergen überhaupt keinen Kühlschrank. Es war auch nicht nötig, die toten Pferde hielten sich auch so recht lange.
"Naja, es friert ein wenig, aber sonst geht es ihm doch ganz gut", wandte das Einhorn ein.
"Was? Oh, ja, natürlich." Der Troll versank in Schweigen und schlief fast ein. Das Knirschen von Kies auf dem Weg schreckte ihn jedoch sogleich wieder hoch. Es waren Holzräder, die da vorüberrollten, und bei diesem Geräusch wurden gerade die ältesten Trolle hellhörig. Doch hier war es nur ein Pfleger, der eine alte Hexe im Rollstuhl vorüber schob. Nun, eigentlich waren durchwegs alle Hexen alt, aber bei jeder kam der Augenblick - meist wenn sie damit anfing ihrem Kessel Namen zu geben oder in rauen Mengen Lebkuchen zu backen - wo sie ihre Familie aus dem Wald holte und ins Heim steckte.
"Was haben Sie denn früher gemacht?" erkundigte sich das Einhorn interessiert.
"Ich war Poliertroll im Höhlenbau. Spezialisiert auf Gebirgshöhlen, aber auch in Waldhügeln, was immer beliebter wurde. Damals wurde aber noch richtig gebaut, nicht so wie heute, diese billigen Fertigteilhöhlen. Die hielten ein Leben lang. Die hielten noch jedem Heldenaufgebot stand. Und Sie?"
"Ich war Dozent an der Universität."
"Oh!" machte der Troll. "Tatsächlich? Nun, ich kann auch lesen", fügte er nicht ohne Stolz hinzu. "Nicht sehr gut und sicher nicht alles, aber immerhin. Das Schulwesen war bei uns in den Bergen leider nicht allzu ausgebaut."
"Verstehe."
"Sagen Sie, dann kannten sie ja vielleicht einen Onkel von mir. Er war Hausmeister in der Universität."
"Nun, wir hatten tatsächlich einige Trolle, unglücklicherweise war ich mit keinem von ihnen bekannt", bedauerte das Einhorn. "Leider fielen sie allesamt dem Barbarenaufstand zum Opfer. Ebenso wie die Gnome und die wenigen Riesen, die immer die Schornsteine kehrten."
"Ach, darum ist er also nicht mehr zu den Familientreffen gekommen. So was ähnliches dachten wir uns schon." Der Troll seufzte tief, als er daran dachte, dass das nicht der einzige seiner Verwandten war, der diesem Schicksal zum Opfer gefallen war. "Schade. Er kannte immer die besten Lieder."
"Tja, die Familie!" sinnierte das Einhorn tiefsinnig. Der Troll nickte zustimmend. Und langsam.
"Die Kinder fehlen mir etwas", meinte er. "Kaum sind sie aus dem Haus, vergessen sie einen völlig."
"Meine Familie war erst letzte Woche zu Besuch." Der leichte Stolz, der mitschwang, war nicht zu verkennen.
"Mich besucht nie jemand!" klagte der Troll.
"Naja, schließlich beging ich auch meinen zweihundertsten Geburtstag."
"Zweihundert?" wiederholte der Troll ungläubig. "Donnerwetter! Ich habe keine Ahnung, wie alt wir Trolle werden können. Wir werden für gewöhnlich immer vorher von irgendwelchen Helden erschlagen. Bin der erste Troll, der alt genug fürs Altersheim wurde."
"Ja, die Familie ist sehr wichtig bei uns Einhörnern", erklärte das Einhorn, das nicht recht zugehört hatte. "Die Familie geht uns über alles!"
"So?" meinte der Troll. "Und warum hat sie Sie dann ins Altersheim gesteckt?"
 

jon

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Teammitglied
Ein schöner Text…
…bis auf den letzten Satz. Da ging mir ob des hoch erhobenen Zeigefingers das Messer in der Tasche auf. Das ist zu simpel, zu plaktiv, zu populistisch, zu … einfach zu flach und einfallslos für einen so schönen Text.

Sehr sehr schade…
 

Pinky

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Dank

Herzlichen Dank für die gute Kritik allerseits. Faultier-Buch gibt's eigentlich noch keines, aber vielleicht wird das ja noch was. Mal sehen.

An Jon:
Schade, dass du den letzten Satz übertrieben findest, aber er musste einfach rein, um so was wie einen etwas üblen Geschmack zu hinterlassen und nicht alles zu rosig aussehen zu lassen.

Viele Grüße
Pinky
 

jon

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Teammitglied
…vielleicht mag ich ja diesen Geschmack nicht :)
Nein im Ernst: Soooo einfach (wie dieser Satz suggeriert – und es gibt im Text nichts, was ihn relativiert)) ist das eben nicht mit dem so gern geschmähten "Abschieben ins Altersheim". Aber das ist eine andere Diskussion…
 

Pinky

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nicht ganz unrecht

... magst du haben mit der Behauptung, dass das nicht so einfach ist mit der berühmten "Abschiebung", wenn ich auch Gott sei Dank diese Erfahrung noch nicht machen musste. Meiner Meinung nach ist dieser Satz der, der am besten an dieser Stelle passt; und wenn ich etwaige Interpretationen nicht lieber meinen Lesern überlassen würde, würde ich an dieser Stelle ja auch eine weiteren Deutungsvorschlag liefern. Aber dennoch vielen Dank für deine angeregte Kritik.

Grüße Pinky!
 

Schweige

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Auch diese Fautiergeschichte ist echt klasse, besonders gefallen mir Sätze wie:
"Das hielt sie geistig gesund. Und die Senioren auch."

Die Sache mit der Schlußpointe finde ich auch nicht sonderlich gelungen. Die Aussage "Jeder der Angehörige ins Altersheim schickt, ist ein schlechter Mensch" ist viel zu flach und hat mit dem Rest der Geschichte, die auf so vielen Ebenen funktioniert, auch nicht viel zu tun.

Ansonsten, wie gesagt, sehr gelungen.

Schweige
 



 
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