Fahrt nach Wacken

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Bo-ehd

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Günni tankte den alten Ford Pick up fast voll, während Matze auf dem Beifahrersitz kauerte und wie Espenlaub zitterte. Wenn er nicht bald wenigstens einen Joint bekam … um Himmelswillen nein, das war gar nicht auszudenken, was dann mit ihm geschehen würde.
„So, Matze, Sprit hamwer jetzt genug. Wir fahrn jetzt schnell noch zur Unterführung am Sternplatz, da holst du uns ein bisschen Stoff fürs Wochenende, und dann hab ich eine ganz dicke Nummer für uns.“
„Was’n für ne dicke Nummer? Sag schon, Günni!“
„Verrat ich dir, wenn du den Stoff geholt hast.“
Sie hatten schnell die Unterführung erreicht und sahen schon die einschlägigen Figuren herumstehen, die dort alles anboten, was das Kifferherz begehrt. Günni hielt an. „Nu geh schon, worauf willste denn warten?“
Matze zögerte einen Moment, dann fragte er demütig: Kannste mir was Geld leihen, Günni, bitte?“
„Spinnst du? Du hast vor zwei Tagen deine Stütze gekriegt, wo hast du denn die ganze Kohle gelassen? Lässt mich hier volltanken und kann sich nicht mal mit ein bisschen Gras revanchieren!“ Günni war augenblicklich so aufgebracht, dass er seinen Kumpel schon aus dem Auto werfen wollte, aber dann erinnerte er sich, dass es ihm selbst schon tausend Mal so ergangen war, seit er auf der Straße beziehungsweise in dem leerstehenden alten Fabrikgebäude lebte. Wahrscheinlich hatte Matze das frische Geld dazu verwendet, seine alten Schulden zu bezahlen. Matze lebte wie er von der Hand in den Mund, und Löcherstopfen gehörte zum Tagesgeschäft. „Ist schon gut, Matze, wir haben ja immer noch Plan P“, wurde er versöhnlich.
„Plan B? Du hast noch nie über Plan B gesprochen. Was machen wir jetzt?“
„Plan P, Matze, nicht B. P wie Pilze! Die kosten nix und schicken uns auf die Reise. Da hätte ich mir eigentlich das Tanken auch sparen können.“
„Du weißt, wo wir solche Pilze finden?“, fragte Matze voller Erwartungen.
„Klar. Du kannst sie im Internet kaufen oder selbst sammeln. Musst nur wissen welche und wo. Ich weiß es, und deshalb fahren wir jetzt da hin.“
Günni parkte die klapprige Karre auf einem Parkplatz am Waldrand. „Zieh dein Hemd aus“, wies er Matze an, „und sammle darin alles an Pilzen, was du findest. Sortieren tun wir sie zum Schluss.“

Und so zogen sie an diesem feuchtwarmen Septembertag los und sammelten alles, was auch nur entfernt aussah wie ein Pilz. Nach knapp zwei Stunden breiteten sie ihren Fund auf dem Tisch eines Rastplatzes aus und sortierten grob nach Farbe und Form: Essbares wie Birkenpilz, Rotkappen und Parasol, Ungenießbares wie einige Röhrlingsarten, aber auch Giftiges wie Täublinge und Schwefelkopf und vor allem den Fliegenpilz mit den weißen Tupfern auf der roten Kappe. Letzterer war der einzige Pilz, den sie sicher von allen anderen unterscheiden konnten. „Das ist der Schamanenpilz“, erklärte Günni. „Alle sagen, er sei so giftig, dass man davon stirbt, aber das ist nicht wahr. Das sagen sie nur, weil er den Schamanen vorbehalten ist. Er führt sie in die Anderswelt zu den Göttern, Geistern und Kobolden.“
Matze verstand gar nichts. „Was sind Schamanen oder wie das heißt?“
„Das sind Heiler in Sibirien oder am Amazonas, die mit den Pilzen auf einen Hallu-Trip gehen. Sie besuchen eine Welt, die den anderen verborgen bleibt. Und wir werden das Gleiche machen, verstehste? Die kleinen Lapprigen und Glitschigen mit den langen Stielen, das sind die echten LSD-Power-Gewächse. Wirst schon sehen.“
„Wo willst du sie kochen? Wir haben keine Wohnung, nicht einmal einen Topf und einen Löffel zum Rühren. Oder willst du zu deiner Oma?“
„Die schmeißt mich raus, wenn ich mit dem Zeug bei ihr aufkreuze. Nee, Matze, wir werden sie roh verzehren. Ich weiß, dass das funktioniert. Augen zu und rein damit, Hauptsache wir kommen auf den Trip. Wichtig ist nur, dass wir von allen ein paar in unserer Mischung haben und sie nicht zu grob würfeln. Feine Scheiben gehen am besten.“
Matze gewann den Eindruck, als hätte Günni einschlägige Erfahrung, und nickte, wie er alles abnickte, was sein Freund vorschlug.
Als sie die aussortierten Pilze in Scheiben und Stücke geschnitten hatten, legten sie sie in einen umgedrehten Hut, der bislang unbeachtet auf dem Rücksitz lag, und befestigten ihn zwischen den Vordersitzen. So würden sie während der Fahrt immer mal wieder hineingreifen können, ohne die Kontrolle über das Fahrzeug zu verlieren.

„Und wo fahren wir jetzt hin?“, wollte Matze wissen. „Du hast vorhin so eine Andeutung gemacht.“
„Wir fahrn nach Wacken. Zum Rockfestival. Hardrock, Metal und so weiter. Woodstock für die echten Kerle. Wollte schon immer mal da hin.“
„Günni, Mann, du hast immer so gute Einfälle. Ich komm nie auf sowas. Und was machen wir dort?“
„Was machen wir wohl auf einem Rockfestival, Matze, sags mir!“, polterte Günni leicht genervt. „Manchmal bist du wirklich etwas langsam im Kopf.“
„Und wo liegt Wacken?“
„Ziemlich im Norden. Hinter Hamburg. Dauert ne Weile, bis wir dort sind, noch sind wir in Berlin. Ach, weißte was, Matze, wir genehmigen uns jetzt erst mal ein paar Scheibchen. Man soll sich ja das Reisen so angenehm wie möglich machen. Im Handschuhfach sind zwei Dosen Bier. Die kippen wir jetzt, dann rutschen die Pilze besser.“
Das war eine Ansage ganz nach Matzes Geschmack. In Sekunden hatte er die beiden Dosen geöffnet, hielt eine davon Günni hin und nahm hastig einen ersten Schluck. Wie auf Kommando griffen beide gleichzeitig in den Hut mit den Pilzen und stopften sich drei, vier, fünf Scheibchen in den Mund.
Natürlich passierte in den ersten zehn Minuten nichts, und beide waren geneigt, sich ein paar weitere einzuverleiben, aber Günni warnte davor, ungeduldig zu werden.
„Stopp, nicht zu hastig“, sagte er. „Nicht zu viele auf einmal. Lass sie erst mal wirken.“
„Bei mir wirken sie schon, Günni, ich bekomme Bauchschmerzen, nein, keine Schmerzen. Es ist so ein starkes Kribbeln.“
„Das vergeht gleich. Dein Magen wird gleich betäubt. Merkst du sonst noch was?“
Sie fuhren in der Zwischenzeit stadtauswärts, mitten durch den Berliner Speckgürtel. Die vierspurige Fahrbahn lag wie mit dem Lineal gezogen vor ihnen. Der Verkehr war dicht, dennoch ging es zügig voran. Die alte Karre hielt mit dem fließenden Verkehr mit, auch wenn die Wassertemperatur zeitweise auf gefährliche hundert und mehr Grad stieg. Nach etwa einer halben Stunde hatten sie die Großstadt hinter sich gelassen.
Günni merkte, wie es in seinem Magen rumorte, als hätte er lebendiges Getier hinuntergeschluckt, das jetzt in seinem Körper ums Überleben kämpfte. Gleichzeitig erfasste auch ihn ein Kribbeln, kurze Zeit später überkam ihn ein Frösteln, und dann endlich erschien eine neue Welt vor seinen Augen. Die Fahrbahn fest im starren Blick, ergötzte er sich an der Farbenpracht der Umgebung. Büsche erschienen lila, Bäume knallgelb, die Fahrzeuge des Verkehrs vor ihm in allen Schattierungen von leuchtend rot bis himmelblau. Und das Verrückteste: Die Farben wechselten ständig. Was eben noch blau war, wandelte sich in orange, Büsche und Bäume stießen farbige Wolken aus, als würden sie brennen oder verglühen, veränderten ihre Form, wuchsen innerhalb Sekunden in den Himmel oder zerflossen auf dem Asphalt. Das ist der Trip, den ich gesucht habe, kam es Günni. Er hielt sich den krampfenden Magen mit der einen Hand, während er mit der anderen die alte Rostlaube auf der Fahrbahn zu halten versuchte.
Seine Sinne nahmen nicht nur das Farbenspiel und die veränderten Formen der Welt vor seinen Augen wahr, er vernahm nun auch noch ein Sphärenorchester wie aus einem Science-Fiction-Film. Es begann mit Menschenstimmen, dann Vogelgezwitscher, schließlich dröhnte musikalisch getunter Motorenlärm wie eine Heavy-Metal-Symphonie in seinen Ohren.
Günni griff noch einmal in den Hut, um zu verhindern, dass die Wirkung nachlässt. Hastig kaute er auf den dünnen Stielen und zarten Streifen herum, ohne zu ahnen, dass er damit vielleicht doch ein wenig überzogen hatte. Nach wenigen Minuten verlor er das letzte bisschen Gefühl für Raum und Zeit, entdeckte, wie die Bilder vor ihm ihre Ordnung verloren. Eigenartige Gebilde tauchten nun vor seinen Augen auf, die Fahrbahn verwandelte sich in einen knallbunten Gang, der in einem farbenprächtigen Tor mündete, Strukturen wie Netze, Gitter Streifenmuster und Wellenberge tauchten vor seinen Augen auf. Und das Schönste: Alles änderte sich in Sekunden.
„Matze, wie isses?“
„Geil, eh.“ Das war alles, was er herausbrachte.
Günni war das Fahren inzwischen lästig geworden. Er würde es sich viel lieber auf dem Beifahrersitz bequem machen und den Trip genießen. Aber das war unmöglich. Matze besaß keinen Führerschein, so dass er nicht wechseln konnte, und eine Pause einzulegen, das würde die Reise nach Wacken noch länger werden lassen.

„Ich versuch mal, ein bisschen schneller zu fahren“, brummelte er vor sich hin. Aber schneller fahren war nicht. Die Autobahn war jetzt stark befahren, und mehr als sich dem fließenden Verkehr anzupassen, schien unmöglich.
„Mann, ist das voll hier auf dieser Seite“, maulte er ungeduldig vor sich hin. „Matze, ich versuchs mal da drüben hinter der Leitplanke. Da ist viel weniger Verkehr.“
Matze hörte seinen Freund etwas sagen, aber er verstand die Worte nicht. Er hatte wohl bei seinem dritten Griff in den Hut ein paar von den ganz deftigen Stücken erwischt.
Da drüben – das war die Gegenfahrbahn, auf der der Verkehr sichtlich schwächer war. Das muss Günni aber irgendwie fehlgedeutet haben, und schließlich lenkte er das altes Vehikel über den Grünstreifen mit der Planke, so dass es abhob, ein paar Meter durch die Luft schwebte, auf allen vier Rädern landete und sich dann einem Vierzigtonner in den Weg stellte. Günni hörte das ohrenbetäubenden Krachen, aber er wusste nicht, was es bedeutete. Dafür war er viel sehr mit seiner Wahrnehmung beschäftigt. Denn mit diesem heftigen Rüttler, der das ganz Führerhaus erbeben und schrumpfen ließ, veränderten sich die Farben und Figuren vor seinen Augen blitzartig. Eine völlig neue Szenerie bot sich ihm mit Menschengesichtern, Tierkörpern, Fratzen und Masken, mit verzerrten Mündern, blutenden Augen und durch die Luft schwebenden Händen und Köpfen.

Fassungslos starrte er auf das Geschehen vor und neben sich, während die Minuten vergingen. Die Farben und Figuren wurden für einen Moment noch wilder, dann beruhigten sie sich und wandelten sich zurück in eine Szene, die ihm durchaus bekannt vorkam. Autos um ihn herum, alle dicht bei dicht, viele zertrümmert. Rauchende Kühler, Glassplitter, Schreie von Menschen. Menschen in weißen Plastiksäcken hasteten von einem Auto zum anderen. Aber wie, zum Kuckuck, sollte er das alles einordnen? So von einem Moment auf den anderen, das war doch irreal, oder? Er entschied, sich von der nächsten Person, die sich in der Nähe aufhielt, aufklären zu lassen. Nach wenigen Augenblicken kam tatsächlich jemand vorbei.
„Hallo Meister, wird das noch lange dauern hier?“, fragte er ganz höflich. „Was issn da überhaupt los?“
„Stau und kaputte Autos, so weet de kieken kannst. Siehste doch“, antwortete der in Weiß Gekleidete.
„Geht’s da gar nicht mehr weiter?“
„Nee, hier is Endstation. Da geht nischt mehr, es sei denn, du fliegst über die janzen Trümmerteile, du Komiker.“
„Wir müssen nämlich weiter.“
„Ach so? Ihr müsst weiter!? Wo müsst ihr denn noch hin?“
„Nach Wacken.“
„Ick gloobs nich, nach Wacken wollnse.“ Er konnte sich ein Lachen nicht verkneifen.
„Wieso ham se euch denn in die weiße Uniform gesteckt?“, wollte Günni wissen.
Der angesprochene Helfer stutzte und sah ihn ungläubig an. „Du meenst die weeße Schutzkleidung mit dem roten Kreuz druff? Vielleicht sind wir ja die neuen Verkehrshelfer aus der Schweiz, wer weiß. Junge, du hast vielleicht Nerven!“
„Also, fahren is nich“, resümierte Günni. „Kommen wir hier zu Fuß weiter?“
Der Weißgekleidete kam einen Schritt näher und inspizierte nachdenklich das zusammengequetschte Führerhaus. Dann schaute er Günni mit hochgezogenen Brauen an. „Wat meenste denn, wie weit du zu Fuß kommst ohne Beene? Und dein Kopp steht ooch ziemlich schräg uffm Jerippe. Ick gloob, det wird nischt mehr.“ Das waren seine letzten Worte, dann verschwand er.
Günni starrte noch eine kurze Weile aus dem geschrotteten Führerhaus und genoss das Spiel der Farben vor seinen Augen. Wie Polarlichter, nur viel intensiver, wehten die bunten Wolken an ihm vorüber. Dann wandte er sich erschrocken an seinen Kumpel.
„Oh Shit, Matze, guck doch nur“, murmelte er voller Verzweiflung, und seine Stimme wurde immer leiser. „Jetzt machen die auch noch das Licht aus.“
 

WackyWorld

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Endlich. Ich dachte schon, ich wäre der einzige Durchgeknallte mit einem infernalisch-schwarzen Humor. Aber dieser Text deutet daraufhin, dass ein weiterer Schwarzhumorinfizierter dieses Forum bevölkert. Der Anfang ist noch etwas verbesserungswürdig, nach meinem Geschmack. Warum? Ich hatte deine Story mal angefangen und dachte mir dann: ist nicht meins, klang mir zu "harmlos". Genauer: Ich dachte am Anfang, das wäre eine "moralische Zeigefinger"-Story nach dem Motto: No snif the coke, no smoke the dope. Das Spezialgebiet pensionierter Studienrätinnen mit Doppelnamen, die Religion und Ethik unterrichtet haben. (Und deren Sohn ne Hanfplantage bei Oma angebaut hat). Jetzt habe ich sie aber ganz gelesen (dazu fühlte ich mich als Death Metal Enthusiast [Heaven Shall Burn, Thy Art Is Murder, Amon Amarth] und Wacken-Fan verpflichtet) und ich habe deine Protagonisten richtig ins Herz geschlossen. Und das in einer Kurzgeschichte hinzukriegen ist nicht so einfach. Grüße an Günni! Petrus hat bestimmt noch Angel Mushrooms: Why die, when you can fly...
 

Bo-ehd

Mitglied
Hallo WackyWorld,
danke für dein Feedback und die Sternchen. Ja, ich liebe Humor, je schwärzer, desto besser. Und deshalb schätze ich auch Rouald Dahl so sehr. Aber mit schwarzem Humor hat man in Deutschland so seine Probleme. Wenn es mal richtig zur Sache geht, steigen zu viele Leser aus. Habe ich hier im Forum erlebt (siehe Beitrag "Esme"), aber auch anderswo. Schade eigentlich, weil diese Geschichten das exakte Maß an Fleur de Sel in der Gourmet-Suppe sind. Um wenigstens ein kleines Publikum zu erreichen, schreibe ich nur relativ softe Storys.
Zu meiner Geschichte: Mich hat ursprünglich nur der Dialog im zweiten Teil (kursiv) gereizt, und um den wirkungsvoll hinzubekommen, habe ich die Story mit den Pilzen vorangeschaltet. Die klingt relativ brav, was damit zu tun hat, dass ich Drogen jeglicher Art noch nie konsumiert gehabt habe, als eigentlich gar nicht mitreden kann. Meine Erfahrungen gründen ausschließlich auf Beobachtungen in meiner Hippi-Zeit vor vielen, vielen Jahren. Ich denke mal, die Story reicht für so Uneingeweihte wie mich.
Gruß
Bo-ehd
 



 
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