Familie und Zwei Gespenster, Fortsetzung des Romans: Im falschen Geschlecht

Ruedipferd

Mitglied
5.Teil

Familie und zwei Gespenster



„Max, es wird Zeit. Macht euch fertig. Die ersten Gäste sind schon im Anmarsch“, rief er.

Ich hob meinen Arm, um ihm zu zeigen, dass ich verstanden hatte. Alles paletti, wir wussten Bescheid. Die Duschen im Schloss wurden rasch aufgeteilt. Gottseidank gab es auf meinem Flur drei Stück davon. Die Erfrischung tat gut. Ich zog mich um und war vor den anderen bereits fertig. Auf dem Weg in die Remise riskierte ich einen Blick in die Küche. Lisa werkelte konzentriert in ihrem Refugium und scheuchte mich fort, wie damals, als ich noch ein kleines Kind war. Ich sah aus dem Augenwinkel eine überdimensionale mehrstöckige Geburtstagstorte auf dem Tisch stehen. Stand da etwa eine Miniaturfigur von Chester auf der Spitze? Fast schämte ich mich für meine Neugierde.

Den Abend verbrachte ich damit meine Gäste zu begrüßen, Geschenke entgegenzunehmen und allen einen guten Appetit und eine schöne Party zu wünschen. Wie erwartet wurde es um neun Uhr wild auf dem Schlosshof. Unsere Ponygruppe galoppierte in die Reitbahn und zeigte eine Springquadrille vom Feinsten. Die Kinder waren alle als Ritter und Ritterfräulein gekleidet. Zwei ältere Ritter führten ein Lanzenturnier vor. Mein Vater und Robert sowie alle anderen Pferdebegeisterten applaudierten besonders. Um halb zehn Uhr eröffneten Andy und Carsten die Disco. Jenny wartete schon auf mich. Unser Ehrentanz konnte nicht herrlicher sein und Jenny raunte mir zu, dass wir zu unserer Hochzeit aber einen Wiener Walzer aufs Parkett legen müssten. Ich drückte sie fest an mich, schob sie zur Diskothek und ließ den Schneewalzer spielen. Hundertfünfzig Gäste klatschten begeistert im Rhythmus mit. Am Schluss forderte ich meine Eltern und alle Anwesenden auf, ebenfalls die Tanzfläche unsicher zu machen.

Kurz vor elf Uhr bat der Direktor ums Wort.

„Liebe Anwesende, lieber Maximilian. Ich erinnere mich noch gut an deinen ersten Tag als Sextaner bei uns. Ja, liebe Eltern und ältere Gäste, da sind nun mal eben acht Jahre vergangen und unsere Kleinen sind groß geworden. Das allein wäre nicht so schlimm, wenn wir dabei nicht auch älter würden. Jetzt sitzt hier eine komplette Abiturklasse vor uns. In zwei Monaten werde ich euch hoffentlich alle ins Leben entlassen können. Dann sieze ich euch. Dass Max als künftiger Erbe unseres geschätzten Grafengeschlechts nun seinen achtzehnten Geburtstag heute feiern kann und damit nahezu sämtliche Dörfer zusammengetrommelt wurden, ist ein glücklicher Umstand, der nicht allen Gemeinden zuteilwird. Somit sind wir nämlich noch einmal hier heute vereint. In zwei Monaten wird sich unsere Jugend in die vier Himmelsrichtungen zerstreuen. Ich erhebe jetzt das Glas auf unser Geburtstagskind, Graf Maximilian von Wildenstein und danke Ihnen, lieber Max Senior, dass Sie mit ihrer ganzen Kraft diese traditionsreiche Trutzburg bewahren, die unser Land über vier Jahrhunderte geprägt und beschützt hat. Jeder von uns kennt natürlich die traurige Geschichte von Siegbert und Barbara, die ihre Liebe mit dem Leben bezahlen mussten. Wünschen wir den beiden ihren ewigen Frieden und du, Max Junior, sollst hochleben. Prost. Ach so, ein Geschenk hab ich hier auch in Form eines Buches. Das Hauptgeschenk, das Abizeugnis mit Durchschnitt von 1,0 kann ich dir leider erst nach den Prüfungen geben. Ich hoffe, du hast dafür Verständnis und hilfst mir mit deinen Klausurnoten dabei!“

Die Erwachsenen lachten. Meine Klassenkameraden sahen mich erwartungsvoll an. Da musste eine passende Antwort her. Ich brauchte nicht lange zu überlegen.

„Schade, Herr Direktor, und ich hatte mich bereits so auf mein Zeugnis gefreut. Können Sie nicht zur Feier des Tages eine Ausnahme machen und die Zeugnisse schon vor den Prüfungen verteilen?“

Unser Direx war schon eine Nummer. Aber die Reaktion hatte er wohl erwartet. Ich bedankte mich für die netten Worte und den schönen Bildband über die Entstehung der Erde. Vor den Erfolg hatte der Herrgott nun mal die Arbeit gesetzt. Und die nächsten Wochen würden nicht einfach werden. Umso fröhlicher wollten wir heute in meinen Geburtstag hinein feiern.

Kurz vor Mitternacht, just als alle mit ihren Sektgläsern aufstanden und gebannt auf die Schlossuhr blickten, geschah das Unglück.

Das Licht fiel aus. Strom weg, keine Musik mehr, nur ein paar Kerzen flackerten auf den Tischen im Wind. Ein merkwürdiger Luftzug schien irgendwo herzukommen. Einige Mädchen und Frauen schrien laut auf, andere kicherten verhalten. Andy und Carsten fluchten, suchten nach Taschenlampen. Mein Vater bemühte sich die Gäste zu beruhigen.

„Ich gehe sofort zum Sicherungskasten. Da ist sicher wieder eine Überspannung eingetreten, die Disco und die Lautsprecher brauchen zu viel Strom. Wir hatten das heute Nachmittag schon einmal.“

Gerade als er mit der Taschenlampe in der Hand und Robert im Schlepptau losstiefeln wollte, fiel der Lampenschein auf eines der vergitterten Turmfenster. Tumult entstand unter meinen Gästen. Zwei Menschen standen dort oben in zehn Meter Höhe regungslos. Ein Mann und eine Frau. Der Mann trug eine Ritterrüstung, die Frau ein langes grünes Kleid. Ihre blonden Harre wehten im Wind. Sie breitete plötzlich weit die Arme nach ihm aus.

„Siegbert, ich werde dich immer lieben!“, rief sie.

Er erwiderte verzweifelt: „Meine schöne Barbara!“

Die Gäste starrten gebannt auf das Paar, deren Stimmen schaurig klangen. Die Szenerie war unheimlich. Wir hörten zusätzlich das Geklapper von Rüstungen. Und die Turmuhr schlug Mitternacht. Nach zwölf Schlägen schauten die beiden unglückseligen Geister zu mir hinunter.

„Maximilian von Wildenstein, du bist von unserem Blut, denke immer an uns, vergiss uns nie!“, riefen sie mir zu.

Ein helles Licht hüllte sie ein und der Spuk brach ab. Wenig später war der Strom wieder da.

„Nein, Siegbert und Barbara, ihr seid unsere geliebten Vorfahren, wir vergessen euch niemals. Ruhet in Frieden!“, schrie Beatrix ganz laut zum Turm hinauf. Mit dem Glas in der Hand drehte sie sich zu mir um. „Alles Gute zum Geburtstag, Max.“

Sie schlang ihre Arme um mich, küsste mich leidenschaftlich und flüsterte mir eine Schweinerei nach der anderen ins Ohr. Jenny war die nächste. Hubertus ließ meinen Eltern den Vortritt. Nach und nach kamen alle zu mir. Der anschließende Gesang von Happy Birthday muss noch in München zu hören gewesen sein, so laut war er.

Als ich mich setzten wollte, gab es einen Tusch. Robert und Dietrich trugen die riesige Geburtstagstorte vor Mia und Lisa her und stellten sie auf einen Tisch. Ganz oben stand tatsächlich Chester in Schokolade und schaute mich spitzbübisch über drei Etagen Leckerei an. Meine Mutter reichte mir einen Teller, Mia ein Tortenmesser und Lisa passte auf, dass ich mir ein großes Stück abschnitt. Ich drückte sie und knutschte sie vor Dankbarkeit ab.

Als alle ihren Tortenanteil bekommen hatten und die Tassen mit Kaffee, Tee und Schokolade gefüllt waren, bedankte ich mich noch einmal bei allen. Auf unsere Schlossgespenster hielt ich eine Lobrede. Immerhin waren sie außerplanmäßig an meinem Ehrentag erschienen. Ich lächelte Conny zu. Die Nacht begann. Nach dem Kaffee kam endlich der Alkohol auf den Tisch. Ich war nun Achtzehn und musste mit einem Doppelkorn aus unserer Brauerei anstoßen.

Das Fest nahm seinen Lauf. Immer wieder kamen Freunde und brachten kleine Darbietungen. Dazwischen wurde das Tanzbein geschwungen und gefeiert. Die Älteren verabschiedeten sich ab halb drei Uhr nach und nach, während es bei uns Jungen erst richtig losging. Allerdings vertrugen wir noch nicht viel. Ich passte sehr auf mich auf, denn als Gastgeber durfte ich nicht volltrunken ausfallen. So gegen vier Uhr morgens lichteten sich bei uns die Reihen. Nur meine Übernachtungsgäste und unser harter Dorfkern der Ritter derer vom Bootshaus rückten näher zusammen. Die meisten davon waren bereits alkoholerprobt.

Jeder sah, wie riesig sich Conny auf unserem Schloss fühlte. Er hatte alle Hände voll zu tun, mit den vielen Mädchen zu tanzen und die Nummern und Adressen der Jungen in sein Handy zu speichern. Die Boys wollten ihn natürlich auf der Reeperbahn besuchen. Er merkte deshalb gar nicht, wie sein Glas immer wieder gefüllt wurde und trank weiter von der Kornbowle, die er eingangs verächtlich als ‚Limonade‘ abgetan hatte. Langsam zeigte der darin enthaltene Alkohol bei ihm Wirkung. Um halb fünf Uhr sank Conny friedlich im Stuhl zusammen und schlief ein. Melanie versuchte ihn wachzurütteln, aber es war zu spät. Nun begann unser Streich, den ich mir mit Andy ausgedacht hatte. Ein paar Jungs aus dem Dorf trugen ihn über den Schlosshof.

Aber nicht nach oben in mein Zimmer, sondern in den Turm, direkt in Ritter Siegberts Gefängnis. Sie legten ihn vorsichtig neben das Skelett, seine Hand fasste um die knöcherne Hüfte. Über den Kopf zogen sie ihm eine locker sitzende Kapuze, die nur seine Augen bedeckte. Die Füße wurden wie bei Siegbert angekettet. Neben den beiden lagen Coladosen und mehrere Tüten Gummibärchen, sodass keiner verhungern oder verdursten brauchte. Der Schauspieler in Siegberts Ritterrüstung war ein Klassenkamerad von mir. Er blieb oben an der Außentreppe des Turmes stehen und und blickte von Zeit zu Zeit auf den Gefangenen hinunter, damit dieser seinen Rausch gefahrlos ausschlafen konnte. Wir schossen schnell ein paar Fotos von dem ungläubigen Conny, der nicht an Gespenster glauben wollte. Danach verließen wir ihn lachend und gingen ins Bett. Siegbert und Barbara spielten ihre Rolle die ganze Nacht weiter perfekt.

Als Conny um halb elf Uhr wach wurde und sich verwundert die Kapuze vom Kopf zog, starrte er erschrocken auf das Skelett neben sich. Er stieß einen lauten Schrei aus, der das unglückliche Paar alarmierte. Beide erschienen wieder auf der Empore und jammerten herzzerreißend. Conny begann mit zu jammern und zu lamentieren. Aber seine Bitten um Freiheit wurden nicht erhört. Er musste sich mit Gummibären und Cola zufrieden geben und den skelettierten Siegbert als Zellengenossen akzeptieren. Erst um ein Uhr hatte Beatrix ein Einsehen. Barbara und Siegbert nahmen dem armen Conny die Fesseln ab, der sichtlich flau aus seinem Verlies wankte. Er saß blass auf der Bank unter unserer alten Eiche. Gespielt freudig, lief ich auf ihn zu.

„Hey, Conny, wir haben dich überall gesucht. Wo bist du bloß gewesen? Du siehst nicht gut aus, Alter. Ich dachte, du verträgst mehr als wir?“

Er legte seine Arme um mich. „Ich geb auf. Ich werde nie wieder etwas gegen Geister sagen. Siegbert hat fürchterlich geschnarcht und wollte mir auch noch die ganzen Gummibärchen wegnehmen. Und sein Skelett stank bestialisch. Ich will nie wieder im Turm eingesperrt werden.“

Nach und nach kamen Hubertus und Andy angelaufen. Rene schlug die Hände überm Kopf zusammen und Melanie küsste ihn auf die Wange.

„Oh, mein Liebling, wo warst du? Ich bin gestorben vor Angst“, log sie theatralisch.

„Ich hab meine Lektion gelernt. Darf ich jetzt duschen? Und etwas zu essen wäre nicht schlecht.“

Wir brachten ihn nach oben. Im Speisesaal gab es Mittag und zum Kaffee saßen wir mit einigen Gästen am Tisch, die am Abend nicht mit uns in den Geburtstag hinein feiern konnten. Das wichtigste Gesprächsthema war natürlich nicht ich, sondern unser Gespensterpärchen. Klaus Bichelsteiner, unser Lokalredakteur des Wildensteiner Boten, ließ sich von Conny alle Einzelheiten seiner Entführung durch die rüde Ritterschaft erzählen. Am übernächsten Tag erschien ein Foto von Conny neben Siegberts Skelett im Turm in der Zeitung. Klaus hatte einen sehr spannenden Bericht dazu verfasst. Das ganze Dorf war stolz auf uns und unsere Burg. Ich schickte Conny die Zeitung nach Hamburg. Kurt lachte sich halb tot, aber Conny wollte noch mehr Exemplare, um sie an Bekannte auf dem Kiez zu verschenken.

Unser Direx hielt leider Wort. Eine Klausur jagte die nächste. Ich hatte keine Zeit mehr an Blödsinn, Sex oder meine Freunde zu denken. Selbst Jenny war abgemeldet. Im Schloss liefen alle auf Zehenspitzen und jeder vermied es, mich anzusprechen. Mitte Mai aber waren sämtliche Arbeiten geschrieben. Ich bereitete mich auf die mündlichen Prüfungen vor. Als ich in den Spiegel blickte, konnte ich irgendwann keinen Unterschied mehr zwischen Siegbert und mir entdecken. Ich sah aus wie ein Zombie und fühlte mich so. Das Kolloquium begann und die zusätzliche Sportabiturprüfung fand statt.

Es folgten einige bange Wochen der Ungewissheit. Am 2. Juni war alles vorbei. Gottseidank. Die Ergebnisse wurden in einer gesonderten Schulstunde verkündet. Ich jauchzte überwältigt über meine guten Noten. Mathe und Deutsch waren glatt Eins. Englisch Zwei plus, Physik Zwei plus und Geschichte mit Sozialkunde auch glatt Eins. Das Sportabitur hatte ich ebenfalls mit einer Eins abgeschlossen, was mich im Gegensatz zu den anderen Zensuren nicht allzu sehr überraschte. Die ganze Plackerei hatte sich wirklich gelohnt. Wahnsinn!

Oma wollte unbedingt bei der Zeugnisvergabe dabei sein. Sie war nun schon 95, aber immer noch ziemlich rege im Kopf. Körperlich ging’s nicht mehr so gut und zuweilen verwechselte sie mich mit Hubertus. Tante Alexa kam zur Abiturfeier mit ihr angefahren. Beatrix war natürlich dabei und schenkte mir ein sehr großes Paket. Das öffnete ich aber sicherheitshalber heimlich. Mit gutem Grund, wie ich gleich beim Auspacken bemerkte. Diverse Tuben Gleitcreme, Kondome in allen Farben und Geschmacksrichtungen und zwei versaute Gay DVD’s lagen drin. Trixi saß in der Aula neben mir und sah sich unsere Abschlussfeier genau an. Nach den Ferien sollte meine Cousine nach Frankreich ins Internat. Ich umschlang ihre Hand, als der Direx seine Abschiedsrede hielt. Das Internat lag in der Nähe von Bordeaux, sie würde also sehr weit weg von uns leben.

„Irgendwie beneide ich dich. München ist nur ein Katzensprung von zu Hause. Ich hab schon jetzt fürchterliches Heimweh.“

„Ach, Süße, das tut mir leid.“ Mein Mitgefühl war ehrlich. „Das schaffst du schon. Vielleicht wird es viel schöner als du denkst. Du bist eine kleine Comtesse, vergiss das nicht. Adel verpflichtet. Und wir telefonieren immer über Skype.“

Gottlob ließ sie sich damit trösten. Ihr Kopf lag während der Feier liebevoll an meiner Schulter. In Mathe und Deutsch erhielt ich als Klassenbester einen gesonderten Preis vom Direx, der sichtlich gerührt Tränen in den Augen hatte, als er uns, einer nach dem anderen, die Hand drückte und Lebewohl sagte. Das war also jetzt die Schule gewesen. Ich dachte an meine Kinderjahre, an die unruhige Zeit, als ich noch als Mädchen leben musste und an meine legendären herrlichen Jungenstreiche. Mit zwölf Jahren wurde ich damals wieder geboren und begann, mein Leben in vollen Zügen zu genießen.

Auch der Pfarrer saß im Publikum, stand lächelnd auf, gab jedem von uns die Hand und hielt eine Rede. Andy und ich schluckten, als er uns namentlich und unsere Hilfsbereitschaft von einst hervorhob. Der verwilderte Pfarrgarten sah später nie wieder so gut aus, meinte er und schmunzelte.

Mein Vater betrachtete mich während der Lobrede mit zusammengekniffenen Augen. Ihm war sichtlich nicht geheuer dabei. Nein, er würde nichts erfahren. Wie vieles andere nicht. Ich hatte meinen Stolz und wollte ihm den seinen nicht nehmen.

Abends telefonierte ich mit Rene. Mein Freund war inzwischen ebenfalls mit der Schule fertig, allerdings auch mit den Nerven. Seine Noten konnten sich sehen lassen, kamen dennoch mit den meinen im direkten Vergleich nicht ganz mit. Das störte ihn allerdings weniger. Wie hier hatte man in Hamburg mit dem Zentralabitur das Niveau deutlich angehoben, so dass die Schüler dort genauso gestresst ihre Zeugnisse entgegen nahmen, wie bei uns in Bayern. Wir unterhielten uns über unsere OP und das weitere Vorgehen. Am 07. Juli sollten wir beide in Berlin sein. Mit Doc Reimers war ein letztes Gespräch, das das Röntgen der Lunge, ein EKG und die wichtigsten Blutwerte einschloss, am 01.07. abgesprochen. Die Ergebnisse bekamen wir gleich mit, um sie der Klinik vorlegen zu können. Einen Teil der Blutuntersuchungen wollte Herr Reimers mit dem Fax ans Krankenhaus schicken. Rene meinte, wir könnten uns gegen Mittag beim Doc treffen und erst am 03. gemeinsam zu mir nach Wildenstein fliegen. Danach würde es am 07. morgens mit dem ICE nach Berlin gehen.

Der Rest vom 01. Juli und der nächste Tag sollten Conny gehören. Hubertus wollte Andy und mich nach Hamburg begleiten. Er hatte sich auf meiner Geburtstagsparty mit Conny kurzgeschlossen. Die beiden hatten sich vorgenommen, zusammen mit uns die Reeperbahn unsicher zu machen. Wir waren nun alle achtzehn Jahre alt und durften offiziell Kurts Tabledancebar besuchen und uns auf dem Kiez amüsieren. Ich freute mich auf der einen Seite und musste gegen ein mulmiges Gefühl andererseits ankämpfen. Alles hatte zwei Seiten. Würde Sina ein besonderes Engagement in bestimmter Hinsicht von mir erwarten? Sie war inzwischen eine gute Freundin geworden und nach wie vor, betrachtete ich die Huren mit den Augen einer Frau. Meine Sozialisation ließ mich weit über den Tellerrand männlicher Gelüste hinausschauen.

Hubertus und Andy blieben im Wartezimmer sitzen, als Rene und ich zu Herrn Dr. Reimers ins Sprechzimmer gingen. Wir mussten diverse Untersuchungen im Hause vornehmen lassen und waren erst gegen Mittag fertig. Der Doc hatte uns seit langem ins Herz geschlossen. Er war sichtlich bewegt. Der Abschied viel ihm nicht leicht und auch wir schluckten. Die Operation bildete den Abschluss unserer Behandlung durch ihn. Natürlich werden wir ihn noch einige Male aufsuchen, aber der Kontakt wird weniger. Ein neuer Lebensabschnitt hatte begonnen.

Gegen Mittag fuhren wir zu Conny. Das Wetter war herrlich, bei 25 Grad und Sonnenschein beschlossen wir noch einmal zur Alster zu fahren. „Conny, ärgere dich nicht über andere Segler, sonst liegst du wieder im Wasser“, meinte Rene frotzelnd und erinnerte uns an den kleinen Unfall, der nun auch schon einige Zeit zurücklag. Hubertus wusste von unserem Abenteuer, als wir mit dem anderen Boot zusammen stießen. Ich hatte es ihm erzählt. Ein angenehmer fröhlicher Nachmittag ließ unsere Laune und Lebensfreude in die Höhe schnellen. Mit dem Bus ging es nach der Segelpartie ans Falkensteiner Ufer. Wir sahen gebannt und voller Fernweh den vorüberziehenden Schiffen nach, badeten in der nahegelegenen Elbebadeanstalt. Conny erhielt während des Essens beim Italiener eine SMS. Er erzählte uns von einem ehemaligen Stammfreier, der ihn gerne treffen wollte. Hubertus hörte mit großen Augen zu. Dass Connys Vater eine Kiezgröße war, wusste er bereits. Aber von Connys Stricher- Vorleben hatte er keine Ahnung. Wir klärten ihn behutsam auf. „Ich hoffe, du verurteilst mich jetzt nicht“, meinte Conny und sah verlegen aus. Hubertus schüttelte den Kopf. „Um Himmels willen, nein. Ich finde das krass und faszinierend zugleich. Entschuldige, bitte. Du hast das ja sicher nicht zum Spaß gemacht. Bei den Frauen denkt man sich nicht so viel dabei. Da ist Prostitution irgendwie etwas, dass zum Leben grad hier in Hamburg dazugehört. Aber bei Jungen und Männern nicht. Was sagt denn dein Vater dazu?“ „Er will nicht, dass ich es weiter tue. Und ich habe auch komplett damit aufgehört. Nur meine Stammfreier sind unglücklich. Ich sehe sie auch nicht regelmäßig. Deshalb kommt es wie heute immer wieder vor, dass sich jemand meldet und ich ihm von der neuen Situation erzählen muss. Heute Abend kommt wieder einer, den ich lange nicht mehr gesehen habe. Er ist Amerikaner und selten in Hamburg. Wir treffen uns wie üblich am Parkplatz. Max und Rene wissen, wo das ist. Ich sag Jacky Bescheid, dann könnt ihr euch auf der anderen Straßenseite auf die Bank setzen und auf mich warten.“ Ich erzählte meinem Vetter, was Rene und mir widerfahren war, als wir auf dem Straßenstrich auf Conny warteten und die Freier abwehren mussten. Er fing zu lachen an. Um 19 Uhr machten wir uns auf den Weg. Conny stellte Hubertus Jacky vor und sprach mit zwei anderen Jungen, die in der Wendeschleife standen. Wir durften, wie besprochen, auf die gegenüberliegende Straßenseite gehen. „Siehst du, Hubi, hier sitzen wir in der ersten Reihe und kriegen alles mit, was auf dem Strich passiert“, erklärte Rene. Hubertus gluckste. „Besser als jedes Kino!“ Wir hatten einige Bierdosen dabei und tranken. Nach einiger Zeit fragte mein Vetter, was es mit dem kleinen Backsteinhäuschen auf sich hatte, das durch die Bäume schimmerte. Es war das Klo. „Können wir mal hin? Ich muss das Bier wegbringen“, fragte er. Die Idee kam bei allen gut an. Wir standen auf, informierten Jacky, der wie immer, wie ein Paradiesvogel gekleidet und geschminkt war. „Tut, was ihr nicht lassen könnt“, meinte er und grinste. In Hamburg konnte man vor Überraschungen nie sicher sein. Das sollte ich in den nächsten Minuten zu spüren bekommen.

Als wir aus der Toilette kamen, vernahm ich ein eigenartiges Geräusch. Es klang, als ob jemand nach Luft röchelte. Ich ging zur Rückseite des Gebäudes. Erschrocken hielt ich inne. Ein kleiner Junge stand dort an der Mauer. Vielleicht dreizehn oder vierzehn Jahre alt, seine Kleidung war verschmutzt. Er muss längere Zeit auf der Straße gelebt haben. Seine Augen starrten leer. Sein Atem ging stoßweise, sein Gesicht schimmerte schneeweiß und hob sich von der Dunkelheit ab. Hatte er Drogen genommen? Hubertus und Rene folgten mir und zuckten sichtlich zusammen, als sie den Kleinen anschauten. „Bleibt hier und passt auf ihn auf. Ich laufe zu Jacky.“ So schnell ich konnte rannte ich zur Wendeschleife und konnte nur noch zusehen, wie der in ein Auto stieg und davon fuhr. Ich blickte mich um. Einer der anderen Jungen war auf mich aufmerksam geworden. „Wir brauchen Hilfe. Da steht jemand am Klohaus, der bricht gleich zusammen. Ich glaub, er hat Drogen genommen“, erzählte ich ihm atemlos. Der Junge nickte und folgte mir. „Sch… Ganz ruhig. Ich rufe einen der Streetworker an. Wir wollen hier kein Aufsehen!“ Er sah sich den Jungen an und konnte sich kaum beherrschen. „Scheißdealer!“ Dann nahm er sein Handy. „Ronald, Tim hier. Kannst du herkommen? Am Klohaus hat‘s einen erwischt. Ist noch ziemlich jung. Weiß nicht, was er eingeworfen hat. Aber du solltest ihn mitnehmen.“ Er steckte sein Telefon in die Jacke. „Wie heißt du, Kleiner? Darf ich sehen, was du in der Tasche hast?“ Der Junge wehrte sich nicht, als Tim in seine Hosentasche fasste. Ein kleiner Beutel mit bunten Pillen kam zum Vorschein. „Gleich kommt Ronny, er ist Streetworker und bringt dich ins Krankenhaus. Die müssen wissen, welchen Stoff du intus hast.“ Rene hatte den Kleinen inzwischen in die Arme genommen und stützte ihn. Hubertus schüttelte fassungslos den Kopf. „Das ist doch noch ein Kind! Wer gibt so einem kleinen Kerl Drogen?“ Tim erwiderte recht ärgerlich: „Die Dealer haben hier im Park nichts zu suchen. Das haben wir mit ihnen abgemacht. Solche Geschichten holen die Bullen auf den Plan und die schließen uns den Park. Ronald ist sicher gleich hier. Er wird auch einen Rettungswagen holen, wenn es nötig ist. Sonst fährt er die Kids, die er aufsammelt, selbst ins Krankenhaus.“

„Hallo, Tim? Wo bist du?“ Eine kräftige Männerstimme rief nach ihm. „Hier, hinterm Haus. Danke, dass du kommen konntest.“ „Das ist doch selbstverständlich und mein Job! Hey, wer bist du?“ Ronald strich mit der Hand über das Gesicht des Kleinen und sah ihm in die Augen. Er fragte Rene, ob er ihn weiter halten könne. Rene bejahte. „Wir bringen ihn zur Straße, da steht mein Auto. Er muss ins Krankenhaus. Ich möchte den Dealer eigenhändig erwürgen!“ Mit dem Arm unterstützte er Rene und gemeinsam trugen sie den Jungen zu dem weißen Lieferwagen. „Drogenberatung Hamburg“, stand an der Seite. Roland schloss auf und legte den Kleinen vorsichtig auf eine Liege darin. Er meldete sich telefonisch im UKE Eppendorf an. „Vielen Dank für eure Hilfe“, meinte er zu uns. Tim händigte ihm den Beutel mit den Pillen aus. „Alles klar, Ronald. Nochmals danke und alles Gute für ihn.“ Er drückte dem Jungen die Hand. „Das wird wieder. Ronald hilft dir, okay?“ Der Junge nickte. Er sah sehr schwach und verletzlich aus. „Ihr gehört hier aber nicht her?“, fragte Ronny Rene und sah uns drei fragend an. „Nein“, antwortete ich. „Wir warten auf unseren Freund und wollten nur zur Toilette. Da haben wir ihn gefunden.“ „Soll ich mitfahren und auf ihn aufpassen?“, fragte Rene. „Ich habe einen Kursus in erster Hilfe bei der Jugendfeuerwehr gemacht.“ Ronald lächelte überrascht. „Klettere rein. Wir müssen auch los.“ Rene setzte sich zu dem Jungen und hielt seine Hand. „Ich melde mich nachher bei euch“, meinte er. Erstaunt sahen wir zu, wie die beiden abfuhren. Davon wusste ich gar nichts. Wir verabschiedeten uns von Tim und gingen wieder zu unserer Bank. Ich zitterte leicht. Das Erlebnis war nicht spurlos an mir vorüber gegangen. Ich war wütend auf die Leute, die Kindern Drogen verkauften. Hubertus schien meine Gedanken erraten zu haben. „Ich glaube, das war jetzt ein Schlüsselerlebnis für mich. Ich werde entweder Jugendrichter oder Staatsanwalt. Wahrscheinlich Letzteres. Dann kann ich diese Typen hinter Gitter bringen, wo sie hin gehören. Und Rene bei der Jugendfeuerwehr? Ist ja krass.“ „Das hat mich auch erstaunt. Ich bin ganz früher mal in Wildenstein dabei gewesen. Aber es ist lange her. So ein erste Hilfe Kursus ist vielleicht gar nicht schlecht“, meinte ich zu ihm. Ein Auto hielt und Conny stieg aus. „So, Leute. Ich bin zu allen Schandtaten bereit. Wo ist Rene?“ Wir erzählten ihm, was vorgefallen war. „Shit. Das mit den Drogen ist ein Problem hier. Gut, das es Ronny gibt. Ich kenne ihn. Er ist sehr engagiert. Willst du Rene anrufen? Ich wollte eigentlich zu Kurt. Er kann doch dort hinkommen?“, fragte er mich. Ich nahm gleich mein Handy. Rene erzählte, dass sie den Jungen im Krankenhaus aufgenommen haben. Ronald wollte sich weiter um ihn kümmern. Das Drogenproblem blieb noch lange Gesprächsstoff zwischen uns. Wie geplant nahmen wir am nächsten Tag Abschied von Conny. Er drückte uns am Flughafen sehr lange. Vor Rene und mir lag eine aufregende Zeit. Sie wird unser Leben für immer verändern oder geraderücken, je nach dem aus welcher Perspektive man es betrachtete.

Die nächsten Tage auf Schloss Wildenstein gingen schnell vorüber und waren mit viel Arbeit angefüllt. Wir mussten das wichtigste einpacken. Unser Krankenhausaufenthalt sollte vierzehn Tage dauern. Am 07. Juli fuhren wir mit meiner Mutter im ICE nach Berlin. Hubertus war nach Hause zurückgekehrt, um sich auf seine USA-Reise vorzubereiten. Er wollte mit mir telefonieren. Mutter hielt dafür sämtliche Fäden in der Hand. Sie wird allen Bescheid geben und vor allem Renes Eltern sofort über unseren Gesundheitszustand informieren.

Rene und ich bezogen ein gemeinsames geräumiges Zimmer, in das wir nach dem Aufenthalt auf der Intensivstation wieder zurückgebracht werden sollten. Am nächsten Tag wollte Doktor Dupret, der uns operierte, noch einige Voruntersuchungen durchführen lassen.

Meine Mutter verließ uns nach einem kurzen Gespräch mit ihm frühzeitig, um in ihr Hotel zu fahren. Sie wirkte aufgeregt. So kannte ich sie nicht. Es ging ihr sehr nahe, das merkte man deutlich. Rene und ich freuten uns auf die Aussicht auch äußerlich Männer zu werden und gleichzeitig spürten wir so etwas wie Unbehagen vor dem letzten Prozent an möglichen Komplikationen. Wir mussten unser Einverständnis zur OP unterschreiben und wurden natürlich über alle Risiken aufgeklärt. Conny rief an. Er erzählte, die Ärzte empfinden es als Beleidigung, wenn ein Patient noch auf dem OP-Tisch verstirbt. Wir konnten also hoffen, auf jeden Fall wieder aufzuwachen. Wie beruhigend und zartfühlend! Conny traf wie immer den richtigen Ton.

Wir legten auf. Bei mir war eine Sekunde später Hubertus dran. Beatrix, meine Oma und meine Tanten und Onkels riefen ebenfalls nacheinander an. Andy meldete sich. Die ganze Bande saß im Bootshaus. Wir konnten sie grölen hören. Sie wetteten auf uns, wer wohl den Längsten bekam. Rene musste ihnen eine Enttäuschung bereiten. Es waren exakt zehn Zentimeter. Die Unterarmmanschette, aus der der Hautlappen für den Penis gewonnen wurde, besaß eine festgelegte Länge. Vielleicht kann man ihn später noch etwas ziehen, kam mir in den Sinn.

„Also kann ich euch eigentlich schon eintragen“, meinte Jacob lässig. „Beide zehn Zentimeter, Max und Rene. Sorry Leute, aber damit liegt ihr ziemlich weit hinten“, erklärte er.

„Das ist mir so wurscht, wie nur was. Hauptsache, ich habe erst mal einen. Die Länge ist mir völlig egal“, ereiferte ich mich. Und stutzte. Wenn ich es richtig bedachte, eigentlich doch nicht. „Also, zehn Zentimeter reichen auf jeden Fall, um ihn aus der Hose nehmen zu können“, setzte ich nach.

Mein Display zeigte mir Jenny an. Ich verabschiedete mich von den Jungs. Rene schüttelte den Kopf und hielt sich die Ohren zu. Unser Liebesgesäusel war wohl kaum auszuhalten. Die Parallelschaltung zwischen ihm und Kerrin, die neben Melanie saß, entschädigte ihn ein paar Minuten später.

„Wisst ihr beide denn überhaupt, wieso ihr transsexuell seid?“, fragte Melanie, die am folgenden Tag nach Essen zur OP fahren sollte. Wir verneinten.

„Also, das hat natürlich Ursachen und die sind relativ einfach erzählt. Ihr wisst, dass der Storch nicht die Kinder bringt, aber trotzdem sehr wichtig ist. Er teilt nämlich jedem Neugeborenen das Geschlecht zu. Dafür erhält er jeden Morgen von Petrus eine Liste, auf der die Namen stehen und ein Körbchen, in dem sich die Geschlechtsteile befinden. Brüstchen für die Mädchen und auf der anderen Seite liegen die Schwänzchen für die Jungen.“ Rene lachte auf.

„Nicht lachen, zuhören, das ist sehr ernst, auch für den armen Storch“, erzählte Melanie weiter. „Weil die Kinder mit der Mutter in der Regel noch in der Klinik sind, ist der Storch mit dem glücklichen Vater allein zu Haus. Männer unter sich, natürlich gibt es einen aus der Buddel. Der Storch streicht den Namen von seiner Liste und lässt das entsprechende Geschlechtsteil im Kinderbettchen zurück. Er fliegt weiter. Den ganzen Tag. Und überall kriegt er einen Schnaps. Er verträgt zwar eine Menge, denn er ist in der Zwischenzeit nach zwanzig Dienstjahren schon zum Alkoholiker geworden, wie man sich denken kann. Am späten Abend ist er aber so voll wie eine Haubitze. Die letzten Kinder kann der besoffene Storch nur noch im Tiefflug und torkelnd besuchen. Meistens rempelt er dabei sämtliche Bäume und Laternenmasten an. Manchmal passiert es nun, dass die beiden am Schluss noch übrig gebliebenen Babys verschiedenen Geschlechts sind. Der Storch schleppt sich taumelnd zum Kinderbett, greift in seinen Korb und… erwischt das falsche Teil. Beim Mädchen liegt also das Schwänzchen und beim Jungen das Brüstchen. Den restlichen Schnaps kippt er noch und irgendwie landet er irgendwann am späten Abend zu Hause in seinem Horst und zusätzlich auf seinem Freund und Arbeitskollegen Horst, weil unser Storch schwul ist. Blitzbesoffen sind sie natürlich beide. Am anderen Morgen geht die Sache von vorne los. Weil alles korrekt auf dem Zettel ausgestrichen ist, merkt Petrus natürlich erst mal nichts. Ihn widert nur die fürchterliche Fahne an, mit der der Storch jeden Tag zum Dienst kommt. Aber der tut seine Pflicht. Obwohl Petrus schon öfter mit dem lieben Gott über das Problem gesprochen hat, mögen sie ihm nicht kündigen. Irgendwann sieht Petrus die Bescherung, wenn er auf die Erde zu den heranwachsenden Kindern schaut. Um den Fehler des Storches zu kaschieren, hat er sich vom lieben Gott die Erlaubnis geholt, medizinisch eingreifen zu dürfen. Ja, und deshalb sind wir eben Transkids geworden. Unser Doc wird sofort von Petrus mit uns beliefert, wenn der unter den vielen Kindern auf der Welt eines von unserer Art entdeckt. Und nun schlaft gut, ihr zwei. Wir denken an euch. Gute Nacht.“

Nein, wie süß, die Geschichte sollte man sich patentieren lassen und aufschreiben. Rene und ich sahen uns gerührt an. Mir kamen fast die Tränen.

Unsere Nachtschwester erschien und fragte, ob wir eine Tablette brauchten. Wir lehnten dankend ab. Nein, ich wollte wie Rene, mit klarem Kopf meiner OP entgegen schlafen.

Am nächsten Morgen wurde noch einmal Blut abgenommen. Gegen Mittag telefonierten wir mit Doktor Reimers. Frau Michelsen rief an, um mir alles Gute zu wünschen. Die Narkoseärztin erschien. Doktor Dupret kam als letzter, lachte und erzählte einen Witz nach dem anderen. Ich schlief tief und traumlos in dieser für mich so wichtigen Nacht.

Um sieben Uhr morgens wurde ich in mein OP-Hemdchen gekleidet und mitsamt Bett abgeholt. Aus den Augenwinkeln warf ich Rene noch einen letzten Blick zu. An die Fahrt in den Operationssaal erinnerte ich mich in der Folge nur noch schemenhaft.

Die Narkoseärztin gab mir eine Spritze. Und mir wurde schwarz vor Augen. Nur noch Leere und Stille. Ich erwachte einmal kurz, hörte Stimmen, die von weit her klangen, piepende Töne, schlief weiter. Dunkelheit empfing mich, als ich meine Augen erneut aufschlug. Mein Unterkörper tat entsetzlich weh. Ich stöhnte. Eine Schwester kam. Strich mir über die Wange.

„Alles gut?“, fragte sie. „Haben Sie Schmerzen?“

Ich nickte müde und kraftlos mit dem Kopf. Sie ging. Ein Arzt sprach mit mir. Ich antwortete irgendetwas. Und sah, wie er eine Spritze in die Kanüle an meiner Hand führte. Plötzlich schien die Sonne. Meine Nasenspitze fühlte Wärme auf der Haut. Überall leuchtete es hell. Ich blinzelte ins Licht. Schmerzen hatte ich keine. Aber die nervigen Töne waren wieder da und etliche Kabel verschwanden unter meiner Bettdecke. Am Bett saß meine Mutter, in einen grünen Kittel gekleidet. Sie las in einem Buch.

„Mum, hallo“, ich konnte kaum sprechen.

Sie schaute sofort auf. „Maxi, endlich. Ach, mein Liebling. Ich hatte mir solche Sorgen gemacht. Obwohl mir der Arzt und alle Schwestern erklärten, dass alles in Ordnung ist. Die Operation ist gut verlaufen. Du musst dich jetzt schonen und abwarten. Vor allem darfst du nicht aufstehen.“

Ich nickte, drückte ihre Hand und erkannte den Buchtitel. Es war eines der vielen Bücher, die in meinem Zimmer standen und handelte von den Erlebnissen eines Frau zu Mann Transsexuellen. Mutter hielt meine Finger fest umschlossen.

„Ich darf hier nicht telefonieren. Wir warten, bis der Doktor kommt, ja? Dann hören wir, was er sagt und ich gehe kurz nach unten und rufe Papa an.“

Meinetwegen gerne. Rene fiel mir ein. Langsam versuchte ich mich auf der Intensivstation umzudrehen. Ich konnte ihn nirgends entdecken.

„Wo ist Rene?“, fragte ich leise.

„Er liegt wohl noch im Aufwachraum. Heute ist der 10. Juli, mein Schatz. Er wurde heute Morgen operiert. Deshalb kommt jetzt kein Arzt. Die sind alle noch unten. Aber wir fragen nachher. Es ist sicher alles gut. Seine Mutter darf hier in der Klinik anrufen. Das ist halt am ersten Tag alles etwas schwierig. Mach dir keine Sorgen und hab Vertrauen. Rene ist heute genauso ein Junge geworden wie du.“

Hach, war das beruhigend. Meine Mutter fand doch immer die richtigen Worte. Ich schlummerte müde wieder ein. Später hörte ich Stimmen, blickte in die fröhlichen Augen von Doktor Dupret, der gerade wieder einen seiner Witze losgelassen hatte. Alle Leute um mein Bett herum lachten. Wir hatten ihn gebeten uns zu duzen und der Doc, der aus Frankreich stammte, kam unserer Bitte gerne nach.

„Aha, da ist ja unser neuer männlicher Erdenbürger. Morgen früh kommst du in dein Zimmer und am späten Nachmittag werden wir mal den kleinen Jungen auspacken. Bist du schon gespannt?“

„Ja, sieht er schön aus?“ „Du wirst zufrieden sein“, sagte er und zwinkerte mit den Augen.

Ich hatte es also geschafft. „Wie geht es Rene?“, fragte ich.

„Oh, der schläft noch. Bald seid ihr wieder vereint. Ich denke, wir entlassen euch beide zusammen. Ein Tag mehr hier bei uns kann dir sicher nichts schaden. Ihr braucht jetzt nur etwas Geduld. So Max, lass dich von den Schwestern verwöhnen. Und deine müde Mutti schicken wir ins Bett.“

Er wandte sich zu meiner Mutter. „Sie sehen gestresst aus, gehen Sie schlafen. Das ist ein ärztlicher Befehl! Hier läuft jetzt alles seinen normalen Gang.“ Er berührte sie freundlich am Arm.

„Ja, danke, Herr Doktor, das tue ich. Max, du hast gehört. Du bist hier in guten Händen.“

Ein paar Minuten später war ich allein. Verkehrslärm drang durch das halb geöffnete Fenster zu mir herauf. Du bist jetzt ein richtiger Junge, flüsterte mir eine leise Stimme zu. Endlich! Ich war eins. Mein Körper und meine Seele verschmolzen in diesem Augenblick zu einer Einheit. Da war nun bei mir zusammengekommen, was zusammen gehörte. Zwei Teile einer riesigen Metallplatte schoben sich über meinem Kopf ineinander. Das Ergebnis war ein neuer Mensch, ein ganzer und heiler Mensch. Die viele Kraft und mein harter Kampf hatten sich gelohnt. Das Gefühl man selber zu sein ist genauso einzigartig, wie jeder Mensch einzigartig ist. Meine Hände falteten sich von allein. Ich dachte an meine Kindertage und dankte dem Herrn für diese Minuten höchster Glückseligkeit, die ich eins mit dem Universum und vereint mit ihm in seinem göttlichen Kraftfeld erlebte. Er und ich, darauf kam es an. Nur wie wir beide miteinander umgingen und einander vertrauten, konnte bestehen. Die Kirche gab allenfalls Richtungen vor, mehr nicht. Den Weg des eigenen Glaubens musste jeder selbst gehen und wer am Ende das fand, was ich heute finden durfte, hatte sein Ziel erreicht.

Ich dachte an Melanies Geschichte vom Klapperstorch und empfand sie nicht so falsch. Da war irgendwann irgendwo an irgendeiner Stelle ein Fehler passiert. Und dieser Fehler konnte inzwischen dank moderner Medizin korrigiert werden. Niemand hatte Schuld daran. In der Natur gab es massenhaft Unfälle. Aber das Wichtigste war, Gott liebte uns alle. Diejenigen, die heil und gesund auf die Welt gekommen waren genauso wie wir, bei denen sich ein Fehler eingeschlichen hatte. Gut zu wissen, dachte ich und spürte die Geborgenheit und Nähe eines großen Ganzen, dessen Teil ich immer sein würde.

Schlaf- und Wachphasen wechselten sich ab. Meine Kabel wurden kontrolliert und entfernt. Irgendwann kamen zwei Krankenschwestern, lösten mich von den Geräten und brachten mich auf mein Zimmer. Dort schlossen sie mich wieder an. Herz, Puls und Blutdruck, alles wurde überwacht. Wo steht die Temperatur? Mein Kopf registrierte die faszinierende Technik mit halbwachem Geist. Am Bett hing ein Urinbeutel, der regelmäßig geleert wurde. Mich interessierte doch nun sehr, wo er endete. Ein Blick unter die Bettdecke löste allerdings Ernüchterung aus. Ich war untenrum vollständig eingepackt. Nun denn, da musste sich meine Neugierde wohl noch etwas gedulden.

Meine Mutter klopfte an die Tür und streckte ihren Kopf herein. „Guten Morgen, junger Mann. Ich soll dich von deinem Vater grüßen. Hubertus hat auch schon angerufen. Er sitzt auf gepackten Koffern. Beatrix meldet sich demnächst selbst bei dir.“

Ich lachte innerlich. Herrlich. Da war sicher wieder ein freches versautes Gedicht fällig.

„Heute Nachmittag darf ich das Ergebnis sehen“, erzählte ich und freute mich. „Irgendwo in dem Rucksack dort, liegt mein Handy. Ich muss nachher ganz viel telefonieren.“

Schön, wenn eine Mutter gleich jeden Wink mit dem Zaunpfahl verstand. Sie gab mir lächelnd den ganzen Rucksack.

„Hier, brauchst du noch etwas? Ich hole mir sonst kurz einen Kaffee. Wann du wieder essen darfst, weiß ich nicht. Aber da läuft noch Nahrung in deinen Arm. Der Tropf enthält alles, was du benötigst.“

Ich blickte auf meine rechte Seite. Ja klar. Mein Magen musste für die OP kalt gestellt werden. Deshalb. Hunger und Durst hatte ich nicht.

„Geh ruhig, ich schlummere noch etwas, damit ich heute Nachmittag fit bin“, lachte ich und schaute auf meine Handynachrichten. Glückwünsche und Genesungswünsche von allen möglichen Leuten konnte ich erkennen. Ein heftiges Summen riss mich plötzlich aus dem Schlaf. Ich nahm ab.

„Hallo, Cousin, können wir Schniedel messen?“ Hubertus klang genauso aufgekratzt wie ich.

„Ich hab ihn noch nicht gesehen. Es ist alles zugepackt. Erst am späten Nachmittag gibt es die Geschenke!“ „Und sonst, hast du Schmerzen?“

„Nein, aber da läuft eine Menge an Medizin in mich hinein. Wann fliegst du?“

„In vier Tagen. Ruf mich an, wenn du ein Bild von ihm machen kannst, ja?“

Gute Idee, hätte ich selbst drauf kommen können. „Mache ich, du kriegst ein schönes Foto.“

Irgendwie war ich wieder müde. Wahrscheinlich lag das an all dem Zeug, was da in meinen Arm floss. Mutter kam wieder.

„Die Schwester kommt gleich und bringt dir eine leichte Suppe. Du sollst selbst essen und trinken. Der Tropf bleibt nur noch für Medikamente“, sagte sie.

„Hubi hat eben angerufen. Er freut sich bestimmt schon auf Amerika.“

Mum nickte. „Ja, er kann es kaum erwarten. Es ist ein großes Abenteuer, wobei dort viel von ihm verlangt wird. Aber sein Englisch ist perfekt und er wird sein Studium sicher gut abschließen. Die Wildensteins sind alle recht klug. Dein Vater hatte sehr gute Examen und Onkel Ludwig ebenfalls. Beatrix macht sich Gedanken um das Internat. Sie wollte es ja selbst, aber jetzt, wo es in Reichweite liegt, quält sie das Heimweh.“

Mein Handy summte. Wenn man vom Teufel spricht… Beatrix rief an, ich zeigte Mutter das Display mit ihrem Bild. Mum lachte, und verschwand. Sie ahnte wohl, dass das folgende Gespräch nicht mehr ganz jugendfrei wurde.

„Hallo Cousinchen, ich weile wieder unter den Lebenden.“

„Männer sind Schweine. Den Song kennst du genau, denn du warst bis gestern eine Frau. Nun bist auch du ein Schwein und lässt mich armes Mädchen ganz allein. Dich und Hubertus soll der Teufel holen, ich werde euch als Domina eure Hintern versohlen!“

Daraufhin konnte ich nur noch lachen. Mein Kopfkino ratterte und schoss bereits die ersten Fotos von dieser Session.

„Deine Tante hat geahnt, dass du Schweinkram von dir gibst und eben fluchtartig das Zimmer verlassen, meine Süße. Aber ich habe um dich keine Sorge. Du wirst das Mädcheninternat mit Sicherheit gewaltig aufmischen. Ich möchte wirklich bei euch mal Mäuschen spielen.“

„Ja, das Dichten scheint bei uns in der Familie zu liegen. Hast du ihn schon gesehen?“

„Nein, am späten Nachmittag kommt der Doc. Ich bin total verkabelt und eingepackt. Du, die Schwester will etwas. Ich mach Schluss, wir telefonieren wieder.“

Ich begann brav meine Suppe zu löffeln. Die Schwester nahm den Tropf ab. Wieder etwas mehr Bewegungsfreiheit, freute ich mich.

Mum kam zurück und hatte eine zweite Tasse Kaffee in der Hand. „Na, hat sie dir eine Ferkelei erzählt? Ich muss mal mit Alexa reden. Das Mädchen dreht völlig durch. Es wird Zeit, dass sie im Internat Manieren lernt.“

Ich verschluckte mich fast bei dem Gedanken. Das war genauso gut, als meine Mutter damals von meinem Vater verlangte, dass er auf mich aufpassen sollte. Wir Wildensteins machten generell, was wir wollten. Nun war Beatrix zwar nur Cousine mütterlicherseits, aber sie hatte genug von Hubi und mir gelernt. Ihr Vater Maurice war ebenfalls kein Kind von Traurigkeit. Das wusste ich inzwischen aus unseren Männergesprächen. Maurice klärte mich schonungslos über das Leben auf.

„Woran denkst du?“

Ich erschrak. „Nichts, Mum. Nur so.“

„Hm, dein Vater erzählt mir auch nicht mehr alles, hab ich den Eindruck.“

Ich wechselte schnell das Thema, fragte sie nach dem Buch, das sie las.

„Es ist hoch interessant, die Frau hat sich erst als erwachsene Lehrerin operieren lassen können und was die alles mit ihren Freund erlebt hat, das ist schon gewaltig.“

Wir unterhielten uns noch eine Weile, bis ich wieder einschlief. Um halb fünf Uhr wurde ich durch Geräusche geweckt.

„Also, jedes Mal, wenn ich da bin, schläft er. Manchmal denke ich, der junge Mann ist mit Absicht so unhöflich. Einen schönen guten Abend, Herr Graf, und herzliche Grüße von dem anderen jungen Herrn. Der kommt morgen her.“

Doktor Dupret lachte mich fröhlich an. Meine Bettdecke wurde zur Seite geschoben. Mum ging taktvoll aus dem Zimmer. Der Assistenzarzt wickelte alle Verbände ab. Mein Doc stellte einen kleinen Spiegel ans Fußende. Langsam wurde das restliche Verbandmaterial entfernt. Ich blickte gebannt in den Spiegel und an mir hinunter. Gleich würden wir uns das erste Mal im Leben begegnen: Er und ich. Ob er genauso aufgeregt war? Jetzt lag er nackt und frei. Hui, der ist aber winzig, dachte ich spontan, als wir einander erstaunt ansahen. Aber es siegte das beglückende Gefühl unserer zarten jungen Zweisamkeit. Er gehörte zu mir und wir hatten nun massenhaft Zeit uns kennen zu lernen.

„Einheitsgröße, aber so dick bleibt er nicht, das kommt nur durch die Operation. Was sagst du? In einem halben Jahr bauen wir ihm die Erektionshilfe ein und die Hoden an.“

Doktor Dupret schien mit seiner Arbeit zufrieden zu sein. Ich nahm meine Hand und streichelte einmal über mein neues Körperteil. Gefühl hatte ich noch keines darin.

„Er ist sehr schön, Herr Doktor. Vielen Dank. Sie glauben gar nicht, was so wenig Fleisch ausmacht.“

Er lachte laut auf, genau wie der Assistenzarzt. Die Krankenschwester schüttelte mitleidig den Kopf.

„Männer“, meinte sie. „Als ob es nichts Wichtigeres im Leben gäbe!“

„Liebe Schwester Tanja, das ist das nun mal das Wichtigste im Leben eines Mannes! Für Frauen ist das schwer zu verstehen, ich weiß.“

Der Doc wandte sich wieder an mich. „In ein paar Monaten hast du Gefühl darin. Nur kannst du einen richtigen Orgasmus ausschließlich über die Klitoris erleben, aber das weißt du sicher. Deshalb lassen wir die immer stehen. In Sauna und Schwimmbad fällst du allerdings nicht auf“, meinte er.

Als der Assistenzarzt meinen linken Arm abwickelte, schrie ich. Himmel, wie furchtbar! Da war nur noch rohes Fleisch zu erkennen. Sie bemühten sich beide, mich zu beruhigen.

„Das wächst alles wieder zu. Du musst den Arm nur hoch halten.“

Ich drehte mich weg und schaute verzückt lieber in den Spiegel zu meinem kleinen Freund. Ich dachte daran, dass Rene morgen aufs Zimmer kommen würde und einen Tag später auch seinen zu sehen bekam. Mein Arm wurde dick eingecremt und bandagiert. Mein neues Körperteil verschwand unter einer dicken Schicht roter Salbe und weißem Verbandsmaterial. Ich hatte ihn also anschauen dürfen. Wenn der Doc weg war, könnte ich ein paar Telefonate führen. Ach, das Foto! Nein, das ging jetzt nicht. Das musste ich nachholen, wenn der Verband weg war und ich selbst Hand an ihn legen durfte. Vielleicht noch ein oder zwei Tage, dachte ich. So lange gehörte er noch mir allein und durfte sich vor der Öffentlichkeit verstecken. Die Visite endete.

Meine Mutter kam herein und blickte mich fragend an. „Zufrieden?“

Ich nickte, „Ja sehr. Komisch, wenn ich bedenke, wie ich um ihn hab kämpfen müssen. Und jetzt hängt er da an mir herum, als wäre es nie anders gewesen.“

„Kindskopf! Ach Maximilian, ich bin jetzt auch beruhigt. Die letzten Jahre haben doch an unseren Nerven gezehrt, mehr als wir uns eingestehen wollten. Nun bist du endlich heil. Im nächsten Jahr kommt der Rest dran und das Leben kann endlich geradlinig weiterlaufen. Vater wartet auf die Rückmeldung des Amtsgerichts. Wenn du personenstandrechtlich ein Mann bist, bekommst du eine neue Geburtsurkunde und endlich deinen Ausweis. Vater kann dich im Adelsregister melden und dich notariell als Erben einsetzen. Da haben wir dem Hausgesetz ein schönes Schnippchen geschlagen. Aber auf die Idee, dass mal eine Prinzessin transsexuell sein würde und als Sohn und Erbe des Titels wieder aufersteht, konnte von unseren Vorfahren natürlich keiner kommen. Ich hoffe, es klappt alles. Vater hat Herrn Wanninger alle Vollmachten für die rechtlichen Schritte gegeben.“

Klar, unser Rechtsanwalt war in alles eingeweiht. Da konnte gar nichts schief gehen. Meine Gutachten lagen beide bereits beim Gericht und die Klinik hatte die OP gleich am selben Tag dem Richter gefaxt. Der Beschluss musste geschrieben werden und wurde noch vom Innenminister genehmigt, als Vertreter des öffentlichen Interesses. Alles nur Formsache, wie Doktor Reimers erzählte. Ich nahm mein Handy zur Hand. Es war kurz vor sechs Uhr, als ich in der Praxis anrief. Die Sprechstundenhilfe war dran und jauchzte auf, als sie meine Stimme hörte.

„Ich stelle durch, Max“, rief sie. Herr Reimers meldete sich.

„Ja, hier ist Max, Ziehpapa. Ich habe gerade mein kleines Jungenattribut gesehen. Er ist wirklich etwas klein, aber ich glaube, wir werden uns trotzdem sehr lieb haben“, erzählte ich flachsend.

„Herzlichen Glückwunsch, wie geht es dir? Hast du noch Schmerzen?“

„Nein, aber ich erhalte ziemlich viele Medikamente und bin dauernd müde. Rene ist noch auf der Intensiv. Er kommt morgen ins Zimmer. Es ist alles vollbracht, Doc. Ich bin sehr glücklich.“

„Max, ich schau gerade auf meinen Kalender. Wir sehen uns am 30. August, hab ich hier stehen. Erhole dich jetzt gut, es dauert alles seine Zeit. Grüß Rene. Ich bin sehr froh, dass es euch gut geht.“

Wir verabschiedeten uns. Ich telefonierte mit Andy und danach mit Conny. Mum gab mir Oma und Tante Alexa. Maurice rief an und Onkel Ludwig wollte wissen, wie sich das Statussymbol eines Mannes anfühlte. Ich schwebte auf rosaroten Wolken. Nachdem Mum gegangen war, rief ich Jenny an. Sie wollte alles ganz genau wissen.

„Super, dann kann ich mich schon auf unser erstes richtiges Mal einstellen“, meinte sie.

„Naja, so schnell geht das nicht. Die Pumpe kommt erst nächstes Frühjahr rein“, meinte ich und musste sie enttäuschen.

„Macht nichts. Besser als gar nicht. Das Leben liegt noch vor uns und fängt gerade erst an. Melanie ist bereits in Essen im Krankenhaus. Sie wird morgen operiert. Ich will sie gleich noch anrufen.“

„Gut, dass du das sagst. Ich schick ihr Grüße.“

Vater rief an, zeigte mein Display.

„Mein Dad, Jenny, ich melde mich morgen wieder. Dann hab ich Rene wieder bei mir.“

„Hallo Dad, hier ist die totale Telefonitis ausgebrochen. Wie geht es dir?“

Vater atmete durch. „Gut, mein Sohn. Mum hat mich schon angerufen, aber ich wollte dich natürlich selbst als meinen Nachfolger und Kronprinzen begrüßen. Hast du ihn schon gesehen?“

„Ja, vorhin. Er ist etwas klein geraten, aber wunderhübsch.“

„Die Kleinen werden irgendwann die Größten sein, das kennst du sicher. Hauptsache, du bist zufrieden. Nun sollst du nur noch lernen, mit ihm zur Toilette zu gehen.“

„Nicht nur das, Dad. Im Frühjahr will ich Jenny beglücken. Ich bin echt gespannt, wie das funktionieren wird.“

Vater lachte. „Das kriegst du schon hin. Die Gerichtssachen laufen und wenn alles da ist, schicken wir deine neue Geburtsurkunde ans Adelsregister. So etwas hatten die sicher auch noch nicht. Aber es ist alles legal und einwandfrei. Mach’s gut, mein Sohn. Wir hören wieder voneinander. Grüß Rene und Mum. Sie will wohl übermorgen nach Hause kommen. Du sollst noch zwei Wochen im Krankenhaus bleiben.“

Huch, das waren viele Neuigkeiten. Nun gut, Mum konnte nicht ewig ihre Zeit bei mir verbringen. Ich hatte mich zwar an ihre Hilfe gewöhnt, wurde dadurch aber ziemlich faul. Sie konnte gerne abreisen. Rene blieb bei mir und wir würden schon alles bekommen, was wir brauchten.

Fortsetzung Es wächst zusammen
 
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