Fantasy

Das Portal

Das Portal

Der Schriftsteller überflog die letzten, aussagenden Phrasen seines Werkes. Es fehlte die Pointe. Selbst, wenn er bedachte, dass dies ein auf Tatsachen basierndes Essay war, es fehlten die Wendungen. Der Text verlief sich irgendwo hinter der Grenze alles Vorstellbaren, wo die Träume mit einer anderen Wirklichkeit zu verschmelzen scheinen und eine Einheit vorgaukeln, die man unter den Menschen mit Wahnsinn bezeichnet.
Die Geschichte würde nicht mehr lange in diesem Augenblick verharren, in dem sie scheinabr so leicht zu verformen war wie nasser Ton; der Schriftsteller musste der Arbeit geben, was ihm blieb.
Eine alte Standuhr tickte laut in dem weiten, fast leeren SOmmerhaus, in dem nur noch ein Bett, ein Stuhl und ein Tisch standen, und der Schriftsteller machte sich an seine undankbare Arbeit und begann, auf die Tasten der alten Schreibmaschine einzuhacken.

Wer weiß, wie der kleine Junge hieß? Und wer vermag seinen Namen auch nur auszusprechen? Zu schrecklich ist die Bedeutung dessen, was der Name beinhalten mag, als dass jemals wieder ein lebender Mensch ihn aussprechen wird, ein Name, so verzweifelt anzusehen wie der letzte, verdorrte Baum eines sterbenden Waldes.
Dennoch war es ein Junge, etwa sieben Jahre alt, der an einem schwülen Sommerabend die weite Wiese hinter dem Anwesen seiner Großeltern rannte. Er war so gekleidet, wie man es für die untere Mittelklasse Europas in diesem Jahr erwarten konnte, ein strohblonder Strolch, dessen einziges ziel es war, zu Entdecken und Verbotenes zu tun. Mag ersteres sich im Laufe der Zeit zurückziehen wie Wasser bei Ebbe, dessen feuchte Spuren im Sand verdunsten, so bleibt Letzteres doch zur Zeit der Jugend ein ewiger Bestandteil des Seins, der nur allzu deutlich beweist, wie eigenwillig und sinnlos die Kreatur ist, der man einst den Namen Mensch verlieh.
Hinter dem Jungen waren vielleicht die Stimmen seiner Großeltern zu hören, die ihm verboten hatten, das kleine Waldstück zu betreten. Doch Siebenjährige lassen sich selten von den Stimmen irgendwelcher Erwachsenen leiten, das Kind verschwand im Wald, der die Stimmen der Großeltern verschluckte mit den Blättern und dem feuchten, verfluchten Land tief in seinem Inneren.
Keinen dichten Wald fand der Junge vor, sondern einen steinigen Berg, häufig bewachsen mit verwinkelten, kontroversen Bäumen, deren knochige Äste abschreckend in die Höhe ragten und zum Himmel zu flehen schienen, als wären sie einmal lebende, großartige Kreaturen gewesen, die mit dem Kommen der Menschen für immer gelähmt sein sollten.
Der Junge machte sich ein Vergnügen daraus, mit Steinchen nach Vögeln und anderem Kleingetier zu werfen, die es hier zuhauf zu geben schien. Nicht ein einziges Mal traf er, doch legte er einen ungewöhnlichen Eifer zutage, bis er davon besessen schien.
Sein Kopf wurde belebt von wilden Gedanken, und in seinem Geist blitzen Bilder auf von einem düstren Moor, in dem einzig drei verkrüppelte Bäume standen, über dem der Atem des Todes lag. Kein Leben hauste an diesem Ort, und den Menschen wäre er zum Tode geworden, eine Schnittstelle zweier Sphären, der lebenden und der toten, die nicht sein sollte auf dieser Welt. Weißliche, verformte Fratzen durchfuhren den dicken Nebel, Geister von gestorbenen Göttern, die letzten Gedanken einer ältesten Welt, die dahinfaulte wie ein Apfel.
Von ungezügeltem Geiste getrieben, mit vom Wahn geröteten Augen, trieb es den Jungen immer höher hinauf, den Berg zu erklimmen, an dessen Spitze er ein windschiefes Giebeldach gewahrte. Vielleicht durchfuhr ein wahnsinniges Feuer seine Gedanken und machte ihn glauben, Menschen zu sehen und Geister von gestorbenen Menschen, die umhergingen wie willenlos, deren Haut tot war und schwarz.
Die Sonne war untergegangen und die Nacht hatte ihre Schatten ausgeworfen, als er die Tür der Hütte erreichte. Vorsichtig öffnete er sie. Wie von Zauberhand glitt sie auf. Als der Junge den Raum betrat, schlug sie hinter ihm zu, und zum ersten Male gewahrte er das Geräusch des heulenden Windes hier oben und die Angst zerpresste sein kleines Kinderherz, weil er sich krampfhaft nach seinen Großeltern sehnte und dem Bett, das in unerreichbarer Ferne auf ihn wartete.
Doch plötzlich hörte er die Stimme eines alten Mannes, der bei Kerzenschein in einer Ecke des Raumes saß auf einem alten Stuhl, und sein ganzer Körper war überzogen von Staub, als hätte er sich seit Hunderten von Jahren nicht mehr erhoben, und seine Stimme klang eisern und kalt. Seine AUgen waren weiß und blind, dennoch war es dem kleinen Jungen, als sähe ihn der alte Mann, und sogar, als sähe der Alte weit mehr, als mit den Augen möglich war.
Der alte Mann sagte, dass er Jonas sei, der seit hundertfünfzig Jahren hier oben saß und auf Menschen wartete, Menschen, die das Tor zu durchschreiten gedächten.
Dann führte er den kleinen Jungen zu einer schmalen Tür, und als er sie öffnete, erstrahlte unbändiges Licht und Glockenstimmchen ertönten.
Der kleine Junge bat Jonas, ihn zu begleiten, doch der Alte schüttlete den Kopf. Noch viele andere sollten dem kleinen Jungen folgen, doch ohne den blinden Jonas fände keiner die Tür.
Der Junge ging, wurde empfangen von den goldenen Stimmen, die sich in kreischende Fratzen verwandelten und ihn mitrissen in die Tiefe, immer tiefer, und immer dämonischere Züge bekamen, bis es unförmige Teufel waren, die ihn sich nahmen, immer tiefer im Schlund der Hölle...

Die Leiche des Kindes wurde wenige Tage später in dem Moor gefunden, dass sich hinter dem Anwesen der Großeltern erstreckte, die Leiche des kleinen, ungehorsamen Jungen, der dem Schein der Jugend gefolgt war, der im Spiel den grausamen Tod hatte finden müssen.

Diese Geschichte gefiel dem Schriftsteller nicht. Ärgerlich trat er ans Fenster. Der Stoff war da, doch er fand nicht die Möglichkeit, sich auszudrücken. Irgendwo in seinem Kopf befand sich die richtige Geschichte. Doch dazu musste er sich in die unglaublichen Gefahren begeben, die den menschlichen Geist bewohnen.
Und während er seinen Enkeln zusah, die auf der weiten Wiese hinter dem Anwesen spielten, begann das Feuer des Wahnsinns hinter seinen Augen zu lodern, wie die Kerze, auf die man einige Tropfen ÖL gießt.
 



 
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