Favignana

Klaus K.

Mitglied
Sven Gorland aus Malmö war zurückgekehrt. Das Tragflächenboot brachte ihn in einer knappen halben Stunde von Trapani an der Westküste Siziliens nach Favignana, der Hauptinsel der drei Ägadischen Inseln. Die beiden anderen - Marettimo und Levanzo - waren außerhalb der Hochsaison nahezu unbewohnt, aber Favignana mit seiner gleichnamigen Hauptstadt hatte sich gemausert. Vor 34 Jahren war er bereits einmal hier gewesen, am Ende der Hippie-Ära hatte er mehrere Wochen als schwedischer “Poeta” - so nannten ihn damals die Bewohner - ein kleines Appartement bewohnt, Gedichte geschrieben, ausreichend italienisch gelernt und seine Gedanken ordnen können. Jetzt war die Wiederholung gekommen, aber die Zeit war auch nicht spurlos an diesem Flecken vorübergegangen. Es gab rund um die Piazza kleine Hotels, die Moderne hatte Einzug gehalten. Nur die Thunfischfabrik am Eingang zum Hafen stand noch da wie früher. Sie wurde einmal jährlich in Betrieb genommen, immer dann, wenn die “Mattanza” vorbei war. Mattanza, das war das grausame Abschlachten der in das Hafenbecken getriebenen Thunfische, denen dann mit einem immer enger gezogenen Netz der Weg in die Freiheit versperrt wurde, bis das Wasser durch das Hauen und Stechen der Fischer blutrot war. Tradition. Tradition zum ehemaligen Überleben der Bevölkerung und nicht vergleichbar mit dem spanischen Stierkampf.

Sven Gorland ging an Land und die wenigen Meter zu seiner im Voraus gebuchten Unterkunft. Bereits am selben Abend machte er Bekanntschaft mit einem sehr seriösen, gleichfalls älteren Herrn, der sich mit ihm den Tisch teilte. Man stellte sich gegenseitig vor, Salvatore Borgho war Geschichtsprofessor aus Bologna, hier auf Favignana geboren worden und besuchte seine Heimat jetzt erstmals wieder seit exakt 50 Jahren. Nur so, zur Erinnerung, aber er hatte bewusst gewartet, bis die 50 Jahre erreicht waren. “ Na, da kann ich mit meinen 34 Jahren Abwesenheit ja nicht mithalten…” meinte Sven Gorland.

“Das macht nichts - Hauptsache, wir sind beide zurückgekommen. Haben Sie Ihre Gedichte je veröffentlicht - also die, die Sie hier geschrieben haben?”

“Ich hatte es in Schweden versucht, allerdings ohne grossen Erfolg.Und dann bin ich in die Firma meines Vaters eingetreten und habe mich mit dem Bau und Vertrieb von Holzhäusern beschäftigt…das war einträglicher.”

“Und während Ihrer Zeit hier auf der Insel, was haben Sie alles so gemacht? Sie sagten vorhin, Sie hätten ja mehrere Wochen hier verbracht?”

“Gelesen, geschrieben, alles zu Fuss abgelaufen. Nur das Kastell oben auf dem Berg war damals noch geschlossen, gehörte wohl dem Militär. Diesen Besuch möchte ich jetzt unbedingt nachholen.”

“Hat man Ihnen damals nichts von der Geschichte mit den Franzosen erzählt?”

“Nein - was ist damit?“

“Verstehe…na, sie ist ja auch seltsam, man spricht hier wohl gegenüber Fremden - Sie verzeihen - nicht gerne darüber. Also…” - Professor Borgho hielt kurz inne - “ also, wie Sie wissen werden, hatte Napoleon bei seinem Ägypten-Feldzug seine Flotte vor Abukir ankern lassen. Das haben sich dann die Engländer unter Admiral Nelson zu Nutze gemacht und ihr gesamtes Mittelmeer-Geschwader dorthin beordert. Die französische Flotte wurde eingekreist und am 1.August 1798 sozusagen zermörsert.”

“Wie eine Mattanza?”

“Sehr guter Vergleich, genau so, es war ein Abschlachten, nur drei Fregatten gelang schwer beschädigt die Flucht. Und ein paar Tage später landete dann eine kleine Schaluppe hier auf Favignana. Das Boot war ebenfalls beschädigt, weil mehrfach getroffen worden, wurde aber wohl wegen “Geringfügigkeit” nicht weiter verfolgt. Neunzehn Franzosen, zum Teil schwer verwundet, retteten sich hier am 6. August abends gegen 21.00 Uhr an Land und zogen die Reste ihres vollgelaufenen Wracks auf den Strand. Sie kappten den Mast um Feuerholz zu haben und schleppten ihr Wasserfass und ihre wenigen Waffen ans Ufer. Das war gegen 22.00 Uhr.”

“Woher weiss man das alles?” fragte Sven Gorland.

“Damals lebten nur eine handvoll Bewohner hier auf der Insel. Fischer, arme Fischer mit ihren Familien. Die Landung der Franzosen war von Ihnen bemerkt worden. Einige Männer lagen dann sofort oben auf den Tuffsteinfelsen und beobachteten die kleine Bucht, in der die Ankömmlinge Feuer gemacht hatten. Man observierte die Fremden bis vier Uhr nachts, das Feuer brannte noch, aber man war sich sicher, dass im Moment keine Gefahr von ihnen ausgehen würde. Als) ging man ins Dorf zurück, um gemeinsam mit allen anderen zu beratschlagen. Nicht einmal eine Stunde später schickte man dann bereits wieder drei Beobachter zurück. Und ...” er hielt wieder inne “, stellen Sie sich vor, die Franzosen waren weg!”

“Wie bitte?”

“Ja, sie waren weg, alle neunzehn, auch die Verwundeten. Ihr Feuer brannte noch, Ihre Waffen lagen im Sand, das Wasserfass - es war alles noch da, auch die kümmerlichen Reste des Wracks lagen noch am Strand. Aber die Männer waren verschwunden! Man suchte alles ab, die ganze Insel wurde durchforstet, keine Spur, nichts.”

“Hat sie ein anderes Schiff aufgenommen?”

“Da war kein anderes Schiff. Bedenken Sie, es handelte sich um eine Stunde zwischen vier und fünf Uhr nachts, in der die Franzosen unbeobachtet waren. Ein größeres Schiff hätte allein mehrere Stunden zum Ankern und zum Aussetzen eines Beibootes gebraucht, die Bucht ist sehr flach und extrem felsig - und jedes andere Schiff wäre von den Beobachtern bereits Stunden früher gesehen worden. Und da bereits der Morgen graute, wäre auch ein abfahrendes Schiff deutlich zu sehen gewesen. Ganz zu schweigen von den zurückgelassenen Dingen am Strand. Nein - die Franzosen waren weg, ganz einfach weg.”

“Unglaublich! So etwas gibt es doch gar nicht…normalerweise jedenfalls nicht.”

“Sie haben ja Recht. Normalerweise gibt es so etwas nicht. Aber Parallelen zu diesem Vorfall gibt es in der Geschichte bis heute genug, und zwar verifizierte Ereignisse. Und Augenzeugenberichte! Nehmen Sie nur das Beispiel von der IX. römischen Legion im Jahre 118 nach Christus. Militärisch straff organisiert, 6000 Mann stark, wurde die Legio IX “Hispania” vom heutigen Südspanien aus nach Norden befehligt.

Römische Aufzeichnungen aus der Zeit Marc Aurels vermerken präzise 28 Legionen und berichten von der “unglücklichen Neunten”, die nie mehr gesehen wurde und sich ohne jegliche Kampfhandlungen in Luft aufgelöst hatte. Alle Nachforschungen des römischen Imperiums blieben erfolglos, und das, nachdem man mehr als hundert Jahre davor bereits profunde Erfahrungen mit der Varus-Schlacht und den sich daran anschließenden Recherchen gemacht hatte! Da gab es Überlebende, Geflohene, Augenzeugen. Und hier war nichts. Nicht ein Mann, ob Legionär oder Centurio, tauchte je wieder auf, wobei viele kurz vor ihrer Pensionierung standen und sich darauf freuen konnten, sowohl zu ihren Familien zurückzukommen als auch ihre Latifundien in Empfang nehmen zu können.

Selbst neueste archäologische Forschungen konnten nicht das geringste Relikt der Neunten ans Tageslicht bringen. Kein Schwert, kein Schild, kein Legions-Signum, kein Grabstein, keine Erinnerung an eine Schlacht - nichts. 6000 Soldaten, kampferprobt und bestens gerüstet, waren kurz nach ihrem Abmarsch einfach verschwunden. Restlos verschwunden, wohlgemerkt. Dies als Beispiel, das zugegeben fast zweitausend Jahre zurückliegt. Vielleicht deshalb noch ein weiteres, aus jüngerer Zeit, mit hunderten von Augenzeugen aus unterschiedlichen Lagern, militärisch präzise dokumentiert und gleichfalls bis heute unerklärlich. Während des ersten Weltkriegs befand sich das britische Norfolk-Regiment im Jahr 1915 auf dem so genannten Gallipoli-Feldzug in die Türkei. General Sir Hamilton hat über den folgenden mysteriösen Vorfall seinem Kriegsminister - Earl Kitchener - Meldung gemacht. Was war geschehen? Der kommandierende Oberst war mit 16 Offizieren und 250 Soldaten seines Bataillons, dem erwähnten Norfolk-Regiment, beim Vormarsch auf die türkischen Stellungen in eine sich auf dem Boden befindliche Wolke marschiert. Aus dieser Wolke tauchten die Männer nie wieder auf, die Wolke hob vom Boden ab. Beweise? Hunderte von türkischen Gegnern, die das Ereignis ebenfalls beobachtet hatten, es handelte sich schließlich um ihre Feinde! Dazu das ausführliche Protokoll des Neuseeländischen Expeditionskorps, den mit den Briten verbündeten Beobachtern, exakt dieses Ereignis beschreibend und unterschrieben von den verantwortlichen Offizieren. Die 267 Männer waren innerhalb von Minuten einfach vom Erdboden verschwunden und sind nie mehr aufgetaucht. Nicht ein Schuss ist dabei abgefeuert worden, und die Genauigkeit einer militärischen Meldung während des ersten Weltkriegs steht außerhalb jeglicher Diskussion.-

Ein letztes Beispiel aus jüngerer Zeit? Also dann Nummer drei: In den späten sechziger Jahren unternahm die Familie Martin aus den USA mit Freunden einen Sommerausflug in die Great Smoky Mountains. Mit dabei waren insgesamt sechs Erwachsene. Der siebenjährige Dennis Martin lief vor der Gruppe direkt neben seinem Vater, niemand verlor den Kleinen auch nur einen Moment aus den Augen. Trotzdem verschwand er plötzlich sozusagen aus dem Nichts, während er neben seinem Vater herlief! Er war einfach weg - sechs erwachsene Zeugen berichten unter Eid und unter Hinzuziehung aller Experten nach genauester Überprüfung des Vorfalls den exakten Hergang - es handelte sich um den Bruchteil einer einzigen Sekunde!

Sie sehen, da gibt und gab es bereits mögliche ähnliche Fälle in der Vergangenheit!”

“Unglaublich!”

“Ja, das muss man wohl sagen. Mit Ausnahme des letzten Beispiels - das weltweit enormes Aufsehen erregte - sind natürlich alle derartigen Vorkommnisse auch für einen Historiker von Interesse. Was ist, soll ich Ihnen morgen früh mal die Stelle zeigen, an der die Franzosen damals angelandet sind? Es ist eine kleine Bucht, nicht weit von hier…”

Neben dem erwähnten Thunfischfang war Favignana auch für seinen Tuffstein bekannt, der auf der Insel jahrelang abgebaut worden war. Riesige Gruben von mehreren hundert Metern Seitenlänge und enormer Tiefe zeugten noch vom Abbau des begehrten Materials und begannen bereits am Rande des Ortes. Da die Küste nirgendwo weit entfernt ist, hatte man am nächsten Morgen bald eine Stelle erreicht, an der der Tuffstein auch oberirdisch aus einem grossen Hügel entnommen worden war.

Die Hinterlassenschaft waren enorme Eingangsportale, die in das Innere führten. Bis zu fünf Meter hoch und oft mehr als zehn Meter breit waren diese künstlichen Höhlen mit ihren glatten, von Maschinen bearbeiteten Wänden. Die Tiefe liess sich nicht abschätzen, da es je nach Sonnenstand bereits nach wenigen Metern dunkel wurde.

“Na, haben Sie diese “Tuffstein-Kultur” damals auch schon besichtigt?” fragte Salvatore Borgho.

“Klar - ich erinnere mich genau - hier hat sich wohl nichts verändert!”

“Wollen wir mal hineingehen? Wir haben es dann nicht mehr weit, die Landungsstelle ist gleich dahinter!”

“Warum nicht? Es ist ja beeindruckend, in diesen - man möchte fast sagen - Hallen zu stehen. Es hat etwas Sakrales, finden Sie nicht?”

“Genau, das ist der richtige Ausdruck!”

Sie gingen durch den riesigen Eingang, die Sonnenstrahlen hinter ihnen sorgten für eine mehr als ausreichende Helligkeit.

“Es ist schon erstaunlich, wie exakt man hier gearbeitet hat. Und dann diese kleinen Nebenkammern, alles erinnert an eine überdimensionierte Wohnung, wenn nicht an einen Palast…”

Professor Borgho betrat einen nach rechts abzweigenden und durch das jetzt schräg einfallende Licht ebenfalls noch hell erleuchteten Raum. Sven Gorland stand noch im Eingangsportal und schaute an die hohe Decke über ihm.

“Was meinen Sie, wie hoch das hier ist?” Keine Antwort. “Professor Borgho?”

Er ging in den Nebenraum, den sein Begleiter soeben betreten hatte. Hell, glatter Boden, glatte Wände, glatte Decke. Der Raum war leer.
 



 
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