Feenkrieg 11

agilo

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„Gestatte, dass ich mich vorstelle“, sagte der junge Mann im Baum, „mein Name ist Erc, ich bin eine Halbfee.“
„Halbfee?“ Tara war verwirrt, „und aus was besteht denn deine andere Hälfte?“
„Eine gute Frage“, antwortete Erc und lächelte, „und eine, die gar nicht so einfach zu beantworten ist. Weißt du, was das Wesen einer Fee ausmacht?“
„Nach allem, was man sich in Dreieich erzählt, zeichnen sich Feen vor allem durch Bösartigkeit, Blutrünstigkeit, Arglist und Verschlagenheit aus. Allerdings war ich immer überzeugt gewesen, dass dies eher eine etwas einseitige Art der Beschreibung ist.“
Erc lachte auf.
„Gut gesagt! Ich kenne Feen, die ähnliche Bezeichnungen für die Menschen jenseits der Markberge finden. Aber im Grunde sind unsere beiden Völker gar nicht so verschieden, wie man vielleicht glauben mag.“
Er ging in die Hocke, ohne dass er aus dem Gleichgewicht kam oder der dünne Ast, auf dem er stand, brach. Tara, die Dreieich nie zuvor verlassen hatte, kannte die Gaukler und Artisten, die in den größeren Städten Nauthias auftraten, zwar nur vom Hörensagen, aber sie war sich sicher, dass dieser merkwürdige Halbfeenmann mit seiner Balancenummer auf den Jahrmärkten einen großen Erfolg haben würde.
„Das Geheimnis liegt in der Luft“, er machte eine weit ausholende, umständliche und auch ein wenig theatralische Geste, mit der er alles, was sich oberhalb des Erdbodens befand, umschrieb, „die Luft des Feenlandes. Spürst du es denn nicht?“
Tara wusste nicht so recht, was es da zu erspüren galt oder welche Sinne sie dazu zu verwenden hatte.
Sie sah sich um.
Lauschte.
Schnupperte zuletzt ein wenig.
Nichts!
Nur gewöhnliche Waldluft, ganz wie sie sie aus Nauthia kannte, der einzige Unterschied bestand aus der völligen Abwesenheit des nicht unwesentlichen Geruchs von Ziegen, von dem das Mädchen normalerweise umgeben war.
“Was ist denn so besonderes an dieser Luft?“, fragte sie.
„Sie ist voller Magie!“, antwortete der Halbfeenmann.
„Aha.“
Tara hatte keine Ahnung, wie man das erkennen konnte.
„Deswegen halten sich alle Feen in der Luft auf“, fuhr der Grüngewandete fort, „sie werden ganz und gar von Magie durchdrungen, sind selbst magische Wesen. Und nie berühren sie den Erdboden!“
„Du berührst ebenfalls nicht den Erdboden“, stellte Tara fest, „man kann aber auch nicht sagen, dass du dich in der Luft aufhältst. Bist du aus diesem Grunde eine Halbfee?“
Erc lachte.
„Du hast eine rasche Auffassungsgabe“, sagte er, „das wird sicherlich hilfreich sein bei der Aufgabe, die du zu erfüllen hast. Aber du hast natürlich recht: Ich bin eine Halbfee, weil ich weder in der Luft noch auf der Erde lebe.“
Er erhob sich aus der Hocke, sprang leichtfüßig von dem dünnen Ast, auf dem er stand, zu einem tiefer hängenden, noch dünneren. Dieser verbog sich, als Erc darauf landete, gerade soweit, wie er es gemacht hätte, hätte sich dort ein Sperling niedergelassen. Wieder so ein Akrobatenkunststück!
„Und wie wird man dazu?“, fragte Tara, „zu einer Halbfee, meine ich.“
Das Lächeln verschwand für einen Moment aus seinem Gesicht, eine leichte Röte stieg in seine Wangen.
„Das ist eine Geschichte“, sagte er, „die ich dir ein anderes mal erzählen werde.“
Ein etwas nervös wirkender Blick glitt über die um den Eichenbaum versammelte Geflügelte Schwadron. Ganz offensichtlich war es ihm unangenehm, über die Ursachen seiner Existenz in Gegenwart dieser Wesen zu reden.
Erc hüstelte. Dann erhob er sich, immer noch auf dem dünnen Ast stehend, zu seiner ganzen Größe, ohne dass er auf irgendeine Weise mit seinem Gleichgewicht kämpfen musste.
„Leutnant Funkenhuf?“, seine Stimme nahm einen ernsten, irgendwie offiziellen Ton an, ganz so bei Coldar, wenn er mit den Steuerbeamten von Kostyra sprach, nur natürlich etwas weniger klagend, „Mitglieder der Geflügelten Schwadron?“
Die Angesprochenen nahmen eine militärische Haltung ein – zumindest soweit das Wesen wie geflügelten Affen oder einer goldenen Gans überhaupt möglich war.
„Ich übermittle Grüße von der Wolkenstadt und ich danke Euch im Namen der Schwebenden Königin für Euren mutigen und selbstlosen Einsatz!“
Er sah sich um.
„Ich hoffe, es gab keine Verluste?“, fragte er, nun etwas unsicherer.
„Ich muss leider melden“, sagte Leutnant Funkenhuf, „dass es der Gefreite Pfeilzahn nicht geschafft hat.“
Der Halbfeenmann senkte den Blick.
„Das ist ... traurig“, sagte er leise, „wie ist das geschehen?“
„Nun, er wurde – gefressen.“
Wieder hing der Tod ihres Kameraden wie eine dunkle Wolke über dieser Versammlung von Fabelwesen.
„Furchtbar“, flüsterte Erc.
Dann hob er seinen Kopf.
„Doch so grausam, wie das ist: Wir befinden uns im Krieg! Und der Tod ist ein Teil des Krieges. Es durchaus möglich, dass ihr ihm noch häufiger begegnen werdet. Ihr habt das gewusst, als ihr euch freiwillig gemeldet habt. Es gilt also, Mut zu beweisen!“
Die Worte mochten überzeugt klingen, in seinem Gesicht konnte Tara allerdings erkennen, dass er ebenso bestürzt war wie die Mitglieder der Geflügelten Schwadron. Aber auch, wenn Tara dieses Entsetzen um sie herum verstehen konnte – es ist schließlich ein besonders grausames Erlebnis, wenn ein Kamerad aufgefressen wurde - , so fand sie die Hilflosigkeit, mit der diese Geschöpfe dem Tod begegneten, doch ein wenig merkwürdig. Was hatte Leutnant Funkenhuf gesagt, kurz, bevor sie sich vor dem Soldaten verstecken mussten? „Der Tod ist im Feenland ein selten gesehener Gast.“
Waren diese Wesen etwa – unsterblich?
„Und nun“, sagte Erc an Tara gewandt, nachdem er seine kurze Ansprache beendet hatte, „Ist es Zeit für dich, Abschied zu nehmen.“
„Abschied?“
„Die Geflügelte Schwadron hatte den Auftrag, dich hierher zu bringen. Von nun an bin ich dein Begleiter.“
Tara drehte sich halb um und betrachtete die kleine Gruppe so unterschiedlicher geflügelter Wesen, die immer noch bemüht zu sein schien, in einer halbwegs militärisch wirkenden Ordnung Aufstellung zu nehmen. Sie alle blickten das Mädchen und die Halbfee aufmerksam an.
Dann wandte sie sich wieder an Erc.
„Warum können Tarasque und der Leutnant und die anderen nicht mitkommen?“
„Es wäre viel zu gefährlich für sie. Du hast den Grenzwächter gesehen. Und es gibt noch ganz andere, viel schrecklichere Kreaturen in den Himmeln, je weiter du in das Reich des Orcus eindringst.“
„Sie könnten sich doch verstecken! So wie eben!“
„Aber sie können es nicht dauerhaft“, er senkte die Lautstärke seiner Stimme, so dass nur Tara, die dem Eichenbaum am nächsten stand, ihn verstehen konnte.
„Mach es ihnen nicht so schwer. Ich glaube, alle Mitglieder der Geflügelten Schwadron wären bereit, dich zu begleiten, wohin du auch gehst. Aber sie können nicht dauerhaft auf dem Erdboden bleiben. Das wäre ihr Tod!“
„Das verstehe ich nicht.“
„Sie sind alle Geschöpfe der Magie. Deswegen sind sie auch - im Gegensatz zu den Feen - in der Lage, auf dem Boden zu landen. Du musst verstehen: Magie ist im Feenland wie ein unsichtbarer Nebel, der uns ständig und überall umgibt. Berührt sie aber den Erdboden, so versickert sie darin wie der Sommerregen auf einem ausgetrockneten Flussbett. Wenn eine Fee, die ihre Zauberkraft aus der Luft zieht, zu tief gerät und den Boden berührt, verliert sie diese auf der Stelle. Sie wird nie wieder fliegen können, denn es ist nur die Magie, die ihr diese Fähigkeit verleiht! Sie wird zu einem Wesen werden, das mehr einem Menschen gleicht als all dem, was sie bisher ausgemacht hatte. Die Drachen dagegen, die Pegasoi, die fliegenden Fische, goldenen Gänse und alle anderen Wesen, die in der Geflügelten Schwadron vertreten sind, sind vom Anfang ihrer Existenz an von Magie durchdrungen, genau genommen sind sie sogar ein Teil von ihr. Deswegen verlieren sie ihre Zauberkraft nicht sofort, wenn sie auf dem Boden landen. Und anders als die Feen können sie von dort auch wieder aufsteigen, denn im Gegensatz zu diesen besitzen sie Flügel. Und sie können sich auch außerhalb des Feenlandes aufhalten, einen begrenzten Zeitraum zwar nur, aber dies, ohne Schaden zu nehmen, weswegen sie auch den Auftrag erhalten hatten, dich im Menschenreich abzuholen. Doch auch sie können sich nicht dauerhaft auf dem Boden aufhalten. Es ist für sie wohl so ähnlich wie das, was Menschen als Krankheit bezeichnen. Es geht ihnen schlecht, sie siechen dahin und letztlich laufen sie sogar Gefahr, zu sterben. Es ist also besser, du verabschiedest dich nun von ihnen.“
„Und was geschieht dann?“
Der Halbfeenmann deutete in den Wald hinein.
„Dann gehen wir beide zum Hohlen Berg, der Feste von Orcus, dem Grauen. Er allerdings wird uns begleiten.“
Er deutete auf einen kleinen, braunen Vogel, der direkt neben ihm auf dem Ast saß, jenem unscheinbaren Tier, welches ihr schon vor dem Flug auf der Gefreiten Tarasque einfach mit seinem fröhlichen Gesang Mut gemacht hatte.
Tara drehte sich um.
Sie sah Leutnant Funkenhuf an, die Gefreite Tarasque und die anderen Geschöpfe, die sie auf den Weg in das Feenreich begleitet hatten.
Es war schon merkwürdig. Sie hatte diese Wesen erst vor wenigen Stunden kennen gelernt und sie waren ihr zunächst sehr unheimlich erschienen, aber mittlerweile empfand sie ihnen gegenüber ein Gefühl der Verbundenheit, wie sie es bei den meisten Menschen in Dreieich nie gespürt hatte.
„Achtung!“ rief der Pegasos in militärischem Ton.
Die Geflügelte Schwadron stand – ein jeder natürlich auf seine ganz eigentümliche Weise – stramm. Sie bemühten sich alle um einen ernsten, der Situation angemessenen Blick und hätte Leutnant Funkenhuf Arme und Hände gehabt, sie war sich sicher, er hätte in diesem Moment salutiert.
„Also …“, begann sie. Weiter wusste sie nicht.
Am liebsten würde sie den kleinen Pegasos zum Abschied über das Fell streicheln. Aber vermutlich war das bei dem Leutnant einer Schwadron nicht angemessen, zumal seine Untergebenen alle hinter ihm standen.
Auch der Pegasos sprach kein Wort, wieherte nur leise und ein wenig unsicher, senkte seinen Kopf und schien sich plötzlich ausgiebig mit der Betrachtung seiner Vorderhufe beschäftigen zu wollen.
Dann löste sich Tarasque aus der Reihe und trat an das Mädchen heran.
„Wir werden uns bald wiedersehen“, sagte sie, „du gehst jetzt zum Hohlen Berg und zeigst es diesem Orcus! Und dann werden wir uns wiedertreffen, in der Wolkenstadt bei der Schwebenden Königin oder auch irgendwo anders und wir werden wieder gemeinsam fliegen, und zwar ohne dass Greifen oder andere Ungeheuer hinter uns her sind.“
Die Drachin sah das Mädchen mit ihren großen, blassen Reptilienaugen an, in denen nichtsdestotrotz soviel Wärme lag, wie sie nur ein Wesen ausstrahlen konnte, das solche Dinge wie Freundschaft und Liebe nur zu gut kannte. Es schien Tara sogar, als schimmerte eine kleine Träne in einem kleinen Winkel ihres rechten Auges.
„Und bis dahin lebe wohl. Und möge dich der Wind an den Ort deiner Wünsche tragen!“
Abrupt drehte sich Tarasque ab und schloss wieder die Reihe ihrer geflügelten Kameraden auf. Nun sah auch der Leutnant Funkenhuf wieder hoch.
„Bis bald“, sagte er, „und lass dir nicht alles gefallen von diesen Feen. Du bist immerhin mit der Geflügelten Schwadron geflogen!“
Er wieherte laut und – wie Tara fand – so herzlich, als würde er lachen. Auch die anderen Wesen ließen nun ihre Stimmen erklingen und es gab ein lautes, sicherlich nicht für jedes Ohr angenehm klingendes Konzert aus Quaken, Schnattern, Tröten und Wiehern.
Dann warf Leutnant Funkenhuf den Kopf in die Luft.
„Achtung!“, rief er und eine plötzliche Stille trat ein.
„Kameraden der Geflügelten Schwadron! Abflug!“
Und einer nach dem anderen erhob sich in die Luft, zuletzt Tarasque und Tara hatte den Eindruck, als würde ihr die Drachin, kurz bevor sie fast senkrecht in die Luft schoss, zublinzeln.
Was hatte sie vorhin zum Abschied gesagt? Möge dich der Wind an den Ort deiner Wünsche tragen. Vermutlich so etwas wie ein traditioneller Drachengruß. Doch Tara fragte sich, wo dieser Ort lag. In Dreieich hatte sie sich immer wie eine Fremde gefühlt, war auch oft genug wie eine solche behandelt worden. Sie hatte immer gewusst, dass das Dorf ein Ort war, an dem sie eigentlich nicht sein sollte und es im Grunde auch nicht wollte. Und oft genug hatte sie den Wunsch gehabt, woanders zu sein. Doch wohin hatte sie sich geträumt in solchen Momenten? War es ein Land wie dieses hier, ein Land, in dem Wesen lebten, von denen sie bisher geglaubt hatte, es gäbe sie nur als Gestalten uralter Märchen, ein Land, in dem Magie in der Luft lag und eine schwebende Königin in einer Wolkenstadt herrschte? War dies der Ort ihrer Wünsche? Sie wusste es nicht. Aber sie war sich sicher, sie würde es herausfinden. Auch wenn das bedeutete, gegen fliegende Feensoldaten und weiß der Himmel welche fürchterlichen Geschöpfe noch antreten zu müssen.
Sie drehte sich um und blickte Erc an.
„Dann lass uns zu diesem Orcus gehen und ihm zeigen, was es bedeutet, sich mit Tara, Tochter der Valdana und Enkelin der Malfalda anzulegen!“
 



 
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