„Ist das Ziegenkäse?“ fragte der große, mächtige Wolf und betrachtete neugierig das Bündel in Josts Händen.
„Äh ... ja“, antwortete dieser zögernd und mit trockenem Mund. Er räusperte sich so leise und unauffällig, wie es eben möglich war, „Ähem ... möchtest du ein Stück?“
„Oh, ich wäre nicht abgeneigt, ein wenig davon zu kosten. Ich möchte dir aber nichts wegnehmen.“
„Das ist gar kein Problem“, gab Jost hastig zurück, „ich habe ohnehin kaum Hunger.“
Und es ist mir lieber, du kostest von meinem Käse als von mir, fügte er in Gedanken hinzu.
Er schnitt ein großes Stück ab und legte es vorsichtig neben sich auf den Boden.
Der Wolf kam mit langsamen, aber kraftvollen Schritten näher. Dann senkte er den Kopf und schnupperte an dem Käse.
„Oh, welch ein Aroma!“, sagte er, wobei eine fast sinnliche Begeisterung in dieser merkwürdig jugendlich-weiblichen Stimme lag, „dieser Käse ist mit Gartenkräutern gewürzt. Ich rieche Beifuß, wilden Dorst und Königskraut. Das kann nur ein Käse von Malfalda sein!“
Mit einem einzigen Happs verschwand das Käsestück in dem riesigen Wolfsmaul.
„Mmh ... lecker.“
„Du kennst Malfalda?“, fragte Jost.
Ein merkwürdiger Gedanke kam ihm.
„Bist du etwa – Odelia?“
„Natürlich“, gab die Wölfin zurück, „und du musst demnach Jost sein.“
Das sah Malfalda gleich. Ließ ihn in den Wald ziehen, ohne auch nur ein Wort darüber zu verlieren, dass jene Odelia, mit der er sich treffen sollte, eine riesige Bestie mit Höllenaugen und Zähnen wie Dolchen war.
Und es war auch nicht weiter beruhigend, dass diese Wölfin der Sprache mächtig war. Denn soweit er sich an die Geschichten und Sagen aus Coldars Büchern erinnern konnte, neigte gerade diese Unterart im Allgemeinen dazu, Menschen zunächst mit viel harmlosen Gerede in einen Hinterhalt zu locken, nur um sie dort genüsslich zu verspeisen – und zwar zumeist mit Haut und Haar!
Bei einem einfachen, nicht sprechenden Wolf wusste man doch dagegen gleich, woran man war.
„Und – entschuldige, wenn ich dir mit der Frage vielleicht ein wenig zu nahe trete – was bist du?“
Die Wölfin ließ ein glockenhelles, etwas schüchtern klingendes Kichern vernehmen, das so gar nicht zu ihrem äußeren Erscheinungsbild zu passen schien.
„Du hast doch sicher schon einmal von Werwölfen gehört?“, fragte sie.
Natürlich hatte er das! Menschen, die sich in Vollmondnächten in blutrünstige Bestien verwandeln, die alles, was ihnen über den Weg läuft, bis zur Unkenntlichkeit zerfleischen! Er hatte Illustrationen gesehen, die ihn schlaflose Nächte bereitet hatten.
„Äh ... ja.“
Sie schob ihren mächtigen Kopf näher an Jost heran. Im Licht der nachmittäglichen Sonne blitzten die Zähne wie geschliffene Diamanten und Jost hatte keine Zweifel, dass sie ebenso hart waren.
„Nun“, sagte Odelia, „ich bin ein Wermensch.“
Wermensch? Davon hatte er noch nie etwas gehört.
Sie schien ihm anzusehen, dass er etwas verwirrt war.
„Ich erkläre dir das später“, sagte sie, „zunächst möchte ich, dass du mich zu mir nach Hause begleitest. Wir haben noch eine Weile zu gehen bis dahin und ich möchte gerne zuhause sein, bevor es dunkel wird.“
„Äh ... ja, natürlich, das verstehe ich. Es ist immer gut, bei Anbruch der Dunkelheit zu Hause zu sein.“
Was redete er da nur für einen Unsinn? Es gab sicher nichts, was dieser gewaltige Wolf in diesem Wald zu befürchten hatte, egal ob am Tag oder in der Nacht. Vermutlich war es doch eher anders herum und alles hier verkroch sich in die Löcher, wenn Odelia auftauchte.
Die Wölfin trottete los bis an das nördliche Ende der die alte Silberweide umgebenden Lichtung. Dort betrat sie einen schmalen Trampelpfad, drehte sich noch einmal auffordernd nach Jost um und tauchte dann in die schattige Dunkelheit des Waldes. Ihm blieb nichts anderes übrig, als ihr zu folgen.
Der Weg wand sich stetig bergaufwärts und obwohl Jost – der jeden Tag stundenlang in den Wäldern innerhalb der erlaubten Grenzen von Dreieich unterwegs gewesen war – sicherlich ein ausdauernder Wanderer war, kam er doch gelegentlich ins Keuchen. Das lag vor allem daran, dass Odelia gar nicht auf die Idee zu kommen schien, dass ein hochgewachsener, schlaksiger Bursche, der sich obendrein noch mit einem schweren und viel zu sperrigen Rucksack abzumühen hatte, auf einem schmalen, dicht bewachsenen Wildwechsel nicht so schnell vorwärts kommen würde wie sie selbst. Immer wieder musste sie deswegen stehen bleiben und auf ihn warten. Doch mit der Zeit wurde die Vegetation lichter, die Bäume kleiner und schwächlicher, was das Fortkommen erheblich erleichterte. Und irgendwann öffnete sich der Wald und es gab es nur noch Geröll und Felsen, zwischen denen nur einige dürre, in Büscheln wachsenden Gräser, Flechten sowie kleine blaue Wildblumen ihr spärliches Auskommen hatten.
Die Sonne stand nun schon sehr flach und obgleich er doch den ganzen Tag in sommerlicher Hitze gewandert war, spürte er plötzlich eine so kühle Brise, dass ihm Schauder den Rücken hinunterliefen. Obwohl ihm die Wölfin bereits wieder gut fünfzig Schritte voraus war – was ihm ohnehin lieber war als sie in seiner direkten Nähe zu wissen -, blieb er kurz stehen, um durchzuatmen. Er drehte sich um, wollte auf den Weg zurückblicken – und erstarrte. Darauf war er nicht vorbereitet gewesen!
Jost war ein normaler nauthianischer Junge. Aufgewachsen in einem Dorf, dass sich gerade so viel von den umgebenden riesigen Wäldern abzwackte, wie es für seine wenigen Felder und Weiden brauchte. „Weite“ war ein Begriff, der in Orten wie Dreeieich nur sehr selten Verwendung fand. Empfindliche Nauthianer bekamen schon Anflüge von Platzangst, wenn sie in ihrem von Hollunderbüschen umgebenen Kräutergärtchen zu tun hatten.
Jost dagegen hatte nun das ganze Land vor sich! Die gesamten Wälder Nauthias breiteten sich unter ihm aus, südlich von ihm in nun schon einiger Entfernung wie ein Riese unter Zwergen hervorstechend die alte Silberweide und weit dahinter, im abendlichen Dunst verschwimmend, das glitzernde Band des Taron, wie es sich in die Ebenen Kostyras hinein wand.
Er konnte nichts anderes machen als einfach nur dazustehen und zu starren. Er hatte sich viele Dinge ausgemalt, die er auf seiner Reise sehen und erleben würde – und im Ausmalen war Jost wirklich gut -, aber auf den schlichten Gedanken, dass es auch Orte in der Welt geben musste, bei denen die Aussicht nicht schon nach höchstens dreißig Schritten von hohen Bäumen begrenzt war, war er überhaupt nicht gekommen.
„Was ist denn los mit dir?“, fragte die Wölfin.
Jost zuckte zusammen. Er hatte für einen Augenblick ganz vergessen, mit wem und - vor allem - mit was er unterwegs war. Odelia war wohl einige Schritte zurück getrottet, als sie bemerkt hatte, dass Jost absolut keine Anstalten machte, ihr zu folgen.
„Ich ... hab so etwas noch nie gesehen“, antwortete er.
„Was meinst du?“, Odelia war irritiert, „Die Felsen hier? Das sind eigentlich ganz normale Steine. Kalk, soviel ich weiß.“
„Nein, ich meine ...“, er deutete mit weit ausholender Geste vor sich, „... ich meine das alles hier.“
„Ach so“, sie lachte, „die Aussicht! Du warst ja noch nie in den Bergen. Das hatte ich ganz vergessen. Ihr nauthianischen Menschen kommt ja im Allgemeinen nicht sehr viel herum. Aber wie ich bereits gesagt habe: Ich muss vor Einbruch der Dunkelheit zuhause sein. Also folge mir. Es ist nicht mehr weit!“
Es fiel ihm schwer, sich von diesem grandiosen Ausblick zu lösen. Aber einem Wesen, das erheblich mehr und größere Zähne hatte als alles, was er bisher gesehen hatte, sollte man nicht unnötig warten lassen.
Der Weg war tatsächlich nicht mehr weit. Sie erreichten bald eine helle, glatte, fast senkrechte Felswand, die nun in der frühabendlichen Sonne golden schimmerte. An ihrem Fuße entdeckte er zwei dürre Büsche, auf denen einige verkümmert wirkende rosafarbene Blüten wuchsen. Er war sich nicht ganz sicher, aber er glaubte, dass er jene Pflanzen aus Dreieich kannte. Die Leute hatten sie in kleinen Kästen auf den Fensterbrettern und sie hießen – soweit er sich erinnern konnte – Petunien. Zwischen diesen Büschen wies ein etwa hüfthohes, dunkles Loch auf den Eingang einer Höhle hin. Odelia lief direkt darauf zu.
„Das also“, ihre Stimme klang erneut ein wenig schüchtern, fast unsicher, „ist mein Zuhause. Komm ruhig herein. Aber du musst entschuldigen: Es ist nicht sehr aufgeräumt.“
„Oh, das... das ist kein Problem“, stotterte Jost.
Wenn man sich in eine Wolfshöhle begab, war die geringste Sorge die, dass es dort möglicherweise ein wenig staubig war oder vielleicht die Überreste der letzten Mahlzeit herumlagen.
Jost machte sich eher Gedanken darüber, ob er selbst wohl die nächste sein würde.
Und dennoch – irgendwas lag in der Stimme dieser Bestie, was ihm sagte, dass er nicht in Gefahr war. Es war nur eine Ahnung und eigentlich hatte er sich bisher noch nie auf irgendwelche Ahnungen verlassen, aber er schnallte seinen Rucksack ab, ging in die Knie und kroch hinter der Wölfin her direkt in das Dunkel ihrer Höhle.
„Äh ... ja“, antwortete dieser zögernd und mit trockenem Mund. Er räusperte sich so leise und unauffällig, wie es eben möglich war, „Ähem ... möchtest du ein Stück?“
„Oh, ich wäre nicht abgeneigt, ein wenig davon zu kosten. Ich möchte dir aber nichts wegnehmen.“
„Das ist gar kein Problem“, gab Jost hastig zurück, „ich habe ohnehin kaum Hunger.“
Und es ist mir lieber, du kostest von meinem Käse als von mir, fügte er in Gedanken hinzu.
Er schnitt ein großes Stück ab und legte es vorsichtig neben sich auf den Boden.
Der Wolf kam mit langsamen, aber kraftvollen Schritten näher. Dann senkte er den Kopf und schnupperte an dem Käse.
„Oh, welch ein Aroma!“, sagte er, wobei eine fast sinnliche Begeisterung in dieser merkwürdig jugendlich-weiblichen Stimme lag, „dieser Käse ist mit Gartenkräutern gewürzt. Ich rieche Beifuß, wilden Dorst und Königskraut. Das kann nur ein Käse von Malfalda sein!“
Mit einem einzigen Happs verschwand das Käsestück in dem riesigen Wolfsmaul.
„Mmh ... lecker.“
„Du kennst Malfalda?“, fragte Jost.
Ein merkwürdiger Gedanke kam ihm.
„Bist du etwa – Odelia?“
„Natürlich“, gab die Wölfin zurück, „und du musst demnach Jost sein.“
Das sah Malfalda gleich. Ließ ihn in den Wald ziehen, ohne auch nur ein Wort darüber zu verlieren, dass jene Odelia, mit der er sich treffen sollte, eine riesige Bestie mit Höllenaugen und Zähnen wie Dolchen war.
Und es war auch nicht weiter beruhigend, dass diese Wölfin der Sprache mächtig war. Denn soweit er sich an die Geschichten und Sagen aus Coldars Büchern erinnern konnte, neigte gerade diese Unterart im Allgemeinen dazu, Menschen zunächst mit viel harmlosen Gerede in einen Hinterhalt zu locken, nur um sie dort genüsslich zu verspeisen – und zwar zumeist mit Haut und Haar!
Bei einem einfachen, nicht sprechenden Wolf wusste man doch dagegen gleich, woran man war.
„Und – entschuldige, wenn ich dir mit der Frage vielleicht ein wenig zu nahe trete – was bist du?“
Die Wölfin ließ ein glockenhelles, etwas schüchtern klingendes Kichern vernehmen, das so gar nicht zu ihrem äußeren Erscheinungsbild zu passen schien.
„Du hast doch sicher schon einmal von Werwölfen gehört?“, fragte sie.
Natürlich hatte er das! Menschen, die sich in Vollmondnächten in blutrünstige Bestien verwandeln, die alles, was ihnen über den Weg läuft, bis zur Unkenntlichkeit zerfleischen! Er hatte Illustrationen gesehen, die ihn schlaflose Nächte bereitet hatten.
„Äh ... ja.“
Sie schob ihren mächtigen Kopf näher an Jost heran. Im Licht der nachmittäglichen Sonne blitzten die Zähne wie geschliffene Diamanten und Jost hatte keine Zweifel, dass sie ebenso hart waren.
„Nun“, sagte Odelia, „ich bin ein Wermensch.“
Wermensch? Davon hatte er noch nie etwas gehört.
Sie schien ihm anzusehen, dass er etwas verwirrt war.
„Ich erkläre dir das später“, sagte sie, „zunächst möchte ich, dass du mich zu mir nach Hause begleitest. Wir haben noch eine Weile zu gehen bis dahin und ich möchte gerne zuhause sein, bevor es dunkel wird.“
„Äh ... ja, natürlich, das verstehe ich. Es ist immer gut, bei Anbruch der Dunkelheit zu Hause zu sein.“
Was redete er da nur für einen Unsinn? Es gab sicher nichts, was dieser gewaltige Wolf in diesem Wald zu befürchten hatte, egal ob am Tag oder in der Nacht. Vermutlich war es doch eher anders herum und alles hier verkroch sich in die Löcher, wenn Odelia auftauchte.
Die Wölfin trottete los bis an das nördliche Ende der die alte Silberweide umgebenden Lichtung. Dort betrat sie einen schmalen Trampelpfad, drehte sich noch einmal auffordernd nach Jost um und tauchte dann in die schattige Dunkelheit des Waldes. Ihm blieb nichts anderes übrig, als ihr zu folgen.
Der Weg wand sich stetig bergaufwärts und obwohl Jost – der jeden Tag stundenlang in den Wäldern innerhalb der erlaubten Grenzen von Dreieich unterwegs gewesen war – sicherlich ein ausdauernder Wanderer war, kam er doch gelegentlich ins Keuchen. Das lag vor allem daran, dass Odelia gar nicht auf die Idee zu kommen schien, dass ein hochgewachsener, schlaksiger Bursche, der sich obendrein noch mit einem schweren und viel zu sperrigen Rucksack abzumühen hatte, auf einem schmalen, dicht bewachsenen Wildwechsel nicht so schnell vorwärts kommen würde wie sie selbst. Immer wieder musste sie deswegen stehen bleiben und auf ihn warten. Doch mit der Zeit wurde die Vegetation lichter, die Bäume kleiner und schwächlicher, was das Fortkommen erheblich erleichterte. Und irgendwann öffnete sich der Wald und es gab es nur noch Geröll und Felsen, zwischen denen nur einige dürre, in Büscheln wachsenden Gräser, Flechten sowie kleine blaue Wildblumen ihr spärliches Auskommen hatten.
Die Sonne stand nun schon sehr flach und obgleich er doch den ganzen Tag in sommerlicher Hitze gewandert war, spürte er plötzlich eine so kühle Brise, dass ihm Schauder den Rücken hinunterliefen. Obwohl ihm die Wölfin bereits wieder gut fünfzig Schritte voraus war – was ihm ohnehin lieber war als sie in seiner direkten Nähe zu wissen -, blieb er kurz stehen, um durchzuatmen. Er drehte sich um, wollte auf den Weg zurückblicken – und erstarrte. Darauf war er nicht vorbereitet gewesen!
Jost war ein normaler nauthianischer Junge. Aufgewachsen in einem Dorf, dass sich gerade so viel von den umgebenden riesigen Wäldern abzwackte, wie es für seine wenigen Felder und Weiden brauchte. „Weite“ war ein Begriff, der in Orten wie Dreeieich nur sehr selten Verwendung fand. Empfindliche Nauthianer bekamen schon Anflüge von Platzangst, wenn sie in ihrem von Hollunderbüschen umgebenen Kräutergärtchen zu tun hatten.
Jost dagegen hatte nun das ganze Land vor sich! Die gesamten Wälder Nauthias breiteten sich unter ihm aus, südlich von ihm in nun schon einiger Entfernung wie ein Riese unter Zwergen hervorstechend die alte Silberweide und weit dahinter, im abendlichen Dunst verschwimmend, das glitzernde Band des Taron, wie es sich in die Ebenen Kostyras hinein wand.
Er konnte nichts anderes machen als einfach nur dazustehen und zu starren. Er hatte sich viele Dinge ausgemalt, die er auf seiner Reise sehen und erleben würde – und im Ausmalen war Jost wirklich gut -, aber auf den schlichten Gedanken, dass es auch Orte in der Welt geben musste, bei denen die Aussicht nicht schon nach höchstens dreißig Schritten von hohen Bäumen begrenzt war, war er überhaupt nicht gekommen.
„Was ist denn los mit dir?“, fragte die Wölfin.
Jost zuckte zusammen. Er hatte für einen Augenblick ganz vergessen, mit wem und - vor allem - mit was er unterwegs war. Odelia war wohl einige Schritte zurück getrottet, als sie bemerkt hatte, dass Jost absolut keine Anstalten machte, ihr zu folgen.
„Ich ... hab so etwas noch nie gesehen“, antwortete er.
„Was meinst du?“, Odelia war irritiert, „Die Felsen hier? Das sind eigentlich ganz normale Steine. Kalk, soviel ich weiß.“
„Nein, ich meine ...“, er deutete mit weit ausholender Geste vor sich, „... ich meine das alles hier.“
„Ach so“, sie lachte, „die Aussicht! Du warst ja noch nie in den Bergen. Das hatte ich ganz vergessen. Ihr nauthianischen Menschen kommt ja im Allgemeinen nicht sehr viel herum. Aber wie ich bereits gesagt habe: Ich muss vor Einbruch der Dunkelheit zuhause sein. Also folge mir. Es ist nicht mehr weit!“
Es fiel ihm schwer, sich von diesem grandiosen Ausblick zu lösen. Aber einem Wesen, das erheblich mehr und größere Zähne hatte als alles, was er bisher gesehen hatte, sollte man nicht unnötig warten lassen.
Der Weg war tatsächlich nicht mehr weit. Sie erreichten bald eine helle, glatte, fast senkrechte Felswand, die nun in der frühabendlichen Sonne golden schimmerte. An ihrem Fuße entdeckte er zwei dürre Büsche, auf denen einige verkümmert wirkende rosafarbene Blüten wuchsen. Er war sich nicht ganz sicher, aber er glaubte, dass er jene Pflanzen aus Dreieich kannte. Die Leute hatten sie in kleinen Kästen auf den Fensterbrettern und sie hießen – soweit er sich erinnern konnte – Petunien. Zwischen diesen Büschen wies ein etwa hüfthohes, dunkles Loch auf den Eingang einer Höhle hin. Odelia lief direkt darauf zu.
„Das also“, ihre Stimme klang erneut ein wenig schüchtern, fast unsicher, „ist mein Zuhause. Komm ruhig herein. Aber du musst entschuldigen: Es ist nicht sehr aufgeräumt.“
„Oh, das... das ist kein Problem“, stotterte Jost.
Wenn man sich in eine Wolfshöhle begab, war die geringste Sorge die, dass es dort möglicherweise ein wenig staubig war oder vielleicht die Überreste der letzten Mahlzeit herumlagen.
Jost machte sich eher Gedanken darüber, ob er selbst wohl die nächste sein würde.
Und dennoch – irgendwas lag in der Stimme dieser Bestie, was ihm sagte, dass er nicht in Gefahr war. Es war nur eine Ahnung und eigentlich hatte er sich bisher noch nie auf irgendwelche Ahnungen verlassen, aber er schnallte seinen Rucksack ab, ging in die Knie und kroch hinter der Wölfin her direkt in das Dunkel ihrer Höhle.